Die Ukraine, der Krieg und der Westen: Wann endet die Solidarität?

Harald Neuber

Selenskyj, Nato-Chef Stoltenberg. Bild: Nato, CC BY-NC-ND 2.0

"So lange wie nötig" soll Kiew im Kampf gegen die Invasion unterstützt werden. Doch der Beistand ist zögerlich und bröckelt. Was, wenn er kippt? Ein Telepolis-Leitartikel.

"As long as it takes", so lange wie nötig, ist eine der am häufigsten strapazierten Phrasen seit Beginn des Krieges in der Ukraine und der damit einhergehenden westlichen Militärhilfe für Kiew.

Die westlichen Verbündeten in diesem in der Tat geopolitischen Konflikt werden, so die vollständige Botschaft, die Ukraine so lange unterstützen, wie es nötig ist, um die russischen Truppen vollständig zurückzudrängen, also Russland in diesem Krieg militärisch zu besiegen.

"As long as it takes", das ist zugleich eine der unehrlichsten Parolen von westlicher Seite, was umso schwerer wiegt, je öfter sie trotz der inzwischen offensichtlichen Realität wiederholt wird. Im April dieses Jahres berichtete Telepolis über ein internes Konzeptpapier der Europäischen Union zu Waffenlieferungen an die Ukraine, das der Parole der unbegrenzten Solidarität widerspricht.

In dem Papier des Europäischen Auswärtigen Dienstes wird nämlich durchaus ein Ende der Waffenhilfe für die Ukraine definiert.

Diese Option hält sich Brüssel im internen Reglement offen, "wenn die politische und sicherheitspolitische Lage es nicht mehr zulässt, die Unterstützungsmaßnahme unter Sicherstellung ausreichender Garantien durchzuführen, oder die Fortsetzung der Unterstützungsmaßnahme nicht mehr den Zielen der Union dient oder nicht länger in ihrem Interesse liegt".

Wie es um diese Interessen bestellt ist und wie sehr die Ukraine in diesen Krieg um alles oder nichts getrieben wurde, erfährt die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj in diesen Tagen und Wochen.

Denn es wäre vor dem völkerrechtswidrigen Angriff der Russen, aber durchaus auch noch unmittelbar danach möglich gewesen, das Sterben und die Zerstörung in dem jetzt stattfindenden Ausmaß zu verhindern.

Notwendige Voraussetzung dafür wäre gewesen, dass die westlichen Staaten, also vor allem die europäischen Nato-Staaten, mit Kiew und Moskau eine Sicherheitsarchitektur ausgehandelt hätten, mit der die Souveränität der Ukraine wiederhergestellt und die Interessen Russlands gewahrt worden wären.

Die Mitverantwortung der Fanatiker

Ein solches Vorgehen wäre realpolitisch plausibel gewesen. Nur wurde es von Fanatikern aller Couleur vereitelt.

Von jenen, die in den Russen das Böse sehen, das vor der Ukraine "nicht Halt machen wird", wie Ex-Nato-Chef Anders Fogh Rasmussen und Wolodymyr Selenskyj unisono betonten.

Von ukrainischen Nationalisten, die in unverkennbar völkischer Manier die russischen Soldaten als "Orks" beschimpfen und jede Spur russischer Kultur vom ukrainischen Boden tilgen wollen.

Von russischen Hardlinern, die die historisch-imperiale Vergangenheit Russlands verklären und eine "russische Welt" anstreben.

Auch wenn der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 unbestreitbar die Hauptsünde ist, so haben doch mehrere Akteure zu dieser Eskalation beigetragen. Die Ukrainerinnen und Ukrainer tragen nun die Last und zahlen den Blutzoll.

Wer das nicht sieht und ohne Realitätssinn und Empathie auf eine Fortsetzung dieses Krieges drängt, wird sich früher oder später seiner Verantwortung stellen müssen.

Der Ukraine droht ein böses Erwachen. Ja, sicher: Hier wird eine Verteidigungslinie der russischen Besatzer durchbrochen, dort werden zwei Dörfer eingenommen. Aber ist das der Durchbruch, der zur Befreiung der Ukraine beitragen kann, der zur Rückeroberung von 100.000 Quadratkilometern führt?

Die Phrase "As long as it takes" muss in ukrainischen Ohren inzwischen einen unerträglich zynischen Beiklang haben. Denn die Wirklichkeit spricht eine andere Sprache. Hier nur einige Beispiele:

Ukraine-Partner: Die Atmosphäre ändert sich

Dass sich die Atmosphäre verändert hat, stellte jüngst auch die britische Wochenzeitung The Economist fest. Drei Monate nach Beginn ihrer Gegenoffensive habe die Ukraine nur "bescheidene Fortschritte an der wichtigen Südfront in der Region Saporischschja" gemacht.

Dort versuchten die ukrainischen Streitkräfte, die Verbindung zwischen Russland und der Krim zu unterbrechen. "Die Frage, wie lange das dauert und ob es gelingen wird, beschäftigt die führenden Politiker des Westens", stellt der Economist fest und schreibt weiter:

Sie versprechen immer noch, der Ukraine zu helfen, "so lange es dauert". Aber Selenskyj, ein ehemaliger Fernsehschauspieler mit einem guten Gespür für sein Publikum, hat bei einigen seiner Partner einen Stimmungswandel bemerkt. "Ich habe diese Intuition, ich lese, höre und sehe ihre Augen, wenn sie sagen: 'Wir werden immer bei dir sein'", sagt er, "aber ich sehe, dass er oder sie nicht hier ist, nicht bei uns.

Einige Partner könnten die jüngsten Schwierigkeiten der Ukraine auf dem Schlachtfeld als Grund sehen, sie zu Verhandlungen mit Russland zu zwingen. Aber "das ist ein schlechter Zeitpunkt, weil Putin das auch merkt".

Wolodymyr Selenskyj im Economist

Auch in Deutschland könnte die Stimmung kippen. Derzeit ist eine Mehrheit von 56 Prozent skeptisch, dass der Krieg in der Ukraine auf diplomatischem Weg beendet werden kann, 41 Prozent glauben daran, ermittelte das ZDF-Politbarometer Mitte September.

Zum Meinungsbild gehört aber auch, dass der Ukraine-Krieg in der Problemwahrnehmung der Deutschen deutlich zurückgefallen ist. Nur noch neun Prozent der Bundesbürger bewegt der Krieg, ein Minus von 16 Prozentpunkten von April bis September, so der ARD-Deutschlandtrend Ende August.

Wichtiger seien den Menschen die wirtschaftliche Lage, Zuwanderung und Flucht, Umweltschutz und Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit und die Energiewende.

Defizite der Ukraine-Debatte in Deutschland

Ein Grund für die Kriegsmüdigkeit der Deutschen mag auch in der Verengung des Diskussionskorridors liegen: Bestimmte Positionen wie die Forderung nach einem Verhandlungsfrieden werden im öffentlichen Diskurs kontinuierlich delegitimiert.

Aber auch die politische Kommunikation der Bundesregierung erschüttert die grundsätzliche Solidarität mit der Ukraine. Wenn Außenministerin Annalena Baerbock an die Ukraine gewandt etwa sagt: "Wir stehen an eurer Seite, solange ihr uns braucht – dann möchte ich es einlösen, egal, was meine deutschen Wähler denken."

Oder wenn sie auf einer Pressekonferenz mit ihrem ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba sagte, im Falle von Sanktionen gegen Russland, sei Deutschland "bereit, dafür einen hohen wirtschaftlichen Preis zu zahlen".

Die Situation ist auf vielen Ebenen verfahren. Und die traurigste Perspektive haben die Menschen in der Ukraine. Was wurde ihnen nicht alles versprochen? Die goldene Zukunft in der Europäischen Union. Die Mitgliedschaft in der Nato. Ein nationalstolzer Aufbruch unter gelb-blauer Flagge.

Bekommen haben sie ein Land mit derzeit gut 5,8 Millionen Flüchtlingen, Leid und Enttäuschung über hohle Hilfsversprechen.

Die Sommeroffensive 2023 war nicht der erhoffte Befreiungsschlag. Der Winter droht. Und entgegen allen Fehlprognosen schlagen täglich Drohnen und Raketen in ukrainischen Städten ein.

Es steht eine spürbare Angst im Raum: Nicht die ukrainischen Kämpfer an der Front könnten die Entscheidung herbeiführen. Entscheidend könnte der Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen in den USA in gut einem Jahr werden.

Vor allem die Republikaner nutzen die Milliardenhilfen für die Ukraine, um Stimmung gegen den politisch ohnehin angeschlagenen Präsidenten Joe Biden zu machen.

Und in Deutschland formiert sich eine Allianz von Sicherheitspolitikern über die Wagenknecht-Linke bis hin zur AfD, die – wenn auch sehr unterschiedlich motiviert – eine Exit-Strategie fordert.

"As long as it takes" – dieser Slogan könnte bald verhallt sein.

Es ist an der Zeit, dass wir uns Gedanken über die Zeit danach machen.