Die Ukraine und das mächtige Wiederaufleben des US-Imperiums
Das Schicksal Kiews war schon immer ein zweitrangiges Thema. Das eigentliche Ziel ist die Wiederbelebung der Nato und US-Vormachtstellung. Was die Europäer jetzt tun sollten.
Inmitten des Wortmülls, der die Meinungsseite der New York Times an den meisten Tagen überschwemmt, leuchtet gelegentlich ein Schimmer aufklärerischer Rationalität durch. Eine kürzlich erschienene Gastkolumne von Grey Anderson und Thomas Meaney ist ein gutes Beispiel dafür.
"Die Nato ist nicht das, was sie zu sein vorgibt", lautet die Überschrift. Im Gegensatz zu den Behauptungen ihrer Architekten und Verteidiger, wie Anderson und Meaney überzeugend argumentieren, bestand der Hauptzweck des Bündnisses seit seiner Gründung nicht in der Abschreckung von Aggressionen aus dem Osten und schon gar nicht in der Förderung der Demokratie, sondern darin, "Westeuropa an ein weitaus umfassenderes Projekt einer von den Vereinigten Staaten geführten Weltordnung zu binden".
Im Gegenzug für die Sicherheitsgarantien im Kalten Krieges boten die europäischen Verbündeten den USA Unterwürfigkeit und Zugeständnisse in Fragen wie der Handels- und Währungspolitik an. "Bei dieser Aufgabe", so schreiben die Times-Autoren, "hat sich die Nato als bemerkenswert erfolgreich erwiesen".
Europa, ein von den Mitgliedern der amerikanischen Elite besonders geschätztes Grundstück, wurde so zum Kernstück des US-amerikanischen Imperiums der Nachkriegszeit.
Mit dem Ende des Kalten Krieges wurden diese Vereinbarungen infrage gestellt. In dem verzweifelten Bestreben, die Lebensfähigkeit der Nato zu erhalten, behaupteten ihre Befürworter, das Bündnis müsse "das Einsatzgebiet entweder erweitern oder sein Geschäft schließen".
Die Nato nahm eine aktionistische Haltung ein, was zu rücksichtslosen Interventionen in Libyen und Afghanistan führte, um Staaten neu zu formen. Die Ergebnisse waren nicht gut.
Dem Druck der USA nachzugeben und außerhalb der Nato zu operieren, erwies sich als kostspielig und diente vor allem dazu, die Glaubwürdigkeit der Nato als militärisches Unternehmen und seine Fähigkeit zu untergraben.
Dann kam Wladimir Putin, um das sinkende Schiff vor dem Untergang zu bewahren. So wie der Einmarsch Russlands in die Ukraine den USA einen Vorwand lieferte, um ihr eigenes militärisches Versagen nach dem 11. September 2001 vergessen zu machen, so ermöglichte er es der Nato, sich erneut als wichtigstes Instrument zur Verteidigung des Westens zu etablieren – und zwar, was entscheidend ist, ohne dass US-Amerikaner oder Europäer dafür ein blutiges Opfer bringen mussten.
In diesem Zusammenhang spielt das Schicksal der Ukraine selbst nur eine untergeordnete Rolle. In Wirklichkeit geht es um die Wiederbelebung der beschädigten amerikanischen Vormachtstellung in der Welt.
Das nationale Sicherheitsestablishment der USA vertritt fast einhellig die These, dass die Vereinigten Staaten die einzige Supermacht der Welt bleiben müssen, selbst wenn dafür die vielen Belege für das Entstehen einer multipolaren Ordnung ignoriert werden müssen. In dieser Hinsicht war Putins Rücksichtslosigkeit ein Geschenk, das genau zum richtigen Zeitpunkt kam.
Es ist buchstäblich ein genialer Mechanismus am Werk. Russland zu besiegen, ohne tatsächlich kämpfen zu müssen, wird zum Mittel, um das Image der US-amerikanischen Unverzichtbarkeit wiederherzustellen, das in den Jahrzehnten nach dem Fall der Berliner Mauer verspielt wurde.
Nato vollständig in die Hände der Europäer legen
Für Washington, wie Anderson und Meaney betonen, geht der Einsatz in der Ukraine weit über die Frage hinaus, wessen Flagge über der Krim weht. Wenn die Ukraine ihren Krieg mit Russland "gewinnt" – wie auch immer der Begriff "gewinnen" definiert wird und wie hoch der Preis sein mag, den die Ukrainer dafür zahlen müssen –, wird die Nato selbst (und die Nato-Lobby in Washington) Anerkennung einfordern.
Seien Sie versichert, dass die großen europäischen Staaten dann ihre Versprechen, die Militärausgaben zu erhöhen, stillschweigend brechen werden, sodass die tatsächliche Verantwortung für die europäische Sicherheit wieder bei den Vereinigten Staaten liegen wird. Da der hundertste Jahrestag des Zweiten Weltkriegs nun in greifbarer Nähe liegt, werden die US-Truppen dauerhaft in Europa stationiert bleiben. Das wird für den gesamten militärisch-industriellen Komplex der USA ein Grund zum Feiern sein, denn er wird florieren.
Indem sie ihre Muskeln spielen lassen, werden die Vereinigten Staaten eine stark erweiterte Nato unweigerlich dazu veranlassen, ihre Aufmerksamkeit auf die Durchsetzung der "regelbasierten internationalen Ordnung" im asiatisch-pazifischen Raum zu richten, wobei China der auserwählte Gegner sein wird.
Die Ukraine wird dabei als eine Art Musterbeispiel dafür dienen, wie die USA und ihre Verbündeten viele tausend Kilometer von Europa entfernt ihr Gewicht in die Waagschale werfen.
Der globale militärische Fußabdruck der USA wird sich vergrößern. Die Bemühungen der USA, die Probleme im eigenen Land anzugehen, werden scheitern. Drängende globale Probleme wie die Klimakrise werden als Nebensächlichkeiten behandelt werden. Aber das Imperium, das keinen Namen hat, wird fortbestehen, und das ist letztlich der Sinn der Unternehmung.
Präsident Biden sagt gerne, dass die Welt an einem "Wendepunkt" angelangt ist, was bedeutet, dass wir die Richtung ändern müssen. Doch das übergreifende Thema seines außenpolitischen Ansatzes ist der Stillstand. Er hält an der geopolitischen Logik fest, die zur Gründung der Nato im Jahr 1949 führte.
Damals, als Europa schwach war und Stalin die Sowjetunion beherrschte, mag diese Logik durchaus ihre Berechtigung gehabt haben. Heute jedoch zeugt die Bedeutung, die der Nato beigemessen wird, in erster Linie vom Bankrott des amerikanischen strategischen Denkens und von der Unfähigkeit, den tatsächlich bestehenden nationalen Interessen der Vereinigten Staaten – sowohl im Ausland als auch im Inland – Vorrang einzuräumen.
Eine vernünftige Revision der nationalen Sicherheitsstrategie der USA würde mit der Ankündigung eines Zeitplans für den Rückzug aus der Nato beginnen und sie in eine Organisation umwandeln, die vollständig von Europa kontrolliert wird. Dass es nahezu unmöglich ist, sich ein solches Vorgehen der USA auch nur vorzustellen, zeugt von dem Mangel an Vorstellungskraft, der in Washington herrscht.
Das Interview erscheint in Kooperation mit dem US-Medium Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.
Andrew Bacevich ist Präsident des Quincy Institute for Responsible Statecraft und schreibt regelmäßig für TomDispatch. Sein neues Buch, das er gemeinsam mit Danny Sjursen herausgegeben hat, heißt "Paths of Dissent: Soldiers Speak Out Against America's Misguided Wars". Sein neues Buch heißt "On Shedding an Obsolete Past: Bidding Farewell to the American Century".