Die Ursachen des Unfriedens ausräumen

Weshalb die Friedensbewegung radikaler sein sollte, die Nato ebenso aufgelöst gehört wie die Bundeswehr – und warum Max Horkheimer recht hatte. Ein Kommentar.

Der Bundesausschuss Friedensratschlag hat Ende Juni ein Positionspapier veröffentlicht, in dem die Stellung einiger Teile der Friedensbewegung ausführlich zusammengefasst und begründet ist, verbunden mit Forderungen an die Bundesregierung.

Das Papier wäre eine solide Grundlage für Handlungsoptionen gegen, Krieg, Aufrüstung und Waffenlieferungen, wenn, ja, wenn es nicht die hoffnungslose Quadratur des neoliberal-kapitalistischen Kreises versuchen würde. Und damit letztlich in einem Paradoxon mündete, also in einer friedenspolitischen Sackgasse.

Ihm fehlen eine historische Dimension und analytischer Mut, deshalb verharren seine VerfasserInnen systemimmanent, wie die folgenden Überlegungen zeigen sollen.

Die Grundlagen unserer westeuropäischen Lebensumstände, damit auch der Reaktionen auf diesen Krieg und der Kritik an ihm, sind fünfhundert Jahre lang gewachsen: Kolonialistische Unterwerfung ganzer Kontinente, exzessive kapitalistische Ausbeutung von Menschen und Natur im Süden und im Osten der Erdkugel, imperialistische Ausraubung weltweit, von einem roten Faden namens Rassismus durchzogen.1

Unsere Altvorderen haben in vielen Gegenden des Planeten Erde Verwüstung hinterlassen, Völker gemordet und Reichtümer, die anderen teils seit Jahrtausenden oder einfach auf natürliche Weise gehörten, gestohlen. Diese obszöne menschenverachtende Barbarei liegt dem europäischen und nordamerikanischen Wohlstand, also dem, der unser aller Leben prägt und trägt, zugrunde.

Die wahrscheinlich grauenhafteste Ausprägung dieses barbarischen Systems ist der Faschismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen. Max Horkheimer hat den Zusammenhang 1939 auf den Punkt gebracht: "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen."2

Der Zusammenhang ist substanziell, alle Versuche, die fortwährende kapitalistische Herrschaft durch ein löchriges Deckmäntelchen namens parlamentarische Demokratie von seinen faschistischen oder faschistoiden Auswüchsen abzugrenzen, sind ideologisch motiviert, dienen also, so gut sie im Einzelfall gemeint sind, der Herstellung eines falschen Bewusstseins über die wirklichen gesellschaftlichen Zustände, die seit fast zweihundert Jahren eine menschenfressende und naturzerstörende kapitalistische Grundlage haben.

Die formale Abschaffung der kolonialistischen Inbesitznahme von materiellen, kulturellen, historischen Reichtümern fremder Völker und der Sieg über den Faschismus 1945 haben sich als Papiertiger gegen kapitalistische Gewalt, Unrecht und Okkupation erwiesen: Neokolonialistische Raubzüge setzen die Herrschaft des Nordens über den Süden fort, sie bilden den materiellen Fundus für die neoliberale Durchseuchung aller Lebensbereiche bis in die letzten Fasern unseres Denkens, Fühlens und Handelns – und unseres luxuriösen Lebens.

Abgesehen davon, dass ehemalige Nazis in vielen gesellschaftlichen Bereichen das Nachkriegsdeutschland geprägt haben und die den Faschisten dienstbaren Konzerne ihre Renaissance erleben durften, wurde unter dem Deckmantel der sozialen Marktwirtschaft die sozialistische Idee im Ahlener Programm der CDU durch ökonomische, politische und militärische Einbettung in den überwiegend US-amerikanisch geprägten hegemonialen Herrschaftsanspruch konterkariert.

Friedensbewegung muss sich historischer Realität stellen

In den letzten mehr als sieben Jahrzehnten wurde zudem die eigentlich menschheitsrettende Idee der sozialen Demokratie zur Verschleierung dieses für die meisten Menschen erbarmungslosen, für einige wenige profitablen Grundmusters missbraucht, phraseologisch entkernt und praktisch selbst Teil der Herrschaftsdynamik.

Friedenspolitische Aktivitäten machen wenig Sinn, wenn sie sich dieser historischen Realität nicht stellen: Europa – und Nordamerika – pflegen und hegen ein System, dessen Lebensnerv der Diebstahl von Rohstoffen, die Ausbeutung von Menschen und die Mordbrennerei sind.

Gewalt gegen Menschen und gegen die Natur gehören zum Wesen und zur Physiognomie dieses Systems, Krieg ist eines seiner definitiven Merkmale. Ein kapitalistisch-neoliberales-kolonialistisches-rassistisches System befrieden, aus ihm also ein friedliches, gerechtes und freiheitliches System machen zu wollen, ist, wie eingangs gesagt, der Versuch der Quadratur des Kreises.3

Aus diesen Überlegungen folgen mindestens drei Bedenken gegenüber dem Positionspapier des Bundesausschuss Friedensratschlag:

Indem es die Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine kritisiert, ohne darauf hinzuweisen, dass jedwede Form von Krieg als Mittel hegemonialer, ausbeuterischer und räuberischer Politik systemrelevante Charakteristika ist, führt es sich selbst ad absurdum.

Die sich hinter ihm abzeichnende Vorstellung seiner VerfasserInnen, es könnte einen friedlichen neoliberalen Kapitalismus mit "menschlichem Antlitz" geben, erweist sich schon im Moment ihrer Entstehung als Selbstbetrug.

Selbst wenn der aktuelle Krieg in der Ukraine irgendwann mit einem Waffenstillstand und einem europäischen Friedenskonzept endet und wir hier in Mitteleuropa in zehn Jahren noch leben sollten, wird es, angesichts von Rohstoffarmut gerade der westlichen Staaten, neue Kriege geben, wenn nicht bis zum letzten Ukrainer, dann bis zum letzten Kongolesen oder Brasilianer. Diese Perspektive ist in den Verteidigungspolitischen Richtlinien seit mehr als zehn Jahren zielführend verankert.

Das Positionspapier fokussiert auf die Kritik am Krieg, vernachlässigt aber drei fraglos bedrohlichere Gefahren, die mit ihm eng zusammenhängen: Erstens einen – von amerikanischen Hardlinern längst gewollten – neuen Weltkrieg, zweitens ein atomares Inferno mit für einen großen Teil der Menschheit und für die Lebensgrundlagen der vielleicht Überlebenden tödlichen Folgen, drittens und vor allem anderen, die Klimakatastrophe:

Die größte Bedrohung für die Menschheit, auch für uns hier in Mitteleuropa und für die Ukraine, sind die klimatischen Veränderungen. Wer heute noch einen Funken Verstand hat, muss ihnen in der politischen Agenda absolute Priorität einräumen. Für eine Kritik an der deutschen und europäischen Ukraine-Politik bedeutet diese überlebenswichtige Tatsache, dass die Lieferung schwerer Waffen bzw. eine Verendlosung des Krieges durch sie selbstmörderisches Potenzial haben.

Bis Russland besiegt wäre, hätte jeder Versuch, die Erderwärmung auf ein Maß zu begrenzen, das der Gattung Mensch eine Überlebenschance gäbe, seinen Sinn verloren. Die einzige zukunftsfähige Option ist die sofortige Beendigung der Kampfhandlungen, zu welchen Bedingungen immer, um die eigentliche epochale Aufgabe, die ohne Russland nicht zu lösen ist, gezielt und beschleunigt angehen zu können – von dem unsäglichen Sterben im Granaten- und Bombenhagel ganz abgesehen.

Grüne werden zum Treppenwitz der Geschichte

Was jetzt geschieht, ist nicht nur ohne Sinn und Verstand, sondern konzeptuell von vorgestern: Angesichts der klimatischen Herausforderungen sind dieser heiß-kalte Krieg und seine Entstehungsgeschichte ein blindwütiger Anachronismus.

Dass ausgerechnet die Grünen den Krieg mit allen Mitteln verlängern und die klimatischen Bedrohungen irreparabel verschärfen, ist ein Treppenwitz der Geschichte bzw. die Entlarvung eines verlogenen Machtkalküls, das sich allerdings seit der Jahrtausendwende rasant zum eigentlichen Antrieb grüner Politik entwickelt hatte.

Die Schleifung demokratischer Grundlagen kommt zu kurz im Positionspapier. Wenn fast alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages einem ukrainischen Präsidenten stehend Ovationen darbringen, dessen engste Vertraute mitunter rechtsradikale Positionen einnehmen, der entgegen seiner Wahlversprechen die russischstämmigen und -sprachigen Teile der ukrainischen Bevölkerung drangsaliert, der mit seiner Forderung nach Atomwaffen auf der letzten Sicherheitskonferenz sich zu einem verantwortungslosen und leichtfertigen Affront gegen Russland verstiegen hat.

Wenn Hochrüstung in Deutschland von einer überwältigenden Mehrheit der Abgeordneten des Bundestages beschlossen und gefeiert wird, mit dem Ziel militärischer Akzentuierung deutscher Politik; wenn Meinungsfreiheit von den meisten Print- und Online-Medien als propagandistische Einseitigkeit und Kriegsgeschrei missverstanden wird; wenn seit Jahren am 8. Mai russische Gäste ausgeladen oder gar nicht zu Befreiungsfeierlichkeiten eingeladen und am 9. Mai die wichtigsten Befreier vom deutschen Faschismus wie die Pest gemieden werden – dann hat die Demokratie faktisch abgewirtschaftet: Wohlgemerkt nicht die Verfassung als Lebensgrundlage, mit der eine gerechte, friedliche und soziale Gesellschaft zu schaffen wäre, sondern ihre Umsetzung in ein abgewirtschaftetes parlamentarisches Szenario.

Friedenspolitik muss antikapitalistisch, antirassistisch, antikolonialistisch sein; sie muss auf die Abschaffung eines politisch-ökonomisch-militärischen Systems zielen, das uns alle bedroht; und sie muss über die Verbrechen sprechen, die im Namen von Demokratie und Menschenrechten begangen werden, von deutschen, von europäischen, von amerikanischen PolitikerInnen.4

Friedensbewegung muss ohne Wenn und Aber benennen, wer und was eine friedliche Welt verhindert. An einer Stelle im Positionspapier taucht das Attribut "regelbasiert" auf, ohne dass sein eigentlicher Sinn hinterfragt oder benannt wird: Es sind von einigen mächtigen Profiteuren diktierte Regeln, vor allem solche, die ökonomischen Interessen des militärisch-industriellen Komplexes der USA und der EU – und nebenbei Australiens und Japans - dienen, den zu schützen und zu expandieren die eigentliche und einzige Aufgabe der Nato ist.

Vom Friedensgebot der UN-Charta, das in seiner Substanz das "Grundgesetz" des Völkerrechts ist, haben die USA und die Nato und in ihrem Fahrwasser auch Deutschland mit ihren gewaltbasierten Regeln sich längst verabschiedet, das, bei mancher Kritik an Strukturen und Funktion der UN, ein entscheidender Schlüssel für das Ringen um eine friedliche Welt bleibt. Frieden und Regeln im Sinne westlicher Dominanz sind unvereinbar, ein friedensbasiertes Regelwerk in diesem Sinne ist eine contradictio in adjecto.

Folgerungen für die Friedensbewegung

Die Friedensbewegung braucht eine Strategie, deren Ziel eine Gesellschaft ohne Ausbeutung, ohne Naturzerstörung, ohne Rassismus, ohne eine globale Spaltung in eine arme Mehrheit und eine reiche Minderheit ist, also ohne kapitalistisch-neoliberale militarisierte Dominanz einzelner Staaten oder Oligarchen – jedenfalls, wenn sie ihren Einsatz für ein friedliches Zusammenleben aller Menschen ernst meint.

Für ein strategisches Konzept ergeben sich aus diesen Überlegungen einige – ergänzungsbedürftige -Ziele und Aufgaben für eine friedenspolitische Agenda, die jeweils auf ihre taktische Relevanz befragt werden müssen. Neben solchen, die sich aktuell zwangsläufig auf den Ukraine-Krieg beziehen, stehen solche, die unverzichtbar sind, wenn es um Frieden hier und überall geht:

• Massiver Druck auf die deutsche Regierung, ihre indirekte Beteiligung an diesem Krieg sofort zu beenden und alle politischen Möglichkeiten für diplomatische Offensiven zu nutzen;

• sofortige Beendigung aller Sanktionen, deren Sinnlosigkeit sich längst erwiesen hat, unter deren Folgen nicht die russische Regierung, sondern Millionen an Hunger leidender Menschen in Afrika und die ohnehin prekär lebenden Menschen in Deutschland, in Europa massiv leiden, und die alle Menschen und Einrichtungen in einem Staat, auch solche, die wichtige friedenfördernde und -schaffende Bedeutung haben, massiv beeinträchtigen, wenn nicht vernichten;

• Wiederaufnahme aller Projekte im Kultur-, Bildungs-, Sportbereich mit Russland, die, wie alle Erfahrungen nachweisen, der Völkerverständigung und damit dem Frieden in Europa und in der Welt dienen.

• Schließung aller US-amerikanischen Standorte – laut Wikipedia knapp 40 – in Deutschland;

• sofortiger Beitritt Deutschlands zum Atomwaffenverbotsvertrag; definitiver Verzicht auf atomare Teilhabe, verbunden mit dem Ziel, ihn im Grundgesetzt zu verankern;

• Beendigung von Waffenproduktion in und Waffenexport aus Deutschland durch politische Entscheidungen;

• Austritt Deutschlands aus der Nato, verbunden mit dem Ziel, die Nato als Kriegsgenerator aufzulösen;

• Austritt Deutschlands aus dem G7-Verbund, dessen Ziel und Aufgabe darin bestehen, die globale Dominanz vermögender Staaten und Gruppen zu sichern und auszudehnen;

• Verpflichtung Deutschlands, sich ausnahmslos an das in der UNO-Charta verankerte Völkerrecht zu binden.

• Sofortiger Stopp des 100-Milliarden-Euro-Sondervermögens unter Rücknahme des Zusatzartikels 87a im Grundgesetz und Auflösung der Bundeswehr – ein friedliches Zusammenleben braucht keine Waffen und keine SoldatInnen, sondern ein die Gesellschaft durchziehendes Muster ziviler Konfliktlösungen, das in der Grundschule seinen Anfang nimmt;

• Erhöhung der Erbschaftssteuer auf 100 Prozent, Wiedereinführung der Vermögenssteuer und massive Erhöhung der Einkommenssteuer ab einer noch zu definierenden Einkommensgrenze, um ein gerechtes und damit friedliches Zusammenleben aller Menschen in Deutschland zu ermöglichen.

All diese Ziele – und andere, die sicherlich ergänzt werden müssten - sind mehr oder weniger realistisch, aber sie sind unerlässlich für die Erreichung eines dauerhaften Friedens in Deutschland und in der Welt. Die Konsequenz, Ausdauer und Hartnäckigkeit eines Mahatma Gandhi sollte einer Friedensbewegung als hoffnungsvolle Orientierung dienen, die von ihrem Anliegen überzeugt ist.5

Es sollte die Aktiven der Friedensbewegung nachdenklich machen, dass nicht VertreterInnen aus ihren Reihen, sondern aus den Kirchen notwendigen Klartext sprechen.6