Die paradoxen Lehren der Ukraine-Kämpfe für die Kriegsführung der Zukunft
Seite 2: Kampfbereitschaft, Kampfwille
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Infolgedessen sind Hunderttausende junger russischer Männer aus Russland geflohen, um der Wehrpflicht zu entgehen, was den Staat in Verlegenheit bringt und die wirtschaftliche Zukunft Russlands untergräbt. Die (zutreffende) Wahrnehmung, dass sich die Söhne der Reichen dem Dienst entziehen, während die Armen in den Tod geschickt werden, führt zu sozialen Spannungen, die bereits von einigen Politikern ausgenutzt wird.
Aber auch die Ukraine ist in dieser Hinsicht nicht unproblematisch. Die ukrainischen Grenzbeamten hindern Männer im wehrfähigen Alter an der Ausreise. Deserteure riskieren den Tod, wenn sie versuchen, über Berge und Flüsse zu fliehen. Polizeistreifen bedrängen junge Männer, die sich ihrerseits übers Internet gegenseitig Tipps geben, wo diese Patrouillen operieren.
Für die Nato ergibt sich aus all dem eine doppelte Warnung. Erstens ist die Wehrpflicht für die Vereinigten Staaten und die große Mehrheit ihrer europäischen Verbündeten politisch unmöglich. Die meisten Nato-Staaten, die sich für einen Krieg entscheiden, der eine Wehrpflicht erfordert, werden sich entweder weigern, zu kämpfen, oder sie werden verlieren.
Zweitens müssen die Kämpfer bereit sein zu kämpfen – etwas, das gilt, seit die Spartaner beim griechischen Engpass zwischen Meer und Gebirge, den Thermopylen, in Stellung gegangen sind oder seit sich unsere Vorfahren zusammengetan haben, um das Mammut zu jagen. In den ersten Monaten des Krieges war der Kampfgeist der ukrainischen Truppen und der zivilen Freiwilligen absolut entscheidend für den Erfolg beim Aufhalten ihrer weniger motivierten russischen Gegner.
Kampfgeist kommt jedoch nicht aus dem Nichts. Bei den meisten Ukrainern ist er, wie bei so vielen anderen Völkern, vor allem darauf zurückzuführen, dass ihr Land überfallen wurde. Wenn man davon ausgeht, dass die Vereinigten Staaten und Deutschland nicht überfallen werden, wäre es sehr schwierig, eine solche Moral auch bei den Berufssoldaten der Nato und ihrer Zivilbevölkerung zu wecken.
In relativ kleinen Einheiten kann durch eine Kombination aus Ideologie und kollektivem Stolz ein enormer Kampfgeist erzeugt werden. Er kann jedoch auch Gefahren mit sich bringen, insbesondere in den turbulenten Nachwehen blutiger Kriege, die mit einer – als unnötig empfundenen – Niederlage enden. Militärveteranen erhalten dann das Gefühl, dass die politischen Eliten ihre Opfer ignorierten.
In Italien und Deutschland galt das während und nach dem Ersten Weltkrieg für die "Arditi" und "Stoßtruppen", deren Veteranen später das Rückgrat der faschistischen und nationalsozialistischen Milizen unter der Führung der ehemaligen Gefreiten Benito Mussolini bzw. Adolf Hitler bildeten. Sie erhielten die Unterstützung vieler anderer ehemaliger Soldaten aus den Jahren 1914 bis 1918, die überlebten und ebenfalls von den politischen Systemen der Nachkriegszeit und von ihrem eigenen Leben bitter enttäuscht waren. Sie suchten in radikalen, kollektivistischen Ideologien eine Antwort.
In der Ukraine und in Russland sind es vor allem zwei Kräfte, die aus diesem Krieg mit großem Prestigegewinn hervorgegangen sind: das ukrainische, extrem nationalistische (viele haben es als faschistisch bezeichnet) "Asow-Regiment", das Mariupol so heldenhaft gegen eine überwältigende Übermacht verteidigt hat, und die Wagner-Privatarmee unter Jewgeni Prigoschin (die größtenteils aus russischen Gefängnisinsassen rekrutiert wurde – schon Wellington bezeichnete seine eigenen britischen Privatsoldaten bekanntlich als "Abschaum der Menschheit" –, aber niemand stellt ihren Kampfgeist infrage).
Wagner hat in den letzten Monaten einige der wenigen russischen Erfolge auf dem Schlachtfeld erzielt, und ihr Kommandeur scheint bereits eine politische Karriere vorzubereiten, die sich auf die Unterstützung durch Militärveteranen, Nationalismus und den Unmut über Korruption und Wehrdienstverweigerung der Elite stützt.
Immer wieder wird uns gesagt, der Ukraine-Krieg sei ein Krieg zur Verteidigung und weltweiten Sicherung der Demokratie. Unseren US-amerikanischen, französischen und britischen Vorfahren (und sogar den Russen von März bis Oktober 1917) wurde dasselbe über die Alliierten im Ersten Weltkrieg erzählt. Das hat nicht so ganz funktioniert, und es gibt keine Garantie dafür, dass es diesmal in der Ukraine anders ist.
Eine der Lehren, die westliche Militärs aus dem Ukraine-Krieg ziehen können, ist, dass sie die Bereitschaft ihrer Bevölkerung, moderne Waffen in die Ukraine zu schicken, nicht mit der Bereitschaft verwechseln sollten, ihre Soldaten in den Kampf und in den Tod zu schicken. Oder, im Falle der meisten europäischen Länder, mit der Bereitschaft dieser Soldaten, selbst zu kämpfen und zu sterben.
Bezeichnend dafür waren die Äußerungen des ehemaligen Nato-Generalsekretärs und derzeitigen Beraters von Präsident Selenskyj, Anders Fogh Rasmussen, der in der vergangenen Woche sagte, dass – falls die Nato der Ukraine auf ihrem Gipfel in Vilnius im nächsten Monat die Mitgliedschaft oder Sicherheitsgarantien verweigere –, einige Nato-Mitgliedsstaaten dann ihre eigenen Armeen in die Ukraine schicken sollten.
Ich würde nicht ausschließen, dass Polen sich in diesem Zusammenhang auf nationaler Ebene noch stärker engagieren würde und dass die baltischen Staaten folgen würden, vielleicht einschließlich der Möglichkeit, Truppen vor Ort zu stationieren. Ich denke, die Polen würden ernsthaft in Erwägung ziehen, eine Koalition der Willigen zu bilden, wenn die Ukraine in Vilnius nichts erreicht. Wir sollten die polnischen Gefühle nicht unterschätzen. Die Polen haben das Gefühl, dass Westeuropa zu lange ihre Warnungen vor der wahren russischen Mentalität ignoriert hat.
Was ist an der Aussage bemerkenswert, abgesehen von den außerordentlich gefährlichen Implikationen? Nun, Herr Rasmussen ist auch der frühere dänische Ministerpräsident, aber er hat überhaupt nichts darüber gesagt, dass Dänemark in der Ukraine kämpfen wird.
Zweifellos liegt das daran, dass er seine Landsleute und deren Armee sehr gut kennt. Dänemark hat Leopard-Panzer in die Ukraine geschickt, und Leopard-Panzer sollen zu den besten der Welt gehören. Ob die dänischen Panzerbesatzungen zu den besten der Welt gehören, ist eine ganz andere Frage.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.
Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russland: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).