Die gefallenen Engel des grün-schwarzen Mainstreams

Richard David Precht. Bild: Amanda Berens / Verlagsgruppe Random House / CC-BY-SA 3.0 (DE)

Selbstentlarvungsperformance: Die Reaktionen der deutschen Medien auf das Buch von Harald Welzer und Richard David Precht bestätigen deren Medienkritik erst richtig.

Was Redaktionen beschlossen haben, vergelten und büßen Nationen.

Karl Kraus

Wenn sich in einer Sache alle einig sind, könnten sie einfach recht haben. Es könnte aber auch eine kollektive Blindheit die Schwarmintelligenz vom Weg abgeführt haben oder schlimmer noch: eine berufsbedingte Sehschwäche sie selbst daran hindern, einige offensichtliche Dinge überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.

Es ist jedenfalls bemerkenswert, wie einig sich die veröffentlichte Öffentlichkeit Deutschlands, also jene Teilöffentlichkeit der selbsternannten Leitmedien und Qualitätsmedien, in der Besprechung des Buches Die Vierte Gewalt und seiner Thesen ist.

Zu einem Problem – das nicht nur die Betroffenen angeht – wird das, weil das Buch von dem die Rede ist, von Macht und Machtmissbrauch der Meinungsmacher handelt.

Worum es in dem Buch nicht geht: Ob Vorwürfe im Stil der "Lügenpresse"-Invektiven gerechtfertigt sind – die nehmen die Autoren zu Recht gar nicht ernst. Sondern es geht um die Binnendynamiken und systemischen Probleme von Medien, es geht darum, wie Journalisten und ihre Arbeitsweise den Verdacht gegen Medien fördern und ihm Vorschub leisten.

Und es geht natürlich darum, was Journalisten objektiv tatsächlich falsch machen.

Die Medien machen alles richtig

Nichts gibt den Autoren dieses Buches über Medien so recht, wie die Reaktion der Medien darauf.

Glaubt man den Rezensionen und hört man den Medienvertretern bei Talkshows, wie jener von "Markus Lanz" am 29.09.2022, zu, dann ist klar: Die Medien machen alles richtig. Sie haben sich nichts vorzuwerfen.

An alle im Buch "Die Vierte Gewalt" angesprochenen Probleme haben sie selbst schon längst gedacht und – ja, sie "arbeiten daran". Kein Gran Selbstzweifel, kein bisschen Gedankenblässe, die nur die Möglichkeit den Betracht zieht, dass etwas an den gut begründeten Vorwürfen des Buches dran sein könnte.

Oder die sich zumindest wundert, wie zwei intelligente Leute, die man nicht mögen muss, um sie zu respektieren und ihre Thesen ernst zu nehmen, wie diese zwei intelligenten Leute auf solche offensichtlich ganz und gar aberwitzigen Irrtümer verfallen konnten?

Stattdessen keift man sofort beleidigt zurück. Stattdessen versuchen die Medien ein Rezensions-Massaker zu orchestrieren, wie jene "Schlachtfeste", die sie – wie im Buch triftig dargelegt – beispielsweise am CDU-Bundespräsidenten Christian Wulff oder am SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück solange veranstaltet haben, bis deren politische Laufbahn erledigt war.

Wie um die Thesen des Buches – nach denen die deutschen Leitmedien in der von "Direktmedien" aka digitalen sozialen Netzwerken dominierten Postmoderne essentiell durch Personalisierung, Skandalisierung gekennzeichnet sind – noch einmal in actu zu belegen, wurde man stattdessen sofort persönlich: Statt der Thesen des Buches rezensierte man die Autoren, brachte sie persönlich in Misskredit, machte sie lächerlich, denunzierte sie als "Medienclowns".

Vernachlässigung elementarer Sorgfaltspflichten

Das alles oft genug in Tateinheit der Vernachlässigung elementarster journalistischer Sorgfaltspflichten. So etwa fühlte sich der – einschlägig bekannte – Medienredakteur des Berliner Tagesspiegel, Joachim Huber in seinem Urteil vorab schon absolutistisch und selbstgerecht sicher, dass er das Buch der beiden Autoren bereits vor dessen Erscheinen und genauer Lektüre beurteilte.

Für die Bewertungen "Sorge", "Starker Tobak", "Enttäuschung", "Verwunderung" reichte Huber eine Verlagsankündigung, ebenso für die Feststellung, dass die Autoren "Hilfe durch Fremdhilfe als Therapie" anbietet.

Und dann klassisches Framing: Huber weist auf den von Precht und Welzer geteilten Aufruf für den Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine hin und auf den Apell zu sofortigen Friedensverhandlungen hin. Der habe angeblich "in Öffentlichkeit und Massenmedien zu viel Kritik geführt".

Schon jetzt weiß man, mit wem man es zu tun hat. Und wem das noch nicht genügt, dem wird die Persönlichkeitsstruktur klargemacht: "Precht mit eigener Talkshow im ZDF, "Welzer mit zahlreichen Talkshow-Auftritten konnten und können ihre Meinungen ... ausbreiten."

Nein, nein, das ist, wie den lieben Kollegen von "Übermedien" sehr wichtig ist, keine Rezension.

Es ist einfach eine Meinungsäußerung ohne Grundlage, aber mit klarer Tendenz. Auch keine Rezension ist Hubers Text am 12.10.2022: "Zwei Seiten und doch eine Medaille." Der Untertitel bringt "AfD und 'Die vierte Gewalt' in einem Satz unter, zeigt damit Intention und Richtung an, und belegt die Unvoreingenommenheit des Autors.

Der bringt jene, die in der AfD die Pressefreiheit zur Disposition stellen, in direkte gedankliche Nähe zu Precht und Welzer, die sie verteidigen und sichern wollen. Gleich dreimal schreibt Huber "AfD und Precht/Welzer", bzw. "Bilder der AfD-Anhänger und von Welzer/Precht".

Ist das wirklich Aufklärung oder ist es Denunziation? Begreift Huber nicht den Unterschied oder ist der ihm egal?

In einem Punkt hat Huber recht: "Was macht ihren Erfolg aus? Da ist einmal eine Grundströmung in der Gesellschaft, die alles Überkommene, Elitäre, jede Form von Establishment nicht länger akzeptieren will."

Weil Echtzeit Reflexionskraft minimiert

Zugleich bleibt man völlig blind für eigene Selbstwidersprüche: Precht und Welzer würden aber ihre Empfindungen schreiben, behauptet Melanie Amann, um drei Sätze später zu sagen, sie würde nicht das Buch interessieren, sondern, wie das Buch auf sie wirkt.

Es ist klar, dass sich eine Journalistin nicht gut fühlt, wenn ihr handwerkliche Mängel vorgehalten werden, wenn ihr und ihren Kollegen "Selbstangleichung" vorgeworfen wird, wenn man konstatiert, die Medien trieben, statt aufzuklären, die Regierung durch Moralisieren vor sich her.

Das ist keine neue Erkenntnis. Der Hinweis darauf lohnt trotzdem. Bereits im März 2014 schrieb der damalige FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher über "Dr. Seltsam" in den Medien und die Gefahr des "Echtzeitjournalismus", der "zur Waffe" werde. O-Ton-Schirrmacher:

Fernsehmoderator Claus Kleber ... wie ein Strafgericht", "Selbstinszenierung des Journalismus .. Inquisition, ... in ihrem nur dem Remmidemmi verpflichteten Desinteresse ... Vaterlandsverratsrhetorik ... Symptom journalistischen Übermenschentums ... verwandelt Journalismus in Politik und das Fernsehstudio in einen Ort, wo der Interviewer plötzlich außenpolitische Bulletins abgibt: Claus Kleber zeigt der deutschen Wirtschaft die rote Linie auf.

Die Deutschen sollten nicht erfahren, was Joe Kaeser in Moskau tat, sondern, wie Claus Kleber darüber denkt - ein Ereignis immerhin, von dem selbst die Bundesregierung noch lernen könnte ... Das ist nicht nur komisch, sondern auch bedrohlich.

Journalismus, der, zwingend angesichts des Settings dieses Interviews, nicht wenigstens die Rolle erwähnt, die beispielsweise der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft noch in den Eiszeiten der Weltmächte spielen konnte, unterschlägt nicht etwa nur eine historische Information - er unterschlägt eine Information, die sich in die Köpfe aller heute handelnden Personen eingegraben hat und die zur Bewertung ihres Handelns notwendig ist. (...)

Der Nachrichtenwert ist gleich null, der formale Wert ungleich höher. (...) Die formalen Kriterien dieser fünf Minuten "heute journal" sind mittlerweile eins zu eins übertragbar auf einen aktuellen Echtzeit-Eskalationsjournalismus (...) eine permanente Echtzeit-Erzählung, in der das Herz gleichsam unablässig im Kriegs- und Erregungsmodus tickt...

Die dramaturgischen, auf Kunden oder Klicks zielenden Strukturen von Konflikt, Eskalation, Krise und Katastrophe, mit denen man über die Welt redet, verändern die Welt beim Reden. (...) Weil Echtzeit Reflexionskraft minimiert, infiziert sie aber (...) auf höchst bedrohliche Art das politische und gesellschaftliche Leben in allen Bereichen.

Frank Schirrmacher, 2014

Politik wird durch die Medien verändert. Sensationalisierung und Skandalisierung – Welzers und Prechts Befund steht längst in den Leitartikeln der letzten 20 Jahre. Es folgt nur nichts draus und die Klarheit des Buches "Die Vierte Gewalt" provoziert.

Es mag ja sogar sein, dass die Autorin nicht alles richtig gemacht haben. Aber muss man sie deswegen zu Totalversagern erklären und das Buch zu einem unnützen Machwerk, das ohne Substanz ist und schlimmer noch: Alle möglichen Unwahrheiten und Lügen enthält?

Von taz bis Faz ist das Echo einhellig. Auch in der Welt nicht wesentlich differenzierter. Allein der Freitag erkennt, wo im Buch die Stärken liegen.

Man muss das offenbar in Deutschland als Medienvertreter so machen. In Österreich muss man es offenbar nicht. Dort, wo man ja auch Deutsch lesen kann, sind die Rezensionen einhellig positiv.

Die Notwendigkeit einer Diskurs- und Medienkritik

Im Standard spottet Harald Fiedler über die Aufregung mancher deutscher Medien, ein anderer Text analysiert Prechts Verhältnis zu den Medien.

Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen bespricht "Die vierte Gewalt" im Profil, und ist nicht unkritisch:

Hier geht man maximal aufmerksamkeitsstrategisch vor: dramatische Befunde, scharfe, plakative Attacken, kurze, schnelle Sätze, Ausrufezeichen – Gottfried Benn nannte sie "Lärmstangen" – in Serie. ... strikt empirisch betrachtet, sind die Befunde nicht so klar, wie die Autoren meinen. Weder im Fall der Flüchtlingskrise noch im Fall der Pandemie hat es die eindeutige Mehrheitsmeinung und den hegemonialen Scheinkonsens von Leitmedien im Feld der journalistischen Berichterstattung in dieser Form gegeben. Und für die Ukraine-Krise gibt es – jenseits gefühlter Realitäten – noch keine aussagekräftigen Studien.

Medientheoretisch gesehen gilt des Weiteren, dass die Autoren zwei Paradigmen miteinander verschrauben, die einfach nicht zusammenpassen wollen. ... Mal kurz persönlich gesprochen: Es ist, denke ich, ein Jammer, dass dieses so zupackend geschriebene Buch offenbar so hastig entstanden und damit so leicht angreifbar ist, weil es den Moment hätte markieren können, in dem eine fundierte, nicht auf Vernichtung, sondern auf Verbesserung zielende Medienkritik den Mainstream der Großöffentlichkeit erreicht.

Bernhard Pörksen, Profil

Er gibt aber der Substanz der Kritik recht und fragt nach:

... was würde passieren, wenn man beginnen würde, ein ganz anderes Spielfeld zu suchen? Ein Spielfeld, in dem man – jenseits von Dominanz-Wille, Marketing-Getöse und Positionierungseifer – für einen Moment tatsächlich miteinander spricht, explorierend und nicht vorschnell definierend, also insgesamt weniger sicher?

So gesehen könnte bei aller Kritik das aktuelle Buch von Richard David Precht und Harald Welzer ein willkommener, einigermaßen paradox eingefädelter Auftakt sein, um endlich in der Breite der Gesellschaft über die Maßstäbe und die Notwendigkeit einer Diskurs- und Medienkritik zu disputieren, die es tatsächlich unbedingt braucht.

Bernhard Pörksen

Enttäuschte Liebe

Die Erregung ist diesmal wohl auch deshalb so besonders groß, weil Harald Welzer und vor allem Richard David Precht zwei gefallene Engel des grünen Bildungsbürgertums, der moralisierenden grün-schwarzen urbanen Mitte sind.

Solange Welzer über drohende Klimakriege und die Freunde der offenen Gesellschaft schrieb, für "Selber denken" eintrat und ein Untertitel "Anleitung zum Widerstand" noch nicht querdenkerisch konnotiert war, solange Precht für Veganismus plädiert und Pflichten einfordert, solange waren beide die Guten.

Wenn zu den Pflichten auch die Selbstbescheidung der Medien gehört, und Askese nicht allein das Fleischessen betrifft, sondern auch das Twittern, dann ist es auf einmal böse.

Anders als in Schwarz-Weiß Mustern können die postmodernen Öffentlichkeiten nicht mehr denken. Grautöne sind von gestern, sind "80er Jahre", wie es die Spiegel-Frau Melanie Amann bei Markus Lanz penetrant mehr als einmal sagte.

Medien werden ein Teil der Macht

Viele der jetzt aufgebrachten Vorwürfe gegen das Buch sind offenkundig falsche Tatsachenbehauptungen oder an den Haaren herbeigezogene Verdrehungen und Abweichungen vom eigentlichen Inhalt.

Medien werden ein Teil der Macht. Darum distanzieren sich die Beherrschten von den Medien. Aber die Medien müssten eigentlich Vermittler sein, Vermittler der Macht gegenüber den Beherrschten und andererseits der Beherrschten gegenüber der Macht.

Die Medien vermitteln immer weniger, oft gar nichts mehr außer ihre eigenen Standpunkte und zwar mit Macht gegenüber Beherrschten und gegenüber den Regierenden

Von "Selbstgleichschaltung der Medien" ist im Buch übrigens nicht die Rede. Sehr wohl aber sprach bereits vor acht Jahren der Autor Thomas Meyer, Politikwissenschafter und SPD-Vordenker, davon: In seinem Essay "Die Unbelangbaren. Wie politische Journalisten mitregieren".

Hier bereits finden sich wie bei Welzer/Precht die Fälle Wulff und Steinbrück, die Kritik an Journalisten als "Co-Politikern", ihre "Gatekeeper"-Funktionen und das Bestimmen, was überhaupt Thema sein darf und was nicht. Dazu Niklas Luhmanns Analyse der Massenmedien.

Sehnsucht nach Bestätigung und Sicherheit im Meer der Irritationen

Ist "Die Vierte Gewalt" nun ein gutes und wichtiges Buch? Wichtig ist es, eben weil es die oben beschriebenen Reaktionen und Debatten triggert, weil es Fragen aufwirft.

Gut ist es nur mit Einschränkungen. Viele wichtige aber wenige neue Dinge stehen drin. Sie sind passabel zusammengefasst, insofern ist vieles auch als medientheoretische Einführung lesbar.

Zugleich merkt man dem Buch an, dass es sehr schnell geschrieben ist. Vieles ist unausgewogen, stellenweise verliert es sich in Einzelheiten und Details, die manchmal vom Kern ablenken, die man manchmal so genau gar nicht wissen will und auch nicht wissen muss, um die Essenz der wichtigen Thesen der Autoren zu verstehen.

Insgesamt ist das Buch von Welzer und Precht eine nicht ungeschickte Zusammenfassung, stellenweise auch Kompilation aus verschiedenen Klassikern wie Jürgen Habermas Buch "Strukturwandel der Öffentlichkeit", Niklas Luhmanns Analyse der Massenmedien und Werken des Sozialpsychologen Erving Goffman. Darüberhinaus werden Umfragen und Untersuchungen herangezogen.

Trotzdem: Das Buch ist ein großer Wurf mit richtigen Thesen, die leider nicht ausgearbeitet sind, sondern mehr essayistisch hingeschrieben.

Was Leitmedien sind, wird nicht deutlich genug klargemacht. Die Begriffe "Leitmedien" und "Qualitätsmedien" sind oft genug selbst Behauptungen eben jener Medien.

Eine Medienkritik auf der Höhe unserer digitalen Zeit müsste diese Selbstbeschreibung infrage stellen. Sie braucht viel Empirie, das harte Bohren dicker Bretter, das Harald Welzers Sache, wenn er will, durchaus ist.

Sie braucht die Reflexion darüber wie die Prozesse in den Medien tatsächlich ablaufen, zwischen den immer noch vorhandenen krakeelenden Alphatieren, den eitlen Kommentatoren und "Einschätzern", den immergleichen "Experten", den fleißigen Arbeitsbienen, den in Kauf genommen Poeten der "guten Story" zwischen Dichtung und Wahrheit und einem Publikum, dass sich für Wahrheit viel weniger interessiert als für Bestätigung der eigenen Ansichten und Sicherheit im Meer der Irritationen.

Richard David Precht, Harald Welzer: "Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird"; S. Fischer. Frankfurt 2022

Thomas Meyer: "Die Unbelangbaren. Wie politische Journalisten mitregieren"; Suhrkamp, Berlin 2015