Die Verachtung Europas
Seite 3: Der Raum - Kategorie der Identität
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Dabei geht es auch um Geografie – um den Raum. Russlands riesige Landmasse verbindet Europa mit Asien. Der eurasische Gedanke hatte schon in den Emigrantenkreisen der Zwischenkriegszeit größere Wirksamkeit. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entfaltete sich sein ideologisches Potential erneut. Sonia Mikich, ehemalige WDR-Chefredakteurin und Russland-Korrespondentin, sieht hier einen der Treiber für Putins Feldzug:
Aber Gebiete, wo man sich slawisch definiert, wo auch die orthodoxe Religion eine Rolle spielt, sind für Putin geopolitisch und ideologisch Russlands Interessenssphäre. Insbesondere Belarus, die Ukraine und Russland möchte er zu einer neuen, alten Einheit schmieden. Das ist in seiner Sicht die historische Mission.
Sonia Mikich, Journalistin und Moderatorin, ehem. Russlandkorrespondentin
Ein im Westen oft unterschätzter Kernpunkt ist diese Konstitution des russischen Nationalbewusstseins. Die Russische Föderation unter Präsident Wladimir Putin wächst nach der wirtschaftlichen und politischen Not der 1990er-Jahre zur neuen Kontinentalmacht heran. Das Stoppschild in Richtung Westen versteht und definiert – ebenso wie Danilewski das tat – den geografischen Raum als essenzielle Kategorie der eigenen Identität.
Der neue Rasputin und das "Atlantische Imperium"
Der russische Philosoph Alexander Dugin (geb. 1962), eine schillernde und höchst umstrittene Gestalt, gilt als Vordenker der Neu-Eurasischen Bewegung. Er konzentriert sich auf ein dezidiertes Feindbild, den liberalistischen Moloch USA:
Anders als die eurasischen Autoren der Zwischenkriegszeit erkennt er (Dugin) nicht im "germano-romanischen" Europa den Feind, sondern in den USA als einzig verbliebener Weltmacht und in der ihr zugrundeliegenden Ideologie des Liberalismus.
Das zu schaffende "heilige eurasische Reich" soll die Werte und Traditionen der Völker Europas und Nordasiens vor dem Zugriff der amerikanischen Dominanz, deren Universalismus und Liberalismus verteidigen.
Aus dieser Perspektive ist Europa Spielball einer US-amerikanisch dominierten Welt, die nichts unversucht lässt, Russland zu demütigen. Das jedenfalls ist der Gang einer Erzählung, den offenbar viele Russen teilen.
Dugin entwickelt in seiner "Vierte(n) Politische Theorie", die er kurz 4PT abkürzt, das Konzept einer multipolaren Weltordnung als Alternative zur Dominanz des Westens. Den Absolutheitsanspruch der vom Westen hochgehaltenen Werte wie Demokratie, Menschenrechte, Freiheit und Gleichheit nennt Dugin chauvinistisch. Der vorgeschobene Wertekanon diene lediglich dazu, die Vorherrschaft auszuweiten.
Seine scharfen Angriffe auf den westlichen Liberalismus, Gender-Mainstreaming und den Führungsanspruch der USA brachten ihm schon die Bezeichnung "Neuer Rasputin" und "Slavoj Žižek von rechts" ein. In Europa avanciert Dugin mit seinen Merkwürdigkeiten derweil zur Kultfigur von Identitären und Rechtsextremen:
Alexander Dugin liebt die Provokation. In einem Fernseh-Interview vertrat er die Ansicht, Russland solle Europa erobern, um es vor Schwulenehe, Femen und Pussycat Riot zu schützen. Später sagte Dugin, dies sei "nur ein Scherz" gewesen. Während der Ukraine-Krise 2014 forderte er, die prowestlichen Ukrainer müssten "getötet, getötet und getötet" werden und verlor deswegen seine Professur an der Lomonossow-Universität in Moskau.
Das Blättchen
Die taz nannte ihn den "ideologische(n) Großmeister der russischen Neuen Rechten".
"Worum geht es Putin?"
Die Herrschaft des Zaren war Autokratie, sie fand ihre Legitimation durch die orthodoxe Kirche. Als Gründungsurkunde des russischen Nationalismus gilt die sogenannte Uwarowsche Triade. Sie geht auf Sergei Semjonowitsch Uwarow zurück, der als "Minister für Volksaufklärung" unter Nikolaus I. (Kaiser von 1825 bis 1855) die Abwendung Russlands von Westeuropa betrieb, das hundert Jahre zuvor (unter Peter dem Großen) noch als Vorbild diente, als dieser sein Imperium in Anlehnung an den Westen zu modernisieren versuchte.
Uwarows Dreiheit der Elemente besteht aus "Orthodoxie", "Autokratie" und "volksverbundenem Patriotismus"; "Narodnost" im russischen Original.
Worum geht es Putin? Das fragt sich seit der Grenzüberschreitung seiner Armee im Februar eine aufgeschreckte Weltöffentlichkeit. Die Medien üben (und verhaspeln) sich in Schuldzuweisungen und mehr oder weniger plausiblen "Erklärungen".
Dina Khapaeva – sie wurde schon weiter oben zitiert – rät davon ab, sich über die Frage "Was will Putin" allzu sehr den Kopf zu zerbrechen. Ihr Fazit lakonisch: Er ist selbstverständlich in erster Linie ein Produkt der KGB-Denkfabrik, freilich mit bedenklichen vaterländischen Anleihen:
Der (…) Sinn von Putins Erinnerungspolitik ist es, die Russen glauben zu machen, dass das russische Mittelalter eine großartige Gesellschaft war, eine wunderbare Alternative zur Demokratie, viel besser als die Demokratie. Das Ziel dieser Erinnerungspolitik ist die Wiederherstellung eines Imperiums, die Militarisierung der öffentlichen Meinung und die Propagierung von Staatsterror als großer nationaler Tradition.
Dina Khapaeva
Das ist zugegeben eine griffige Formel.
Konstantin Leontjew, der "russische Nietzsche" unter den vaterländischen Europakritikern, mit seiner bohrenden Analyse der okzidentalen Welt in ihrer flachen bürgerlichen Aufklärung, wenn er noch lebte, würde er vermutlich ätzen: Ja, worum geht es Putin? Natürlich darum, einen durch Demokratisierung geschwächten Nachbarn zu erobern. Basta.
Wir Aufgeklärten! Wir hüten uns vor derlei Kurzschlüssen. Und geben acht, wenn das abendliche Nachrichtenhochamt die Welt wieder mal in Gebenedeite und Verruchte einteilt.