Rekord-Neutrino entdeckt: Tiefsee-Teleskop eröffnet neues Fenster ins Universum

Optisches Modul des Neutrinoteleskops KM3NeT, das in das Backbone-Kabel integriert ist und eine Detektionseinheit bildet.
(Bild: Courtesy KM3NeT / CC BY-NC 4.0 )
Wissenschaftler haben mit dem Neutrinoteleskop KM3NeT das energiereichste Neutrino aller Zeiten nachgewiesen. Was bedeutet diese Entdeckung für die Astronomie?
Am 13. Februar 2023 gelang Wissenschaftlern mit dem Neutrinoteleskop KM3NeT eine bahnbrechende Entdeckung: Sie wiesen ein Neutrino mit einer Rekordenergie von etwa 220 Millionen Milliarden Elektronenvolt nach. Dieses Ereignis, genannt KM3-230213A, ist der erste Beweis dafür, dass Neutrinos mit solch enormen Energien im Universum erzeugt werden.
Heute, mehr als zwei Jahre später, berichtet die internationale KM3NeT-Kollaboration in der Fachzeitschrift Nature über die Details dieser Entdeckung.
Neutrinos: Die geheimnisvollen Geisterteilchen
Doch was genau sind Neutrinos? Diese subatomaren Teilchen gehören zu den rätselhaftesten Bewohnern des Universums. Sie haben fast keine Masse, keine elektrische Ladung und interagieren nur äußerst selten mit Materie. Neutrinos durchqueren mühelos Planeten und Sterne.
Laut Rosa Coniglione vom Nationalen Institut für Kernphysik in Italien, die damals stellvertretende Sprecherin des KM3Net war, sind sie "besondere kosmische Boten, die uns einzigartige Informationen über die energiereichsten Phänomene liefern".
KM3NeT: Ein gigantisches Teleskop in der Tiefsee
Um diese schwer fassbaren Teilchen aufzuspüren, bauen Forscher riesige Detektoren wie das Neutrinoteleskop KM3NeT. Verteilt auf zwei Standorte im Mittelmeer wird es in seiner finalen Ausbaustufe über ein Kubikkilometer Meerwasser mit 200.000 Photomultipliern überwachen.
Trifft ein Neutrino auf ein Wassermolekül, entstehen ultraschnelle Teilchen, die ein schwaches blaues Leuchten erzeugen. Dieses sogenannte Cherenkov-Licht wird von empfindlichen Sensoren registriert und verrät Energie und Richtung des Neutrinos.
Rekord-Neutrino stammt aus den Tiefen des Alls
Die extreme Energie des nun entdeckten Neutrinos deutet darauf hin, dass es von einem gewaltigen kosmischen Beschleuniger wie einem Schwarzen Loch oder einer Supernova stammen könnte. Möglicherweise handelt es sich auch um ein "kosmogenes" Neutrino, das bei der Kollision energiereicher kosmischer Strahlung mit der Hintergrundstrahlung des Universums entstand.
"Dieser erste Nachweis eines Neutrinos mit Hunderten von PeV schlägt ein neues Kapitel in der Neutrinoastronomie auf und eröffnet ein neues Beobachtungsfenster zum Universum", kommentiert Paschal Coyle vom Centre de Physique des Particules de Marseille. Tatsächlich erhoffen sich die Forscher durch die Beobachtung hochenergetischer Neutrinos neue Erkenntnisse über die extremen Prozesse im Kosmos.
Ausbau von KM3NeT soll weitere Entdeckungen ermöglichen
Derzeit ist erst ein Bruchteil des KM3NeT-Detektors einsatzbereit. Mit der geplanten Erweiterung werden die Wissenschaftler noch tiefer in bisher unerforschte Energiebereiche vordringen. Zukünftig möchten sie weitere Neutrinos dieser Energieklasse aufspüren, um mehr über ihren Ursprung zu erfahren. Die Neutrinoastronomie soll so zu einem Eckpfeiler der Multi-Messenger-Astronomie werden, die kosmische Ereignisse mit verschiedenen Botenteilchen untersucht.
"Die Größe von KM3NeT und seine extreme Lage im Abgrund des Mittelmeers zeigen, welch außerordentliche Anstrengungen erforderlich sind, um die Neutrinoastronomie voranzutreiben", betont Miles Lindsey Clark vom CNRS-Astroteilchen- und Kosmologielabor. Mehr als 360 Wissenschaftler und Ingenieure aus 21 Ländern arbeiten an diesem Mammutprojekt.
China steigt in die Neutrinoforschung ein
Auch China hat die Bedeutung der Neutrinos erkannt. Im Süden des Landes wurde im vergangenen Jahr der Bau eines gewaltigen Neutrinodetektors abgeschlossen. Mit einer Energieauflösung von drei Prozent soll er noch präzisere Messungen ermöglichen. Beijing will so eine eigenständige Neutrinoforschung etablieren – auch, um unabhängiger von westlichen Forschungseinrichtungen zu werden.
Die weltweite Jagd nach den Geisterteilchen hat also gerade erst begonnen. Mit jedem neuen Detektor dringen die Forscher tiefer in die Geheimnisse dieser faszinierenden Himmelsboten ein. Die nächsten Jahre versprechen spannende Erkenntnisse aus einer verborgenen Welt jenseits des sichtbaren Universums.