Doppelstandards am europäischen Himmel
EU und Nato erbost über Zwangslandung von Zivilmaschine in Minsk. Bei ähnlichem Vorfall 2013 schwiegen sie. Damals waren Bündnispartner verantwortlich
Die erzwungene Landung einer Ryanair-Maschine in Belarus scheint nach vorliegenden Medieninformationen eine geplante Aktion gewesen zu sein, um des regierungskritischen Bloggers Roman Protasewitsch habhaft zu werden. Dimensionen und mögliche Konsequenzen dieses Vorfalls müssen zweifelsohne geklärt werden.
Dennoch erstaunt die Vehemenz der Reaktionen von Europäischer Union, EU-Staaten und Nato, vergleicht man sie mit den Bewertungen dieser Akteure, nachdem Nato-Staaten im Juli 2013 den damaligen bolivianischen Präsidenten Evo Morales zur Landung in Wien zwangen.
Im aktuellen Fall verurteilten beide Bündnisse – EU und Nato – die Zwischenlandung der Ryanair-Maschine mit harschen Worten. Ein Sprecher der EU kündigte an, das Thema werde auf die Agenda eines ohnehin geplanten Sondergipfels der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten am Montag und Dienstag dieser Woche gesetzt. Dabei könnte auch über Sanktionen gegen die politische Führung in Minsk beraten werden.
Zur Eskalation beitragen dürfte aktuell der Umstand, dass sich neben der EU auch die Nato als transatlantisches Militärbündnis zu Wort gemeldet hat. Dort sprach man von einem "ernsthaften und gefährlichen Vorfall". Man wählte damit – vielleicht auch, weil man es nicht anders gewohnt ist – einen militärischen Jargon, der sonst nur bei Luftraumverletzungen oder ähnlichen Zwischenfällen Anwendung findet. Nato und EU sprachen sich für eine internationale Untersuchung aus.
2013 hatten sich Nato-Staaten abgesprochen
Doch damit nicht genug:
- Deutschlands Außenminister Heiko Maas forderte "deutliche Konsequenzen". Der SPD-Politiker fügte an: "Dass ein Flug zwischen zwei EU-Staaten unter dem Vorwand einer Bombendrohung zur Zwischenlandung gezwungen wurde, ist ein gravierender Eingriff in den zivilen Luftverkehr in Europa."
- In Frankreich hatte das Außenministerium noch am Sonntag den Botschafter von Belarus einbestellt. In Paris sprach man von einem "inakzeptablen" Vorgang.
- Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell verlangte von der Führung in Minsk die sofortige Haftentlassung des Bloggers.
Auch wenn es im aktuellen Fall zu einer fragwürdigen Verhaftung gekommen ist und er wegen der Verwicklung einer zivilen Passagiermaschine rechtlich anders bewertet werden muss als der Morales-Zwischenfall 2013, ist der politische Doppelstandard offensichtlich.
2013 hatten sich mehrere Nato-Staaten – allen voran die USA, nachgeordnet dann Portugal, Frankreich, Italien und Spanien – abgesprochen, um den amtierenden Präsidenten Boliviens vom Himmel zu holen. Aus Bolivien und Südamerika wurde damals zumindest der Vorwurf erhoben, dass durch die kurzfristige Kettensperrung mehrerer nationaler Lufträume der Absturz des Morales-Jets zumindest billigend in Kauf genommen wurde.
Während die UNO die Rechtsverletzung klar – und wie häufig ohne weitere Konsequenzen – benannte, sahen die jetzt so empörten Akteure damals keinen weiteren Klärungsbedarf. Auch die Bundesregierung nahm die erzwungene Landung der Morales-Maschine damals gelassen. Auf eine Frage der Grünen-Bundestagsabgeordneten Ingrid Hönlinger antwortete ein Vertreter des Auswärtigen Amtes:
Die Verweigerung des Überflugs für den bolivianischen Präsidenten Evo Morales durch einige europäische Staaten Anfang Juli 2013 war weder Gegenstand von Gesprächen der Bundesregierung mit der US-amerikanischen Regierung noch Thema bei Kontakten mit den betreffenden europäischen Staaten
Antwort des Staatssekretärs Harald Braun vom 24. Juli 2013
Man mag einwerfen, dass es damals nicht zu einer Festnahme gekommen ist. Da gilt freilich nur, weil der Gesuchte, der US-Whistleblower Edward Snowden sich nicht bei Evo Morales an Bord befand.
So bewertete Evo Morales seine Zwangslandung in Wien 2013
Morales beurteilte den Zwischenfall im Telepolis-Interview Ende 2015 rückblickend übrigens so:
Evo Morales: Ich glaube, das war eine Strafaktion der USA und einiger europäischer Verbündeter. Sie hatten mir ja vorgeworfen, diesen jungen Aktivisten, Edward Snowden, an Bord zu haben. Ich war von den Erdöl exportierenden Staaten nach Russland eingeladen worden. Als alle Treffen vorbei und der Gipfel beendet war, reiste ich wieder ab, aber als wir nahe Lissabon landen wollten, war mir das nicht möglich, es wurde verboten. Auf einmal hieß es, wir dürften nicht nach Italien, auch nicht nach Frankreich.
Es blieb nur der Weg zurück nach Russland, und ich glaube, der Treibstoff hätte dafür nicht mehr gereicht. Also sagte ich: "Warum bitten wir Österreich nicht, uns wegen eines technischen Notfalls die Landung zu erlauben?" Glücklicherweise wurde uns das genehmigt und so konnten wir in Wien landen. Ich denke, dass uns Österreichs Präsident und Regierung das Leben gerettet haben.
Aber wie konnten die USA mit einem solchen Geheimdienstapparat - der CIA, dem Pentagon, der DEA und allem möglichen anderen - glauben, dass wir diesen Jungen an Bord gehabt hätten? Das kann ich nicht verstehen, denn am Ende geht es darum: Dass es dem Geheimdienstapparat der USA an Intelligenz fehlt.
Und noch eines glaube ich: Wenn Dilma (Rousseff, die Präsidentin Brasiliens) oder Cristina (Fernández der Kirchner, die Präsidentin Argentinien) oder etwa (Kolumbiens Präsident Juan Manuel) Santos geflogen wären und diesen Mann tatsächlich an Bord gehabt hätten, dann wäre niemand eingeschritten. Weil im Flugzeug aber ein Indio saß, musste man uns einschüchtern, damit wir von unserem Antiimperialismus ablassen. Es war eine Entführung der Präsidentenmaschine, so sehe ich das. Unser Delikt ist es, Antiimperialisten zu sein.
Natürlich haben sie uns später um Verzeihung gebeten, um Entschuldigung. Sie hätten es nicht gewusst, hieß es, als ob sie nicht gewusst hätten, dass die USA auch auf europäischem Territorium das Sagen haben. Anders war das ja nicht zu erklären. Nicht alle Europäer stehen unter der Fuchtel der US-Regierung. Aber es wäre wichtig, dass wir uns alle befreien und unsere Souveränität verteidigen, nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in Europa, zu dem ja auch Österreich gehört, das unser Leben gerettet hat.
Evo Morales
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