Direkte und massive politische Botschaften

Der mexikanische Grafiker Leonel Sagahón

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"Sozial und kulturell orientierte Poster scheinen in meiner Stadt zu verschwinden, alle öffentlichen Räume sind durch Werbung und Regierungspropaganda besetzt. All diese Botschaften haben nur das Interesse dich dazu zu bringen etwas zu kaufen, sie haben nicht die geringste Absicht das Leben der Menschen zu bereichern. Ich versuche Plakate zu gestalten, die versuchen ein Gleichgewicht herzustellen und es den Leuten ermöglichen nachzudenken und teilzuhaben. Design ist ein Weg sich die Zukunft vorzustellen. Grafikdesign ist ein Weg sich vorzustellen, wie wir gerne gesehen werden würden. In dieser Vorstellung haben wir auch die Möglichkeit das Beste aus unserer Welt und von uns selbst heraus zu picken. Und ausserdem ist es auch an der Zeit zu verändern was uns nicht gefällt. Design ist mein Weg mich am Aufbau eines besseren Lebens zu beteiligen".

Leonel Sagahón, 35 Jahre alt, gehört zu den bedeutendsten Grafikdesignern Mexikos. Er entwarf in seinem Studio "La Maquina del Tiempo" (die Zeitmaschine) ein Plakat für die Ausstellung "Karl der V." des Museums "Antiguo Colegio de San Ildefonso" und illustrierte die Buchcover der Neuauflage der Werke von Carlos Fuentes als Taschenbuchausgabe. Der Schriftsteller Hector Aguilar Camín liess nachdem Leonel Sagahón ein Buchcover für ihn entwarf, ausrichten, es sei das Beste das er jemals gehabt habe.

Manchmal lässt sich Engagement und Arbeit für Leonel Sagahón verbinden. So entwarf er im Auftrag verschiedener Nichtregierungsorganisationen in Mexiko Stadt einige Plakate, die Jugendliche zur Benutzung von Kondomen anregen sollen, sowohl wegen der Gefährdung durch Geschlechtskrankheiten, wie auch aufgrund der zahlreichen ungewollten Schwangerschaften. Das Plakat "NOSEAPENE" stellt ein Wortspiel mit dem Begriff Penis (Pene) dar und bedeutet übersetzt "sei nicht schüchtern". Es spielt darauf an, dass viele junge Menschen keine Kondome benutzen, weil es ihnen schlichtweg peinlich ist, danach zu fragen. Ein weiteres "Metetelo en la cabeza" ("Setz es dir in den Kopf") unterstreicht auf andere Weise die Bedeutung der Benutzung von Kondomen.

Leonel Sagahóns wahre Leidenschaft liegt jedoch in nicht-kommerziellen politisch und sozial orientierten Projekten. Hierfür sucht er meist den Austausch mit anderen Grafikern und Grafikerinnen und so arbeitete er im Laufe der vergangenen acht Jahre in den Grafikkollektiven "El Cartel de Medellín", "Das Medellin-Kartell/Plakat", (für einige Werke siehe, "Fuera de Registro", Außerhalb des Registers und La Corriente Eléctrica,, von der der Schweizer René Wanner - eine Autorität in der Plakatwelt - sagt, sie seien "die mexikanische Reinkarnation von GRAPUS", der legendären französischen Politgrafiktruppe.

Die spektakulärste Aktion von "La Corriente Electrica" - zusammen mit anderen Gruppen - war bisher ein über 50 x 70 Meter großes (3.750 m²) Konterfei des mexikanischen Revolutionärs Emiliano Zapata auf den Zócalo, dem zentralen Platz von Mexiko Stadt und dem größten Platz Lateinamerikas, zu malen. In der Nacht vom 7. Auf den 8. April 2001 versammelten sich auf Einladung von "La Corriente Electrica" 200 Personen auf dem Platz, der das politische Herz des Landes darstellt und malten in vorher genau festgelegten Maßstäben die ganze Nacht am Konterfei. Am 8. und am 9. April, kurz vor dem Jahrestag des am 10. April 1919 ermordeten Revolutionärs, erschien sein Bild in allen Zeitungen des Landes

Wir haben 2,000 Liter Farbe, auf der Basis von Wasser und etwas Leim gemischt. Die Farbe war nicht dauerhaft und konnte leicht wieder entfernt werden. Die Struktur des Platzes, der aus Reihen von 1x1 Meter großen Quadern besteht, haben wir zur Grundlage genommen. Wir haben den gesamten Platz in zwölf Sektoren aufgeteilt, für jeden Sektor einen Plan angefertigt und den Platz mit den gleichen Codes markiert, wie die Pläne. Jede beteiligte Person wurde anschließend einer Reihe in einem Sektor zugeteilt und war Teil einer Gruppe unter der Leitung einer Person, die bereits im Vorfeld etwas eingearbeitet wurde. Dann haben wir acht Stunden lang gemalt. Das Material haben wir von "La Corriente Electrica" zur Verfügung gestellt. Wir haben unter Freunden und Genossen etwa 10.000 Pesos, das sind etwas mehr als 1000 Dollar, gesammelt. Wir haben alles selbst finanziert und keinen Geld von der Regierung, Institutionen oder irgend einer Organisation genommen. Mittels Internet und Zeitungen haben wir verschiedenste Leute eingeladen mit uns zu malen, es haben sich Kinder beteiligt und alte Menschen, Hausfrauen und KünstlerInnen, aber im wesentlichen junge Leute aus verschiedenen Underground-Gruppen wie Graffiti-Künstler, Tagger, Schwulengruppen, Fanzine-Macher u.a. Einige hatten eine ästhetische Herangehensweise, andere eine politische. Einige waren Zapatisten andere Globalisierungsgegner und wieder andere wollten einfach an einem kollektiven Projekt teil nehmen. Wir glauben an die Kraft eines kollektiven, künstlerischen und kurzlebigen Akts als innovative Ressource für eine neue Ära des nicht-institutionellen Kampfes. Wir wollten für alle das Image von Emiliano Zapata wieder herstellen, denn er ist heute eine der wesentlichen Ikonen der rebellischen Würde, war aber während der vergangenen 70 Jahre ein Symbol, das von der pseudo-revolutionären Regierung gekidnappt wurde.

Eng an die Erben Zapatas, die zapatistische Guerilla EZLN, ist auch die Entstehung von "La Corriente Electrica" geknüpft. Der Aufstand der Zapatisten im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas Anfang 1994 veränderte Mexiko zutiefst. Der Krieg mobilisierte Hunderttausende, die versuchten die bewaffnete Konfrontation zu stoppen, und die Basisgemeinden der EZLN sowie die Tausende von Flüchtlingen zu unterstützen, die vor mexikanischen Armee vertrieben wurden oder in den Dschungel flüchteten. Karawanen mit Hilfsgütern, Solidaritätsaktionen und Demonstrationen wurden organisiert, das Ende des schmutzigen Krieges der mexikanischen Regierung gegen die indianische Bevölkerung gefordert. In dieser Atmosphäre entstand Anfang 1995 "La Corriente Eléctrica"

Wir wollten einen eigenen Beitrag leisten und mit graphischem Material all die Aktivitäten zu Gunsten des Friedens leisten. Wir haben versucht uns die gesamte Kraft der graphischen Kommunikation in kollektiven Prozessen zu Nutze zu machen. Die Bilder die wir schließlich produzierten, waren das Ergebnis einer Analyse der unterschiedlichen Bedingungen (politische, soziale, kulturelle ökonomische und logistische). Wir produzierten Plakate, Aufkleber, Transparente und Kampagnen um zu informieren und gegen die offizielle Propaganda im kommerziellen TV und nahezu allen Zeitungen anzukämpfen. Wir versuchten die Menschen zu erreichen, die noch nicht Teil des demokratischen Kampfes waren und benutzten dazu einfache, direkte und massive Botschaften. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig zu erwähnen, dass nicht alle die sich an den Projekten von "La Corriente Eléctrica" beteiligen aus den Bereichen Grafik oder Kunst kommen. Im Kommunikationsprozess gibt es allerhand Aktivitäten, die von verschiedensten Leuten übernommen werden könne. In unserer Gruppe werden z.B. Aktivitäten wie Recherche, Planung, Finanzen und Vertrieb teilweise von jungen Leuten übernommen, die so eine Möglichkeit finden, sich an unseren Projekten zu beteiligen.

An den Projekten von "La Corriente Electrica" während der vergangenen Jahre haben sich unterschiedlichste Leute beteiligt. Lediglich der Kern der Gruppe, zu dem auch Leonel Sagahón gehört, bleibt immer der gleiche. Das gleiche Team stand auch hinter dem mittlerweile aufgelösten "El Cartel de Medellín" und bildet das Herz von "Fuera de Registro". Allen drei Initiativen ist - bis auf die zentralen Mitglieder - gemeinsam, dass es sich um streng nicht-kommerzielle Projekte handelt, die in kollektiver und einschliessender Weise die graphische und kommunikative Erfahrung der MacherInnen für soziale und politische Zwecke einsetzen. Doch während "La Corriente Electrica" ganz klar den Aspekt der politischen Botschaft in den Vordergrund stellt, priorisiert "Fuera de Registro" die ästhetische Ebene. So produzierte "Fuera de Registro" zu den Wahlen im Jahr 2000 ein kleines Heft in dem auf 48 Seiten - ohne Text - Fotos von entfremdeter Wahlpropaganda abgedruckt wurden. Auch ohne Text war die Botschaft klar, die Bevölkerung nimmt die Parteien und ihre hohlen Versprechen nicht ernst. Das Heft wurde in einer Auflage von 5.000 Exemplaren auf dem Zócalo, dem zentralen Platz von Mexiko Stadt, verschenkt.

"La Corriente Electrica" ist in den vergangenen Jahren nicht nur zum Thema Chiapas aktiv geworden, sondern auch zu Demokratie, Menschenrechte, Umwelt- und Genderfragen. Und als im Februar 2000 die seit neun Monaten besetze Universität UNAM brutal von der Polizei geräumt und Hunderte von Studenten inhaftiert wurden, produzierte "La Corriente Electrica" über Nacht Tausende von Aufklebern für ihre Freilassung, die am nächsten Tag auf einer riesigen Demonstration verteilt wurden. Angesichts der vielen Drohungen und Übergriffe auf Menschenrechtsaktivisten entwarf die Gruppe für das Menschenrechtszentrum "Miguel Augustín Pro" ein Plakat auf dem unscharf und aus ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben zu lesen ist "Wenn du weiter machst, machen wir dich fertig". Eine Unterzeile fordert den Stopp der Übergriffe. Das "Miguel Augustín Pro" wurde zu der Zeit massiv bedroht. Einige Monate später wurde die Rechtsanwältin Digna Ochoa - ehemalige Mitarbeiterin des Menschenrechtszentrum - von Unbekannten erschossen.

Viele der Aktivitäten von "La Corriente Electrica" sind dennoch an den Krieg in Chiapas geknüpft. Als die Zapatisten 1995 eine "Consulta", eine Befragung, in ganz Mexiko organisierten, zeichnete Leonel Sagahón im Namen der Gruppe Aufkleber, die zur Beteiligung aufriefen und als 1998 die mexikanische Regierung Hunderte von Italiener, Australier und US-Amerikaner, die sich als Beobachter der Situation in Chiapas im Land befanden, aus Mexiko auswies, mit einem Einreiseverbot belegte und das Vorgehen mit einer nationalistischen und fremdenfeindlichen Kampagne unterstrich, entwarf Leonel Sagahón das Plakat "Xenophoby".

Bild von Ricardo Pelaez

Manchmal kreuzen sich die zu mobilisierenden Kreise von "La Corriente Electrica" und "Fuera de Registro" und es entstehen gemeinsame Projekte wie etwa eine Serie von Briefmarken unter dem Motto Zapata lebt Die 5x4 cm großen Bilder von 15 verschiedenen GrafikerInnen aus Mexiko, Argentinien und Frankreich, wurden auf einen Bogen gedruckt und konnten durch einfaches anfeuchten verklebt werden. Die Auflage der Bögen betrug 75.000. Sie wurden mit der Unterstützung verschiedener Gruppen von Skatern, Writern und Punks in den zwei Tagen rund um die Ankunft der zapatistischen Comandantes und Tausenden von Indianern in der mexikanischen Hauptstadt im März 2001 in der gesamten Stadt verteilt. Zusammen mit einer Erklärung mit einer Erklärung die zur weiteren Verbreitung aufrief und die drei zentralen Forderungen der EZLN unterstützte: 1. Verfassungsrechtliche Anerkennung der Abkommen von San Andres über indianische Rechte und Kultur.2. Freiheit für alle zapatistischen Gefangenen. 3. Rückzug der Bundesarmee aus den Dörfern in den Bergen Chiapas'.

Eines seiner Bilder, rebel dignity", ein Fingerabdruck mit Augenschlitz (ähnlich der Maske der Zapatisten), hat Leonel Sagahón kürzlich auch in einer kleinen Auflage als Plakat gedruckt. "Die Idee für das Bild", so Leonel Sagahón, "kam mir, als ich darüber nachgedacht habe wer eigentlich die Indianer und die Mexikaner sind und natürlich auch wer ich bin".

"La Corriente Electrica" arbeitet im wesentlichen mit dem Computer. Das war bei El Cartel de Medellin" noch anders. Die Idee damals war Plakate mit nur zwei Farben und ohne Nutzung des Computers zu entwerfen. Zusätzlich trafen sich alle an der Gruppe Beteiligten einmal die Woche und tauschten Ideen und Kritik zu ihren einzelnen Werken aus. Daher beschlossen sie auch die verschiedenen Plakatserien, die sie gemeinsam gestalteten nicht mit einzelnen Namen zu unterschreiben, sondern als ein Ergebnis kollektiver Arbeit der Gruppe zu präsentieren. "El Cartel de Medellin" - der Name rührt im Übrigen einfach daher, dass die Gruppe in einem Grafikstudio in der Medellín-Strasse in Mexiko Stadt zusammen kam - hat bis zu seiner Auflösung 1999 folgende Plakatserien produziert: 1996: "Kuba von Mexiko aus gesehen", eine Ausstellung die auch auf Kuba gezeigt wurde. 1997: "Theater und Aids", zum internationalen Anti-Aids-Tag 1997: "Toleranz", für die internationale Postertriennale in Toyama, Japan 1998: "1968-1998", in Erinnerung an das Massaker an Studenten in Mexiko Stadt 1968 und an 30 Jahre Studentenbewegungen in Mexiko.

Es reicht nicht "politisch korrekt" zu sein, um in der graphischen Kommunikation auch gute Qualität zu produzieren. Es gibt allerhand lausige Plakate, die von Zufallsgrafikern in der Hitze des Augenblicks produziert wurden. Manchmal sind sie dann bloß billige Propaganda. Weder ihr Text noch ihre graphische Darstellung bringen die Menschen zum denken oder handeln. Ich und die Gruppen mit denen ich arbeite, versuchen eine bessere Kommunikation über gesellschaftliche Themen hinzukriegen, indem wir unsere Projekte im Vorfeld planen und mit Organisationen und Leuten zusammen arbeiten, die in die Angelegenheiten involviert sind. So können wir auch unsere Konzepte, Botschaften und Strategien klarer fassen. Und außerdem lernt natürlich jeder etwas und hat bessere Ergebnisse.

Leonel Sagahóns Lieblingsprojekt wäre nun Seminare für politische Gruppen, soziale Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen aufzubauen, in denen erfahrene Grafiker und Grafikerinnen ihre Erfahrungen in der graphischen Kommunikation weiter geben können und die "Aktiven" direkt geschult werden. Dafür braucht es jedoch einiges an Finanzierung und dem Bereich graphische Kommunikation messen bisher sowohl die aktiven Gruppen, wie auch die internationalen Geldgeber keine besondere Bedeutung zu. Die Realisierung steht also im Moment noch in den Sternen. Doch Leonel Sagahón greift gerne nach den Sternen.