Die Verachtung Europas
Seite 2: Weg von den Klischees!
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Das ist durchaus kulturkritisch-böse, hat aber auch analytisches Potenzial, das in der Debatte viel zu kurz kommt. Dominant geworden ist das Blockdenken, das alles überschattet. Die Rede vom russischen "Imperialismus" (so gerade wieder bei Bundeskanzler Scholz) unterschlägt den imperialen Charakter der "westlichen Wertegemeinschaft", samt der dazugehörigen Gewaltförmigkeit hinter der zivilisatorischen Kulisse. Man sollte doch die Kirche im Dorf lassen.
Die Frage ist auch, welcher Art die beschworene "Einheit" ist, die angeblich unter Putins Schlägen im Westen zustande gekommen sei? Gibt es ein geistig-gesellschaftliches Pendant zur NATO, also eine Identität abseits der amtlichen Klischees und über militärische Stärke hinaus? Ist es wirklich die "Demokratie", die verteidigt werden soll, oder sind da Zweifel angebracht, gerade wenn man genau hinhört, welche Töne/Zwischentöne von amerikanischer Seite kommen.
Das viel strapazierte Narrativ vom Kampf zweier rivalisierender Wertesysteme nervt - so nach dem Schnittmuster "Despoten gegen Demokraten". Wohlgemerkt: Nichts rechtfertigt Putins Krieg in der Ukraine. Aber schon Walter Benjamin (1892-1940), deutsch-jüdischer Intellektueller, Literaturkritiker und Philosoph, der 1926/27 das Moskauer Tagebuch verfasste, fand sich nicht zurecht mit dem Übereifer urteilsbereiter Zeitgenossen, mit dem sie das Riesenreich Russland zu "kennen" meinten.
Benjamin fand denn auch, "wie unmöglich der Vergleich von russischen Lebensverhältnissen mit denen Westeuropas im Einzelnen sei", und wie schwer sich ein Ausländer deshalb mit der Beurteilung der (seiner Zeit) in der Sowjetunion existierenden Verhältnisse tue.
Der zerstörerische Gang der modernen Geschichte gab ihm recht: Was Benjamin im Blick auf Europa Ende der Dreißigerjahre sieht, gleicht einem Trümmerhaufen:
Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise, Aufstieg des Faschismus. Leid, Elend, Gewalt. Die Schattenseiten der modernen Gesellschaft treten offen zutage.
SWR2 Wissen: Der Philosoph Walter Benjamin – Die Schatten des Fortschritts
Fazit: Der Westen hat wenig Grund, sich an die Brust zu klopfen.
Andreij Tarkowski: Europa als "Schädelstätte der Posthistoire"
Europa, das ist auch im Gedankenkosmos Andrej Tarkowskis (1932-1986) nur ein anderer Name für eine längst gottverlassene Zivilisation. Der russische Filmpoet liefert als Beleg verstörendes Bild- und Denkmaterial. Sein Fazit: Der europäische Mensch hat sich die Jahrhunderte über in destruktiven Praktiken, in Methoden barbarischer Intervention verfangen.
In Tarkowskis Film Stalker (1979) machen sich drei Besucher auf in eine rätselhafte "Zone" - eine Zeitreise zur "Schädelstätte der Posthistoire" (so Hartmut Böhme) in all ihrer Abgründigkeit.
Der Film- und Medientheoretiker Klaus Kreimeier bezieht sich auf "Stalker" mit seinen vielen Zeitebenen und politischen Bezugnahmen und notiert.
Telegrafenmasten, Schienen, Gebäuderuinen, Panzer, auch das noch funktionierende Telefon sind Spuren dieser Intervention, in deren Verlauf der Mensch offenbar den kürzeren gezogen hat [...] Das zivilisatorische Material, das er zurückließ, wird wieder von der Natur verschlungen - "hardware" wie Beton, Eisenplatten, Stahlträger, Waffen aller Art …
Klaus Kreimeier, Rezension von "Stalker"
Verflucht sind die Überbleibsel einer ruinösen Zivilisation, Narren und Weise (und in deren Schatten wir selbst) starren auf die Vexierbilder der Auflösung. Es ist der Schrecken angesichts der total gewordenen geistigen Verödung, angesichts einer unausweichlich todbringenden Zivilisation, in der kein Zuhause mehr denkbar scheint. Gibt es ein Gegengift?
Bei Tarkowski ist die moderne Kultur nurmehr eine "Zivilisation der Prothesen", eine Ordnung, die den Menschen - er nennt ihn wohl auch den "Durchschnittsmenschen" - systematisch von der Reflexion abschneidet. Der Mensch in dieser Kultur, die in ihrem innersten Versteck eine Unkultur ist, erleidet den Verlust des "Schönen und Ewigen". Damit bezweifelt Tarkowski das Projekt der Moderne überhaupt.
Fazit hier: Die industriell-kommerzielle Richtung des modernen Lebens, die Erblast einer verwüsteten Geschichte weisen in keine Zukunft.
Russland – Teil von Europa?
Peter der Große (1672-1725) ebnete Russland den Weg zur Großmacht, konnte jedoch Russlands Staat und Kirche, dieses seltsame "Gemisch von byzantinischem, lateinischem und mongolischem Ursprung" (Pëtr Kropotkin), nicht endgültig europäisieren.
"Gehört nun Russland in diesem Sinne zu Europa?", fragt in seiner radikalen Art und Weise der Naturwissenschaftler und Geschichtsdenker Nikolaj Jakowlewitsch Danilewski, der 1871 in Sankt Petersburg sein Buch "Russland und Europa. Eine Untersuchung der kulturellen und politischen Beziehungen der slawischen zur germanisch-romanischen Welt" ("Bibel der Panslawisten") veröffentlichte. Er antwortet so:
Leider oder erfreulicherweise, zum Glück oder zum Unglück – nein, es gehört nicht dazu. Es nährte sich nicht durch keine einzige der Wurzeln, durch welche Europa sowohl wohltätige wie schädliche Säfte unmittelbar einsog (…) Rußland bildete keinen Teil des erneuerten Römischen Reiches Karls des Großen (und es) gehörte nicht zur theokratischen Föderation, welche die Monarchie Karls ablöste.
Nikolaj J. Danilewski: Rußland und Europa. Ausg. Osnabrück 1965, S. 21
Damit betont Danilewski schärfer und entschiedener als Uwarow oder auch Dostojewski die Gegensätze seiner Nation zur europäischen, "germanisch-romanischen Zivilisation". Auch aus Sicht der Europäer – und trotz ihrer erdrückenden Dominanz - stelle das Slawentum mit Russland an der Spitze einen "vollkommen eigenständigen, organisch gewachsenen Kulturkreis zwischen Europa und Asien dar".