Elon Musk und die Doppelmoral der digitalen Zivilgesellschaft
Plattformen: Wie politische Polarisierung das Netz verändert. Was bedeutet es für die Demokratie, wenn die linke Zivilgesellschaft nur noch unter sich bleibt? Ein Kommentar.
Der reichste Mensch der Welt ist rechts. Dass Elon Musk die AfD auf seiner Plattform X als Deutschlands einzige Hoffnung bezeichnet hat, ist Wasser auf die Mühlen der oberflächlichen Mainstream-Linken.
Man könnte sich wohl kein stabileres Feindbild erträumen, als den Milliardär, der zuhause den demokratisch gewählten "Faschisten" Donald Trump unterstützt und im Ausland die Partei hofiert, welcher der "Faschist" Björn Höcke angehört.
Canceln für die Freiheit
Der Standpunkt des "reichen Wichsers" (Jan Böhmermann, selbst überzeugt Mainstream-links) ist zwar überhaupt nicht neu, hatte Musk doch bereits vor mehr als einem Jahr (!) gleichlautende Sympathiebekundungen mit jener Partei in die Welt hinausposaunt, welcher sich einige Rechtsextreme angeschlossen haben – und Umfragen zufolge noch immer ein knappes Fünftel aller deutscher Wähler. Aber:
Den inzwischen ein Jahr alten, großspurigen Ankündigungen des X-odus ("eXit") von Böhmermann und anderen aus der Gruppe der moralisch Unfehlbaren (weil schließlich gegen rechts, gegen den Kapitalismus) scheinen nun immer mehr Taten zu folgen.
Während sich manche, darunter etwa die SPD, eisern (wieder) dem Meinungskampf auf X stellen, haben sich andere, darunter der Deutschlandfunk oder das SPD-nahe Redaktionsnetzwerk Deutschland, aus der Meinungsmanege zurückgezogen.
Logisch – zumindest innerhalb des vom Autor dieses Beitrags bereits beklagten group-think der modernen (d.h. identitären) Linken –, dass alle, die jetzt noch auf X verweilen, statt die Plattform zu canceln, das Problem des Rechtsradikalismus verharmlosen. Wer nicht gegen Musk ist, ist für ihn. "If you’re not with us, you’re with the terrorists", wie ein moralisch gänzlich unfehlbarer Staatsmann einmal gesagt hat.
Verbieten heißt Heilen
"Menschen von gestern" konsequent ausgrenzen, hatte Böhmermann ja vor nicht allzu langer Zeit in aller satirischen Offenheit gefordert. Und klargestellt, dass auch unter seinen "followern" – ob nun bei X oder auf Mastodon – rein statistisch viele "ein bisschen doof" sind, und daher das Bedürfnis hegen, von ihrem "leader" den Platz auf der moralisch "richtigen Seite" zugewiesen zu bekommen.
Ach, hätte man Trump nur erschossen, wie Böhmermanns Witzeschreiber El Hotzo sich das gewünscht hatte. Wäre die AfD nur schon verboten, wie viele überzeugte Demokraten sich das wünschen. Alle Probleme in Deutschland hätten sich ganz bestimmt erledigt.
Nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch das der Kriminalität unter migrantischen Gruppen, bei dem es sich ja ganz offensichtlich um nicht mehr als eine Nebelkerze der Rechtsradikalen handelt. Und falls das zu kurz greift, muss toxische Männlichkeit das Problem sein, nicht die gelungene Integration in das anderswo niemals in Frage gestellte westliche Wertesystem.
Gut, um sich dem lästigen, offenbar mehr als ein bisschen doofen Wähler-Fünftel zu entledigen, müsste man andere Wege finden. Vielleicht lässt sich ("unsere") "Freiheit" ja etwas "alternativloser" gestalten, um mit der Bundeskanzlerin a.D. zu reden.
Schärfere Regeln könnten helfen, vielleicht so etwas wie eine parastaatliche Institution, die auf Sozialen Medien wie X Inhalte aufspürt, die – wo nicht eindeutig gesetzeswidrig, so doch aufgrund der moralischen Unbotmäßigkeit entfernt zu werden drohen. Aus den Augen, aus dem Sinn. So kann's doch gehen. Die "einfachen Antworten" nicht den Rechtspopulisten überlassen!
Am besten, noch bevor solche Inhalte Schaden anrichten können. Pre-bunking is king. Impfen statt kurieren. In Rumänien wäre es gar nicht erst zur Wahl von Călin Georgescu gekommen. Man hätte demokratische Wahlen endlich einmal in der richtigen Weise beeinflussen können.
Das Thema wollen wir aber gar nicht weiter ausführen, hat sich doch dankenswerterweise die europapolitische Beraterin von Martin Sonneborn (Die Partei) – tatsächlich: erschöpfend – dazu geäußert. Die dürfte – unabhängig von Georgescus Gesinnung – eigentlich nicht im Verdacht stehen, rechtsextrem zu sein. Allerdings hat sie es auf X getan. Also irgendwie dann doch?!
Der Anti-Christ der religiösen Linken
Alle Polemik beiseite: Rassismus, Rechtsextremismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, all das hat in einer idealen Gesellschaft nichts zu suchen (eine andere Frage ist hingegen, wie frei ein solcher Idealstaat sein kann).
Vor allem nicht – da kann man Böhmermann durchaus recht geben – als Ausprägung eines Freund-Feind-Denkens, das alle komplexen Verhältnisse ignorieren muss, um eine möglichst glatte psychologische Projektionsfläche zu schaffen. Fluchtursachen in einem mehr denn je destabilisierten Nahen Osten gehören definitiv dazu.
Diese Verhältnismäßigkeit, die die moralisch Einwandfreien mitunter zurecht einfordern, lassen sie an anderer Stelle aber vermissen. Der Dialog, der nach außen zwischen den politischen Lagern immer weniger geführt wird, müsste zuallererst im Inneren geführt werden, nämlich bevor die jeweilige Partei ihren unumstößlichen Standpunkt einnimmt.
Dialektisches Denken – egal, ob nun ein "linkes", "kulturmarxistisches" oder "neoplatonisches" Konzept – schützt gegen das eindimensionale Denken, über das sich Herbert Marcuse seinerzeit beklagte.
Die aktuell wieder alarmierten Beschwörer von Elon Musk als dem Anti-Christ der religiösen Linken – dessen Motive als ehemalig bekennender "Sozialist" (also: Linken?) aus ganz anderen Gründen kritisch hinterfragt gehören – verpassen es, sich die Frage zu stellen, was von dem, was derzeit in rechtspopulistischen Parolen mündet, im Kern wirklich problematisch ist.
Das zeigt sich zum Beispiel auch in der Kampagne, die das sehr X-kritische Watchblog netzpolitik.org kürzlich veröffentlicht hat.
Zivilgesellschaft nur für Ideologiekonforme
Bei netzpolitik.org hat man sich entschieden, die eigenen – durchweg legitimen Forderungen gegen einen technologisch aufgerüsteten Überwachungsstaat – mit Plakaten zu inszenieren, die "ironisch" auf den Rechtspopulismus Bezug nehmen.
In Fraktur-Schrift (Assoziation: Nationalsozialismus) heißt es auf einem zum Beispiel "millionenfach verschlüsseln", in Anlehnung an die AfD-Forderung "millionenfach abschieben".
Das Watchblog, das zahlreiche ausgezeichnete digitalisierungskritische Artikel veröffentlicht hat – aber keinen einzigen (!) zu den enorm brisanten Twitter-Files – und gegen "digitale Spaltung" eintreten will, zementiert so die physische Spaltung innerhalb der Bevölkerung. Politische Anliegen, die die Gesamtgesellschaft betreffen, werden so in den Hoheitsbereich einer moralisch überlegenen Linken gehoben.
Mehr oder weniger implizit sagen diese Plakate: Wer gegen Überwachung ist, muss das Gerede von den Abschiebungen mit dem Nationalsozialismus gleichsetzen. Für die, die sowohl Überwachung als auch Ausländerkriminalität für problematisch erachten (auch ohne gleich – schwachsinnigerweise – "millionenfach abschieben" zu wollen), bleibt kein Platz.
Damit sind wir wieder bei Marcuse. Was der mit seiner Kritik am "eindimensionalen Denken" aufbaute, hat er mit dem Konzept der "repressiven Toleranz" wieder eingerissen. Inklusion ist ein hohes Gut, außer es geht um Wähler der AfD. Die erreichen wir nicht mehr, müssen hoffen, dass sich das Problem demografisch erledigt.
Es ist traurig, aber vielleicht lässt sich die netzpolitik-Kampagne schlichtweg mit Klientelpolitik erklären. Die Kritik an Vorratsdatenspeicherung, Chatkontrolle und biometrischer Überwachung ist historisch eher "links" besetzt.
Historisch, denn dieses "alt-linke" Problembewusstsein droht ebenfalls einem demografischen Wandel zum Opfer zu fallen. Zum historischen Treppenwitz wird das ganze aber dann, wenn man bedenkt, dass die einstige zentrale Galionsfigur der Überwachungskritik Edward Snowden politisch eindeutig dem konservativen Lager zuzuordnen ist.
Würde die digitalkritische Zivilgesellschaft abgesehen von einem Elon Musk samt Twitter-Files heute noch einen Edward Snowden willkommen heißen? Ganz zu schweigen von dessen damaligem journalistischen Partner, dem Fox-News- und Tucker-Carlson-Gesprächspartner Glenn Greenwald?