Die drei Gesichter des Mario Bava (Teil 2)

Seite 2: Viele Anfänge und drei Todesfälle

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„Gleich zu Beginn des Films“, heißt es in der Indizierungsentscheidung, „wird eine Frau […] erhängt.“ Der Film, den ich gesehen habe, beginnt ganz anders. Zuerst sieht man nur Wasser. Das ist die Signatur des Regisseurs Mario Bava, dessen Filme meistens mit einem Bild vom Wasser beginnen. Über diesem Wasser kann man den Titel des Films lesen. In aller Regel ist das A Bay of Blood – unabhängig davon, was auf der Verpackung steht. Das 3er-Gremium hat sich über den Titel keine weiteren Gedanken gemacht. In der „Entscheidung Nr. 1612“ findet sich höchstens dies: „Ob es sich bei dem Videofilm um die Kopie eines Kinospielfilms handelt, ist der Bundesprüfstelle nicht bekannt.“ Das ist bedauerlich. Wenn sich das Gremium besser informiert hätte, wäre es sehr schnell auf den ursprünglichen Titel des Kinofilms gestoßen: Ecologia del delitto (Ökologie des Mordes). Das Wort „Ökologie“ hat durchaus seinen Sinn, denn der Film ist in jener Phase von Bavas Karriere entstanden, in der sich dieser zunehmend mit der Ausbeutung der Natur durch den Menschen und dessen daraus resultierender Selbstzerstörung beschäftigt. Alle Figuren interessiert, in verschiedenen Abstufungen, vor allem eins: sie wollen die Natur für sich nutzen. Der erste Mord ist nicht, wie die BPjM meint, „selbstzweckhaft“; er wird von einem Mann begangen, der seine Frau umbringt, weil er aus Profitgier deren Grundstück bebauen will (die Gräfin ist dagegen). Damit löst er eine Kettenreaktion aus, an deren Ende alle Erwachsenen tot sind; nur die Kinder überleben.

Auf den Titel des Films folgt die Nennung von drei Drehbuchautoren (einer davon ist Bava). Mir ist kein anderer Film erinnerlich, der gleich am Anfang, vor den Schauspielern, die Autoren auflistet. Das ist umso bemerkenswerter, weil das 3er-Gremium feststellt, dass Im Blutrausch des Satans eigentlich gar kein Drehbuch hat: „Eine flache Rahmenhandlung ist nur der Aufhänger zur ausführlichen Darstellung abstoßender Grausamkeiten“ (wobei: wenn die Grausamkeiten abstoßend sind, können sie dann gleichzeitig „abstumpfend und enthemmend“ sein, wie es weiter unten heißt?). Als Kameramann geben die Anfangstitel Mario Bava an. Für Cineasten ist das eine aufregende Nachricht. Erstmals nach vielen Jahren stand eines der photographischen Genies des italienischen Films wieder selbst hinter der Kamera. Im 3er-Gremium saß kein Cineast. So ist auch keinem aufgefallen, dass die Musik (eine seiner besten) von Stelvio Cipriani stammt, der zur ersten Reihe der italienischen Filmkomponisten gehört.

Am Ende des Vorspanns wird Bava schon wieder genannt, diesmal als Regisseur. Auch der interessierte Laie könnte sich da fragen, ob er es womöglich mit einem auteur zu tun hat und nicht mit einem, der zynisch herunterkurbelt, was man ihm aufträgt. Indiziert wurde 1983. Damals hätte solch ein Laie in Richard Rouds Standardwerk Cinema (Untertitel: The Major Film-Makers) nachschlagen können und dort tatsächlich einen Artikel über Bava gefunden. Oder er hätte ein aufschlussreiches Interview lesen können, das Bava der angesehenen Zeitschrift Positif anlässlich des Kinostarts von Ecologia del delitto gegeben hatte. Die BPjM erwähnt an keiner Stelle, wer den Film gemacht hat. Ist das nun ein Ausdruck von Unvoreingenommenheit (hier wird der Film beurteilt und sonst gar nichts) oder das genaue Gegenteil? Stellen wir uns, ehe wir uns ein Urteil bilden, einen hypothetischen Fall vor: Jemand beantragt die Indizierung von Faust oder von Doktor Faustus. Würde es die BPjM dann für erwähnenswert halten, dass diese Werke von Goethe bzw. Thomas Mann geschrieben wurden, oder nicht?

Bava drehte, weil er dort mehr Kontrolle hatte, lieber im Studio als an Originalschauplätzen. In keinem anderen seiner Filme gibt es solche Landschaftsaufnahmen wie in Ecologia del delitto. Man sieht den Bildern an, wie sehr er sich bemüht hat, die Natur in all ihrer Schönheit zu zeigen. Nach einigen Schwenks über die Bucht, in der sich die Handlung abspielt, sehen wir eine kreuzförmige Fernsehantenne (Tod und Medien ist eines der Themen des Films). Dem folgt die erste Sterbeszene. Wir hören das Summen einer Fliege, die dann tot ins Wasser fällt. Alle Lebewesen (u.a. ein Oktopus und ein Käfer), die in Ecologia del delitto mit dem Menschen in Kontakt kommen, werden das mit dem Tod bezahlen (noch ein Thema des Films: der sich selbst in den Mittelpunkt der Schöpfung stellende Mensch). Keines der Tiere wird von Antragsteller und BPjM erwähnt.

Bava war ein Kenner der Literatur des 19. Jahrhunderts. Für mich ist die Fliege ein Zitat aus dem berühmtesten Gedicht von Emily Dickinson („I heard a Fly buzz - when I died“), verknüpft mit einem überraschenden Perspektivwechsel. Wie das? Dieser Schundfilm sollte die bedeutendste amerikanische Lyrikerin des 19. Jahrhunderts zitieren? Das muss eine Überinterpretation sein, mit der versucht werden soll, dieses Machwerk vor der Indizierung zu retten. Aber was fängt man dann mit dem Squonk an, von dem ein paar Minuten später eine der Figuren erzählt? Der Squonk ist ein von Jorge Luis Borges erfundenes Phantasiewesen. Wer über ihn nachlesen will, kann das in Borges’ Buch der imaginären Wesen tun (und wird mit einem interessanten Interpretationsansatz für Ecologia belohnt).

Der Dialog mit dem Squonk ist übrigens der erste des Films. Da sind schon fast zehn Minuten vergangen. Im kommerziellen Kino ist das eine Todsünde. Ecologia war denn auch ein finanzieller Flop. Den Squonk hat Filippo Ottoni eingebracht, einer der intellektuellsten Drehbuchautoren Italiens. Ich würde gern noch einige Shakespeare-Anspielungen auflisten, notfalls sogar mit Minutenangabe, will aber doch endlich zu dem Anfang kommen, für den sich die BPjM interessiert.

Selbstzweckhafte Begründungen

Die Ermordung der Gräfin im Rollstuhl ist in der Tat schwer mit anzusehen (statt „abstoßend“ würde mir allerdings eher das Wort „grotesk“ einfallen). Mord ist ein schmutziges Geschäft. Das wusste auch Hitchcock, der das zur selben Zeit und mit ähnlichen Mitteln zeigte (in Frenzy) und dafür gefeiert wurde. Bava ist untypisch für eine Kultur wie die unsere, die den Tod in Krankenhäuser und Altenheime abschiebt, weil er sich sehr für den Prozess des Sterbens interessiert hat, für die letzten Sekunden im Leben eines Menschen. Das ist nicht immer schön anzuschauen. Ich würde auch meinen, dass er die Morde so drastisch gefilmt hat, um den größtmöglichen Kontrast zur Schönheit der Natur zu erzielen, die in Gefahr ist, vom Menschen zerstört zu werden.

Das 3er-Gremium sieht nur die „drastische und ausführliche Darstellung der Brutalitäten“, wodurch der „Selbstzweckcharakter der gezeigten Gewalttätigkeiten“ deutlich werde. Ich sehe beim ersten Mord noch eine kunstgeschichtliche Anspielung (eine Wandmalerei); ein Rad des Rollstuhls, das sich dreht und langsam zum Stillstand kommt wie das Rad beim Roulette (zwei Themen des Films: die Gier nach dem schnellen Geld und das Rad der Fortuna); und eine durch die Ausleuchtung besonders akzentuierte Packung mit HB-Zigaretten, mit der Bava signalisiert, wie er letztlich die Gewalt in seinem Film verstanden wissen will (nämlich so, wie wenn das HB-Männchen aus dem Zeichentrickfilm wieder einmal in die Luft gehen würde). Dem 3er-Gremium würde ich außerdem empfehlen, darauf zu achten, wie Bava am Ende von Einstellungen Objekte unscharf werden lässt, wie er sie auf der anderen Seite des Schnitts wieder scharf werden lässt, und wie er dieses stilistische Experiment dramaturgisch einsetzt.

Stilistische Feinheiten – bei Bava sind sie oft so avantgardistisch, wie das in einem kommerziellen Film nur möglich ist – sind vielleicht nicht jedermanns Sache. Doch schon bei oberflächlicher Prüfung hätte man sehr leicht feststellen können, dass in diesem Film einige Größen des italienischen Kinos mitwirken, die nicht dafür bekannt sind, sich auf Projekte einzulassen, deren Macher auf die Publikumswirksamkeit möglichst brutaler Gewaltszenen spekulieren. Und das wiederum hätte dem 3er-Gremium zeigen können, dass es sich vielleicht lohnen würde, etwas genauer hinzuschauen, statt Im Blutrausch des Satans mir nichts dir nichts in die Kategorie „jugendgefährdender Schundfilm“ einzusortieren. Mag sein, dass er nach genauem Hinschauen immer noch „jugendgefährdend“ ist. Dann sollte das aber auch so in der Indizierungsentscheidung stehen, mit einer nachvollziehbaren Begründung.

Isa Miranda bei der BPjM: leider gänzlich unbekannt

Die Schauspielerin, die in der Rolle der Gräfin „ermordet“ wird, heißt Isa Miranda. Nichts in der Indizierungsentscheidung weist darauf hin, dass ein Mitglied des 3er-Gremiums sie hätte erkennen können. Man hätte aber den Namen im Vorspann lesen und nachschlagen können, um wen es sich handelt. Isa Miranda war in Italien ein Star und eine der bedeutendsten Schauspielerinnen der 1930er bis 1950er Jahre. Zwei ihrer Filme, La signora di tutti (1934) und La ronde (1950), hat Max Ophüls gedreht, nach dem hierzulande ein Preis benannt ist. Wer Bavas Film, der laut BPjM im Grunde kein Drehbuch hat, mit La ronde vergleicht, dem wird auffallen, dass sich das Szenario zu Ecologia del delitto stark an diesem Ophüls-Film orientiert, der längst als ein Meisterwerk gilt. Ich darf hier noch (die Bundesprüfstelle hat es nicht verboten) für ein Bühnenstück mit dem Titel Reigen Reklame machen. Es stammt von Arthur Schnitzler, einem der größten österreichischen Schriftsteller, und war die Vorlage für Ophüls’ La ronde. Bestimmt hatte es auch der immer sehr gut vorbereitete Bava gelesen, als er Ecologia drehte.

Man kann gehässig sein und sagen, dass Isa Miranda eine Ex-Diva war, die sich gezwungen sah, auf ihre alten Tage noch in Schundfilmen wie Im Blutrausch des Satans mitzuwirken (würde damit allerdings völlig ihren Status in Italien verkennen). Mit Laura Betti, die das Medium spielt, hat man es da schon schwerer. Laura Betti war eine Jazzsängerin, für die Alberto Moravia Texte schrieb, bevor sie die Muse von Pasolini wurde. 1968 wurde sie von einer katholischen Filmorganisation als beste Schauspielerin ausgezeichnet (für die Rolle der stummen Dienerin in Teorema). Nachdem sie von dem Preis erfahren hatte, rief sie bei Bava an und bat um eine Rolle in seinem nächsten Film. Denn Mario Bava hatte innerhalb der italienischen Filmindustrie, wie schon gesagt, einen hervorragenden Ruf. Für ihn arbeitete man gern, auch wenn man dafür ein Wagnis einging wie mit Ecologia del delitto und wenn bei ihm kaum Geld zu verdienen war (der Film entstand wie üblich mit minimalem Budget).

Bei ihren beiden Auftritten für Ophüls spielt Isa Miranda jeweils eine Schauspielerin, was den Filmen eine selbstreflexive Ebene gibt. Bava muss das gefallen haben. Auch er ging gern – oft durch das Mittel der Übertreibung – auf ironische Distanz zu dem, was da in seinem Namen aufgeführt wurde. Ecologia del delitto endet mit einer Szene wie im Kasperltheater. Mit einem Schuss werden zwei Leute getötet, was so gar nicht sein kann. Das erinnert uns daran, dass wir es hier mit einer erfundenen Geschichte zu tun haben, mit Kino, und dass die Darsteller natürlich nicht getötet werden, sondern nur so tun, als ob. Sogar der Käfer, den ein Entomologe seiner Sammlung einverleibt, wird nur scheinbar aufgespießt. Bava achtete immer sehr darauf, dass den Tieren in seinen Filmen nichts passierte. Die Fliege, die am Anfang stirbt, ist nur ein ins Wasser geworfener Kiesel (der billigste aller Spezialeffekte).