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Die eiserne Logik der Eskalation: Weiterspielen oder die Notbremse ziehen?

In fast regelmäßigen Abständen droht Russland direkt oder indirekt mit Atomkrieg. Die Mainstream-Medien beschwichtigen: Leere Drohungen. Hunde, die bellen, beißen nicht?

Seltsam: Nur wenige scheinen sich erinnern zu können, dass Drohen zum Geschäft der atomaren Abschreckung gehört und keineswegs gesagt ist, dass sich hinter solchen Kampfansagen keinerlei Absichten verbergen.

Sollen Atomwaffen zu etwas nütze sein, so muss mit ihnen ein politischer oder militärischer Effekt erreichbar sein. Wenigstens sollte es möglich sein, den Gegner damit unter Druck zu setzen.

Dahinter steht ein Spiel, das zur Abschreckungslogik so selbstverständlich gehört wie der Hammer zum Nagel. Abschreckung ist keineswegs nur Gebell, sondern in der Regel ein Wettstreit im Risikoverhalten, ein Spiel mit dem Untergang.

Aktuell ist der Westen an diesem Spiel ebenso beteiligt wie die russische Seite. Die Frage, wer am meisten zu riskieren bereit ist und dabei auch sein eigenes Leben in die Waagschale wirft, wird erst mit der Abschaffung und Ächtung von Atomwaffen aufhören. Oder aber mit dem Ende der Zivilisation auf diesem Globus.

Das Feiglingsspiel

Verglichen wurde das fragliche Spiel zwischen atomar bewaffneten Gegnern mit dem game of chicken, auf Deutsch: dem Feiglingsspiel. Der Politikwissenschaftler und Abschreckungsexperte Dieter Senghaas schildert es so1 [1]:

"Chicken" spielen zwei Rennfahrer, die mit ihren Wagen, einer Mittellinie auf der Straße folgend, mit hoher Geschwindigkeit aufeinander zurasen. Derjenige, der die Nerven verliert und in die eigene Fahrbahn abschwenkt – und damit dem Zusammenprall aus dem Weg geht –, ist das "chicken". Er wird verachtet und verspottet, weil er das Spiel verloren hat.

Obwohl das game of chicken in den USA unter Banden beliebt war, um den Führer einer Gang zu ermitteln, findet ein solcher Wahnsinn auch auf höchster politischer Ebene statt, heute aber, ohne dass die Gefährlichkeit dieses Spiels öffentlich besonders thematisiert wird. Als Putin in das Spiel einstieg, trat er aufs Gas und stieß heftige Drohungen aus2 [2]:

Wer auch immer versucht, uns zu behindern, geschweige denn eine Bedrohung für unser Land und unser Volk zu schaffen, muss wissen, dass die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben.

Entsprechend den Spielregeln im game of chicken hätten sich nun die USA bzw. die Nato ebenfalls an der Mittellinie einfinden und ebenfalls volle Pulle aufs Gas treten müssen. Doch das taten sie zunächst nicht. Sie wählten eine andere Taktik. Den ersten Spielzug hatte also Putin gewonnen, er marschierte in der Ukraine ein, und das wäre ihm auch ohne ausdrückliche Drohung gelungen.

Atomare Abschreckung schafft einen begrenzten Freiraum für Kriege auf der nicht-nuklearen Ebene, unter ihrem Schirm können Spielzüge ausgeführt werden, die ohne Nuklearbewaffnung so nicht möglich wären. Noch nicht einmal eine Nato-Flugverbotszone wurde eingerichtet, was dem game of chicken entsprochen hätte. Es kann nur sein, dass wir dann alle nicht mehr leben würden.

Wettstreit im Risikoverhalten

Dennoch gilt für jede Großmacht, die über Atomwaffen verfügt, das Wort von Henry Kissinger aus seiner 1957 erschienenen Studie, in der er der nuklearen US-Strategie die Richtung wies3 [3]:

Diejenige Seite, die eher willens ist, einen totalen Krieg zu riskieren oder die den Gegner von ihrer stärkeren Bereitwilligkeit überzeugen kann, dieses Risiko zu übernehmen, befindet sich in der stärkeren Lage.

Absichtlich muss man sich also, so Kissinger, in Richtung Abgrund bewegen und darf nicht davor zurückscheuen, vielleicht über dessen Rand in die Tiefe zu stürzen. Deshalb nennt sich das Verfahren auch brinkmanship. Der "Rand" (the brink), hinter dem alles zu Ende ist, darf keine Furcht auslösen.

Wie reagierte der Westen auf Putins Einordnung auf der Mittellinie, während er mit geballter Faust heranraste? Er gab nicht wie Putin Vollgas, aber er hielt Kurs und wich dem möglichen Zusammenstoß nicht aus. Schrittweise steigerte es seine militärische Unterstützung der Ukraine. Schließlich war es nur noch eine Angelegenheit der Perspektive, ob man das als aktive Kriegsteilnahme betrachten wollte oder nicht.

Das hatte Erfolg. Russland drohte zwar weiter, zog sich im Übrigen aber teilweise zurück und begnügte sich vorläufig mit Annexionen im Osten der Ukraine. Kiew – anders als offenbar geplant – wurde nicht erobert. Eine Art Pattsituation stellte sich ein, ein Abnützungs- und Stellungskrieg.

Seit auch noch die Prigoschin-Rebellion dazu kam, steht Russland ziemlich schlecht da. Sein Prestige hat Schlagseite bekommen. Ob Putin der international bewunderte Gangleader werden wird, wie erträumt, oder ein geschmähter Feigling, steht infrage.

Zurück also zum game of chicken. Im Rahmen der Spielregeln muss Russland erneut Gas geben. Unmöglich kann hingenommen werden, dass ukrainische Drohnen in Moskau einschlagen oder Russland gar demnächst mit Langstreckenraketen oder Marschflugkörpern angegriffen wird. Was also tun?

Dabei ist es keineswegs nebensächlich, dass Russland nicht nur numerisch über die meisten Nuklearwaffen verfügt, sondern auch über die modernsten und einsatzfähigsten. Die haben eine Menge gekostet.

Während der Westen im game of chicken zu gewinnen scheint, und die Ukraine ihre Offensive auf Gebiete auszuweiten versucht, die Russland als seine eigenen betrachtet, läge es nun nahe, zu Atomwaffen zu greifen. Keine Frage: Putin denkt darüber nach, keine Frage auch, dass Biden es ebenso tut. Das atomare Tabu ist eine Schimäre.

Sowohl in Russland als auch vor allem in den USA werden Atomwaffen als ganz normale Waffen betrachtet, wenn auch der obersten Kategorie.4 [4]

"Glaubwürdigkeit" als Zwang zum Äußersten

Die Regeln des Wahnsinnsspiels am Rand des Abgrunds werden deutlicher, wenn man auf das Problem der Glaubwürdigkeit schaut. Nukleare Abschreckung wirkt nur, sofern sie glaubwürdig ist. Atomwaffen werden zu einer Fehlinvestition, wenn man nicht eindeutig versichern kann, dass man davon auch Gebrauch machen würde.

Glaubwürdigkeit hat auch einen weltpolitischen Aspekt und bezieht sich auf jene Staaten und Regionen, die sich durch eine Atommacht geschützt fühlen. Zurzeit betrifft dieser Gesichtspunkt hauptsächlich die USA und die sogenannte erweiterte Abschreckung und damit auch Deutschland.

Doch wie erzeugt man Glaubwürdigkeit? Auf jeden Fall so, dass der Finger am Abzug sichtbar wird. Zum Beispiel durch Hochrüstung, in Deutschland nennt sich das "Zeitenwende". Außerdem kann die Modernisierung von Nuklearwaffen vorangetrieben werden, Deutschland ersetzt sein altes Fluggerät zum Transport von Massenvernichtungsmitteln durch geeigneteres neues.

Speziell müssen die als taktisch bezeichneten Tötungsgeräte so auf Vordermann gebracht werden, dass sie an Treffgenauigkeit, Schnelligkeit und Durchschlagskraft zunehmen. Während viele wähnten, die atomare Bedrohung sei verschwunden, läuft dieser Prozess in Ost und West schon lange.

Ist ein Konflikt bereits ausgebrochen wie im Moment, so setzt das game of chicken auf Eskalation. Klar, Putin eskaliert, aber vor allem der Westen tut es. Zwar kennt der Westen Russlands Nukleardoktrin, die atomar zu reagieren androht, wenn das eigene Staatsgebiet in Mitleidenschaft gezogen wird, aber den Spielregeln entsprechend steigert der Westen seine Teilnahme am Krieg Zug für Zug.

Betriebsblindheit wäre dabei ein verharmlosendes Wort, um zu erklären, wie völlig die Raser den Überblick verloren haben.

Beruht brinkmanship generell auf der Steigerung von Unsicherheit und Unberechenbarkeit, so befindet man sich jetzt auf einem Territorium voller Nebelkerzen. Manche Kraftmeier beim Chicken-Spiel der Straßenszene betrinken sich großkotzig, bevor sie losrasen.

In der Politik entspricht das der sogenannten Madman-Theorie, auch eine Erfindung von Henry Kissinger. Um damals Nordvietnam in die Knie zu zwingen, streute er die Botschaft aus, Präsident Nixon sei verrückt geworden und sein Zeigefinder zittere nervös über dem Atomknopf.5 [5]

Tatsächlich war der Präsident häufig betrunken und kam auch sonst oft wie ein Madman rüber. Wann also wird es knallen? Man weiß einfach nicht, wo sich bei Putin die atomare Schwelle befindet. Oder wird einer der Kontrahenten auf die Bremse treten?

Immerhin – intelligent wäre es jedenfalls – könnte man aussteigen und miteinander zu reden versuchen. Aber während man selbst Gas gibt, soll Putin eine Vollbremsung hinlegen. Darunter geht es nicht. Aus westlicher Sicht jedenfalls. Etwas ändern könnte sich allenfalls, weil man ein ähnliches Spielchen mit China ins Auge fasst und das für wichtiger hält.

Doch vorläufig droht Putin nur. Stellvertretend lässt er durch seinen Gefolgsmann Medwedew mitteilen, dass sich Russland in einer Zwangslage befinde. Würden die ukrainischen Offensiven auf russisches Staatsgebiet, mithin auch auf die Republiken im Donbass oder auf die Krim ausgeweitet, gäbe es keine andere Wahl, als Nuklearwaffen einzusetzen6 [6] :

Es gibt einfach keinen anderen Ausweg.

Freilich war das nach so vielen Wiederholungen ein stumpfes Schwert, denn Drohungen schleifen sich ab und man gewöhnt sich daran. Die im Übrigen dumpfe Unfähigkeit, Atomwaffen überhaupt noch angemessen als lebensgefährlich zu empfinden, tut dabei ein Übriges.

Putins Schwäche wird gefährlich

Nicht nur die russische Nukleardoktrin, sondern auch der Zwang, um der Glaubwürdigkeit willen dem Drohen auch Taten folgen zu lassen, sollten aber ernst genommen werden. Es fragt sich ganz ernsthaft: weitermachen wie bisher oder aus dem tödlichen Spiel aussteigen? Leider scheint unser politisches Personal, speziell die grüne Außenministerin, nicht zu verstehen, worum es hier geht. Es gibt Teilnehmer am chicken-game, die bei solchen Spielen von vorneherein nur Hühner sind, und die Konsequenzen nicht begreifen.

Bei informierten und kritischen Beobachtern sieht das ganz anders aus. Der prominente US-Politikwissenschaftler John Mearsheimer, Professor an der Universität von Chicago und Spezialist für internationale Beziehungen, weist neben vielen anderen darauf hin, dass Putin erst so richtig gefährlich werden könnte, wenn er sich in einer Position der Schwäche befindet.7 [7]

Was ist schlimmer, so mag sich Putin fragen: dass ich wie ein begossener Pudel den Schwanz einziehe und abtrete oder dass ich das Äußerste wage? Weshalb sollte er nicht "Selbstmord aus Angst vor dem Tod" begehen? Dass so etwas im Kontext nuklearer Abschreckung passieren könnte, wird von der Politikwissenschaft schon lange diskutiert.8 [8]

Es ist doch keineswegs gesagt, dass Putin durchgehend rational reagieren wird, dass er also Nutzen und Schaden berechnend gegeneinander abwägt. Die von den Psychologen Kahneman und Tversky entwickelte "Prospect Theorie", die auf psychologischen Experimenten beruht, legt nahe, dass Menschen gerade in Situationen drohenden Verlusts irrational reagieren und sehr viel mehr in die Waagschale werfen und riskieren, als wenn es um Gewinne geht. Oft wird ihre Fähigkeit zu einem nüchternen Kosten-Nutzens-Kalkül dadurch lahmgelegt.9 [9]

Die Situation vor dem Knall

Das ist die Situation kurz vor dem Knall. Deutlicher könnte kaum werden, wie vernunftwidrig der Glaube an die dauerhafte Wirksamkeit nuklearer Abschreckung ist. Immer wieder führt sie in lebensgefährliche Situationen, mehr oder weniger im Stil der Kuba-Krise.

In Russland liegt die Entscheidung über den Einsatz von Atomwaffen in den Händen von Putin und zwei hochrangigen Militärs. Geben sie den Einsatzbefehl, auch nur eine einzige taktische Atomwaffe zu zünden, verwandelt sich das game of chicken in blutigen Ernst. Wir alle sind dann bloß noch gerupfte Hühner, die auf ihre Abschlachtung warten.

Mitleidig könnte man auch auf jenen alten Mann auf der anderen Seite des Atlantiks blicken, der entscheiden muss, was nun zu tun wäre. Obwohl es schon geknallt hat, noch heftiger aufs Gas steigen? Also selbst atomar reagieren und sich vielleicht in eine nicht mehr aufzuhaltende Eskalationsspirale begeben? Die Welt verloren geben, weil am Ende der Spirale der interkontinentale Schlagabtausch steht? Oder – Vernunft legt das nahe, aber welchen Wert hat sie im nuklearen Zeitalter? – einfach gar nichts tun, jedenfalls nichts unter Anwendung von Waffen?

Und wieder stellt sich die absurde Glaubwürdigkeitsfrage. Sind wir bereit, im äußersten Fall, Völkermord zu begehen und uns auch selbst zu opfern? Dann geht es nicht mehr um apolitisches Moralisieren, wie es in Deutschland gerade Mode ist. Es geht um die nukleare Realität. Und diese verlangt, sich eindeutig zu positionieren. Entweder der Einsatz von Nuklearwaffen oder das Leben.

Ist es sinnvoll, hier Einstein zu zitieren? Denn erreichen wird es die verblendeten Raser auf der Mittellinie nicht. Einstein10 [10]:

Die erste Atombombe hat nicht nur die Stadt Hiroshima zerstört. Sie hat auch unsere traditionellen, längst überholten politischen Ideen endgültig vernichtet.


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