Die Verachtung Europas
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Russlands Abneigung gegen den Westen ist Teil seiner kulturellen Identität. Und sowieso gilt: Über der Konfrontation lastet der Schatten der Geschichte
Aksakow (…) beklagte sich, dass alle Nordamerikaner durch die Politik vergiftet sind, sie haben eine zu große Dosis politischen Sinnes geschluckt. Es gibt auch Russen solcher Art im Überfluss.
Konstantin Leontjew: Der Durchschnittseuropäer. Ideal und Werkzeug universaler Zerstörung, Moskau 1912, Zitat nach d. Ausgabe 2001
Russland ist das Haupt der entstehenden Welt.
Nikolaj Danilewski: Russland und Europa, Stuttgart 1920 (zuerst St. Petersburg 1871), Neudruck 1965
Ein Sturm treibt den Engel (den Engel der Geschichte) unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.
Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. These IX. (Der Engel der Geschichte). Gesammelte Schriften Bd. 1, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1974, S. 698
"Vom Europäismus heilen" wollte der russische Intellektuelle Konstantin Leontjew Ende des 19. Jahrhunderts am liebsten die ganze Welt. In den Europäern sah der Aristokratenspross, der in den 1870er-Jahren in Konstantinopel als Publizist arbeitete, nurmehr "Adepten der Gleichheit".
Spitzzüngig machte der Demokratie- und Fortschrittsskeptiker sich über die Tendenzen einer "allgemein europäischen Egalität" h er; eine Einförmigkeit, die er für eine gesellschaftliche ebenso wie menschliche und moralische Verfallserscheinung hielt und die er mit den Worten beschrieb:
(…) dass sich diese Einförmigkeit von Gesichtern, Moden, Städten, Kulturidealen und Formen überhaupt immer mehr verbreitet, was alle und alles zu einem einzigen einfachen gewöhnlichen, mittleren, sogenannten "bürgerlichen" Typus des westlichen Europäers zusammenschmilzt.
Konstantin Leontjew, Der Durchschnittseuropäer, 2001, 79f.
Ein universeller Rückschritt: Der Durchschnittseuropäer
Der bürgerliche Typus ist also der "mittlere" – kein echter, originärer Charakter, und ohne Zukunft. "Nein", sagt Leontjew, "alle sind mit dem kleinlichen mittleren Kulturtypus zufrieden, zu dem sie selber ihrer Stellung in der Gesellschaft und ihrer Lebensweise nach gehören und zu dem sie um des allgemeinen Glücks und ihrer anspruchslosen Haltung (willen) die obere und untere Welt führen möchten" (a.a.O. 77).
Die hier sich dokumentierende Verachtung Europas (sic: eines dekadenten Europas mit seinen Moralprofessoren und Konformisten) gehört zum inneren Bestand russischer Geistesverfasstheit. Das soll hier exemplifiziert werden. Der slawische Menschentyp wird da dem Durchschnittseuropäer entgegengestellt.
Es ist eine tief verwurzelte Abneigung gegen die westliche Lebens- und Denkungsart, die bei Autoren wie Konstantin Leontjew (1831-1891), Nikolaj J. Danilewski (1822-1885) oder auch dem späteren Nikolaj Berdjajew (1874-1948) zum Ausdruck kommt und die sich nicht allein auf die heute üblichen geopolitischen Denkkategorien reduzieren lässt.
Diese Abneigung ist Teil einer kulturellen Identität, die sich in der Absetzungsbewegung gegenüber dem Westen konstituiert und – danach sieht es in unseren Tagen aus –, sich gerade neu erfindet. Putin selber greift in Reden und schriftlichen Äußerungen gern auf das Muster zurück, in dem etwas von der altrussischen Reichsidentität steckt.
Der Westen als Ur-Feind
Die russische Kulturwissenschaftlerin Dina Khapaeva sagt:
Ohne die Ablehnung des Westens existiert die russische Identität nicht.
Prof. Dina Khapaeva, School of Modern Languages, Georgia Institute of Technology
In der Zeitschrift The Atlantic bezieht sich Khapaeva auf einen utopischen Roman aus dem Jahr 2006, den sie als Vorbild für Putins imperialistische Außenpolitik ansieht: "Das dritte Imperium" von Michail Jurjew. In diesem Roman legt ein russischer Herrscher namens "Wladimir II." den Grundstein für ein Reich, zu dem auch Europa gehört. Diese Expansion beginnt mit einer russischen Invasion in der Ukraine.
Jurjew, der 2019 starb, warb für die Ideologie der neo-eurasischen Bewegung. Russland sollte den Rest der Welt erobern; der Westen ist Russlands Ur-Feind und muss vernichtet werden.
Das klingt nach einer Steilvorlage für Putins erinnerungspolitische Propagandamaschinerie. 2014 nannte die russische Tageszeitung Wedomosti den Roman "das Lieblingsbuch des Kremls". Der Verfasser Jurjew war Mitglied im Vorstand der Eurasischen Partei und machte Presseberichten zufolge Geschäfte mit Putins engsten Vertrauten.
Halten wir vorläufig fest: Die Vorstellung vom degenerierten "Europäismus" zählt zum Bodensatz russischer Geistesgeschichte. Man traut den Europäern, wie Leontjew es ausdrückt, die Übersiedlung und Bebauung des Erdballs zu, aber nicht die Kraft zur Errichtung einer tragfähigen Zivilisation. Die überbordende Siedlungsdichte, die Hektik einer immer dringlicheren Kommunikation, die unduldsame Fortschrittsideologie und – letztlich - geistig verarmte Charaktere, dies will Leontjew zumal auch in Frankreich beobachtet haben ("nichtige Menschen, farblose Gesichter, oberflächlich (…), arm an persönlichen Ressourcen").
Wie gesagt, Stand der 1870/80er-Jahre. Nun ist die russische Sicht schon eine spezielle; das soll später noch durch einen Blick auf das Werk des russischen Filmpoeten Andrej Tarkowski auch für die jüngere Vergangenheit exemplifiziert werden.
"Wie kann man", fragt Leontjew (…)
(…) die Raserei steriler Kommunikation anhalten, die die Europäer erfasst hat, wie soll man diesen fieberhaften Kreislauf von Straßen, Telegraphen, Dampfern, agronomischen Errungenschaften, Geschäftsreisen usw. beruhigen? Ein einziges Mittel ist denkbar: dass der Fortschritt möglichst rasch vorangeht, dass diese Entzündung sich zur Eiterbeule entwickelt, in ein Geschwür, in Antoniusfeuer und dann zum Tod, bevor noch alle Völker des Erdballs von dieser Krankheit angesteckt werden.
Konstantin Leontjew, a.a.O., 46f.