Documenta15: Einseitige Lerneffekte mit Wohlfühlfaktor

Seite 2: Erfolgreich ausgeblendet: Perspektiven und Kritik aus dem kolonialisierten Süden

Taring Padi ging es nicht um Israel, sondern um Indonesien. Dem Künstlerkollektiv ging es u.a. darum, die Aktivitäten von Geheimdiensten zu kritisieren, die sich in fremde Länder einmischen und Regime Changes vorantreiben – die nicht zum Wohle des Volkes sind, trotz aller Humanitär-Rhetorik. Letztere erinnert auffällig an The White Man's Burden von Rudyard Kipling, der – ernst gemeint – die Ausbeutung neuer Einflusssphären im Kolonialismus mitsamt der Unterdrückung der Menschen vor Ort moralisierend mit einem vermeintlichen Zivilisationsfortschritt für die kolonisierten "Wilden" zu legitimieren suchte.

Vielleicht ist das Konzept gar nicht so weit weg von dem einer "humanitären Intervention" der Nato-Doktrin von 1999? Wer mag sich schon als Kolonialist, Ausbeuter und/oder Rassist sehen, wenn man sich auch zu einer "An unserem Wesen soll die Welt genesen"-Sicht stilisieren kann?

Wir alle neigen ja dazu, unsere eigenen Eigenschaften und Taten zu idealisieren, im Gegensatz zur besonders kritischen Betrachtung der Taten anderer – wie es der Diskursanalytiker Teun van Dijk eindrücklich beschrieb, und der zudem die ungünstige Rolle der Medien als Verstärker dieser Untugend ausmachte.

Aufklärungsbücher, wie Die Bekenntnisse eines Economic Hitman von John Perkins oder Die Mitleidsindustrie von Linda Polman, welche die Verlogenheit sogenannter "Entwicklungshilfe" oder sogar die eines NGO-getriebenen Humanistan-Mythos gnadenlos entlarven, dringen in den Massenmedien kaum durch.

Dabei wäre es ein Gewinn, wenn man sich hier in die Lage versetzte, die eigenen Verstrickungen in die Armut des Südens zu erkennen. Und die weltweiten Geheimdienstoperationen unserer Regierungen zum Erhalt dieser Strukturen wahrzunehmen: politische Morde, wie den an Patrice Lumumba im Kongo 1961 oder an Salvador Allende in Chile 1973, die Regime-Changes im Iran 1953, in Panama 1989, im Irak 2003, in Libyen 2011, sowie der Iran-Contra Skandal Mitte der 1980er-Jahre usw. usf.

Indonesien ist dabei kaum auf unserem Schirm. Das überdimensionale Banner People's Justice, das in Kassel an einem gigantischen Gerüst auf dem Friedrichsplatz und damit direkt am Eingang zur Documenta installiert worden war, thematisierte genau diesen blinden Fleck in der deutschen und vermutlich auch europäischen Weltwahrnehmung – ganz gemäß der Einschätzung Johan Galtungs, der gerne und zurecht von "Euro-Nombrislism" spricht.

Es thematisierte malerisch die Verbrechen in ihrem Land, mitsamt der Einmischung von außen, was alles erst nach dem Ende der Suharto-Diktatur artikulierbar wurde – also um die Jahrtausendwende; dazu tiefere Einsichten des Australiers Dirk Moses. Die Botschaft kommt natürlich nicht an, wenn man mit der Haltung herangeht: (Nur) wir verstehen die Welt.

Das Dilemma, das sich teilweise in diesem Aufsatz hier fortsetzt, weil die reichhaltige Ausstellung auch hier nicht zur Sprache kommen wird, zeigt sich in dem, was George Lakoff „Highlighting and Hiding“ bezeichnet: Das Einblenden der berechtigten Kritik an den antisemitischen Darstellungen auf dem Tableau überblendete die gesamte Documenta-Berichterstattung und half schließlich dabei, die Fundamentalkritik der Ausstellung, wovon dieses Banner einen zentralen Teil darstellte, an Kolonialismus, Umsturz- und Diktatorenunterstützung, sowie seinen veränderten und subtileren Ausdrucksformen bis hinein in heutige Wirtschaftsstrukturen komplett auszublenden.

Das Ausblenden der komplexen Zusammenhänge scheint besonders in Deutschland eine willkommene Botschaft, wie dies auch Wolf Wetzel diagnostiziert, indem er den Diskurs um die Dokumenta15 als „ein Dokument progressiven Herrenmenschentums“ interpretiert. Die ritualisierte Aufregung über Antisemitismus hilft nämlich, sich um andere schmerzliche Auseinandersetzungen herumzudrücken.

Denn um die Auseinandersetzung mit Antisemitismus kommt man nicht herum, um eine vergleichbare Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus und seinen Völkermorden bisher schon, von den strukturellen Ausprägungen neokolonialistischer Ausbeutestrukturen ganz zu schweigen.

Die eine Kröte möge reichen …

Als per se Gute – also wir – liegt es offensichtlich in hiesiger Diskursmacht nonchalant, teils gönnerhaft bis süffisant über jeden Ansatz an ebenso berechtigter Kritik an neokolonialem Rassismus mitsamt seinen Privilegien- und Ausbeutestrukturen – bis hin zum Mord (in der Definition Jean Zieglers) – hinwegzusehen und diese Erkenntnisse zu übergehen.

Die bevorzugte Perspektive der Nordhalbkugel kann kaum angekratzt werden, wenn es mittels anderer Skandale gelingt, von diesem Anliegen einfach abzulenken. Die gut einstudierten Rituale von Schulddiskursen hier in Deutschland erfüllen diese Funktion – gewollt oder auch ungewollt, aber effektiv. Zudem hat es etwas äußerst Verführerisches für die sich geläutert Fühlenden, die glauben wollen, dass es mit dem Kampf gegen Antisemitismus allein schon getan wäre – mit Selbstkritik und Aufklärung nach den Gräueln von Weltkrieg und Holocaust.

Da mag man nicht unbedingt vom deutschen Genozid an Nama und Herero hören, kann es gar als Relativierung von Nazi-Verbrechen abtun. Das Verführende ist die Entlastung durch Selbstidealisierung. Letztendlich ermöglicht die Wiederherstellung der eigenen Humanität durch (partielle) Aufarbeitung eine Schuldabwehr, indem man anderen nachweist, dass sie (ebenso) antisemitisch sind.

Diese Erhebung der einst Entlarvten über die noch nicht so Einsichtigen führt zum totalen Wohlfühleffekt der Selbstvergewisserung. Vielleicht auch nur ein Missverständnis, so bietet sich hiermit die effektive Möglichkeit zu weiterer (kultureller und wirtschaftlicher) Dominanz.

Die Regime im Süden (s.o.) mögen sich ihre Sicht der Dinge und ihr Wissen auf einem G7-Gipfel noch teuer abkaufen lassen, die Menschen dort schon lange nicht mehr. Nein, es ist nicht nur russische Propaganda, wenn die Propaganda des Westens nicht mehr verfängt – wenn der sich selbst idealisierende „Wertewesten“ jede Glaubwürdigkeit verliert ob des um sich greifenden Doppelmaßes wertegetriebener Außenpolitik“.

Für davon negativ Betroffene im Süden ist das vielleicht besser durchschaubar als für „die Guten“ im Norden. Entscheidend dabei ist, dass sich auch die Verlierer hier immer noch auf der Seite der Privilegierteren wähnen können.

Die Chance der Documenta15 wurde vertan. Nun helfen Personaldebatten die Verweigerung eines Perspektivwechsels und einer Perspektiverweiterung zu kaschieren, aber nachhaltig ist diese Art der Geschichtsklitterung nicht.