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Dracula und die Faschisten: Mit Christopher Lee im Lande des spanischen Diktators

No compteu amb els dits

Eine (etwas andere) Vampirgeschichte in zwei Teilen

Nach dem Willen der spanischen Regierung sollen die Gebeine des Diktators Francisco Franco nicht mehr im "Tal der Gefallenen" liegen, als zentrale Reliquie in einer monströsen Gedenkstätte zur Feier des Faschismus. Die noch für dieses Jahr geplante Umbettung des Leichnams hat in Spanien zu einer heftigen Kontroverse über den Umgang mit einer lange totgeschwiegenen Vergangenheit geführt. Der spanische Avantgarde-Film hat sich des Themas schon vor einem halben Jahrhundert angenommen und davor gewarnt, die Vampire in ihren Gräbern ruhen zu lassen. Mit von der Partie war ein Schauspieler, der als Graf Dracula weltberühmt geworden war: Christopher Lee.

Die Gruft des Vampirs

Eine karge Gebirgslandschaft. Wir befinden uns im Valle de los Caídos, dem "Tal der Gefallenen" in der Sierra de Guaddarama, einer Bergkette nördlich von Madrid. Auf einem der Gipfel steht ein Kreuz aus Beton, 152 Meter hoch und 46 Meter breit. Das höchste freistehende Kreuz der Welt. Ein Monument der Unterdrückung. Die Kamera nähert sich dem Betonkreuz gleich mehrfach an: durch einen Schwenk über die Bergkette, durch einen Zoom, per Autofahrt durch den Föhrenwald unterhalb des Monuments.

Es gibt keine Einstellung, in der das Betonkreuz nicht bedrohlich wirkt. Das letzte Stück legt man zu Fuß zurück, immer mit dem Blick von unten nach oben. Wenn man das Auto durch eine Pferdekutsche ersetzt könnte das aus einem Hammer-Horrorfilm sein: Die Annäherung an Schloss Dracula. Überraschend daran ist, dass auf dem Berg nicht eine steinerne Burg thront, sondern ein Kreuz, das Symbol des christlichen Glaubens, mit dem man Vampire bekanntermaßen in die Flucht schlägt. Der vermeintliche Widerspruch wird sich im Laufe dieser Geschichte noch auflösen.

Die Gruft des Vampirs (0 Bilder) [1]

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Alles ist monumental an diesem Ort, vom mit den vier Evangelisten und mit Darstellungen der vier Kardinaltugenden umrahmten Sockel des Kreuzes bis zum Eingangsportal der Basilika, über die das Riesenkreuz zu wachen scheint. Francisco Franco, der durch einen Militärputsch an die Macht gekommene Diktator, ließ die Gedenkstätte nach dem Ende des Bürgerkriegs von 20.000 Zwangsarbeitern errichten - von politisch Andersdenkenden, die er in Konzentrationslagern gefangen hielt und denen eine Verkürzung der Haft versprochen wurde. Mindestens 15 Menschen starben bei der lebensgefährlichen Schufterei, vermutlich mehr.

Das "Tal der Gefallenen" ist ein riesiges Massengrab. Knapp 34.000 Tote des Bürgerkriegs wurden hier beigesetzt oder verscharrt, teils anonym und teils identifiziert, Anhänger des Diktators, aber auch Republikaner, um den Eindruck abzuschwächen, dass an diesem Platz in 1000 Metern Höhe dem Faschismus und der Diktatur gehuldigt wird. Kernstück der Anlage ist die für den Bau der Basilika in den Granitberg getriebene Kaverne. Mit 262 Metern ist die Felsbasilika die längste Kirche der Welt, oder zumindest steht das so in den Reiseführern für die Touristen, die gern hierher kommen, weil das Escorial nicht weit entfernt ist, mit der Grabstätte von Philipp II. (auch ein Mann mit finsterer Vergangenheit).

Nachdem sie die Stufen zum Eingang überwunden hat nimmt uns die Kamera mit hinein in die Basilika. Man muss nicht selber dagewesen sein um zu ahnen, dass das ein sehr kalter Ort ist. Damit ist nicht so sehr die Temperatur gemeint als vielmehr die Atmosphäre. Hier ließ ein Kriegsverbrecher in 19-jähriger Bauzeit (von 1940 bis 1959) ein Monument errichten, das vorgibt, dem Lobpreis Gottes und der Jungfrau Maria zu dienen und doch den Sieg des faschistischen Diktators über die Republik und die Demokratie feiern sollte, am besten in alle Ewigkeit, mit der katholischen Kirche als Komplizin, eingebunden in Francos Herrschaftssystem durch die Ideologie des Nationalkatholizismus.

Die Kamera geht tiefer hinein in diesen Gruselbau, hin zum Hochaltar und wie magisch angezogen von einer Grabplatte, über der die Mönche aus dem zur Gedenkstätte gehörenden Benediktinerkloster jeden Tag die Eucharistie feiern, unter einer 42 Meter hohen Kuppel. Die Grabplatte ist das beliebteste Selfie-Motiv der Touristen. Eine Inschrift verrät, wer hier bestattet wurde: Francisco Franco, auch als Generalísimo (ein altertümliches Wort für Oberbefehlshaber) bekannt. Er selbst führte am liebsten den Titel por la gracia de Dios, Caudillo de España (durch die Gnade Gottes, Oberhaupt von Spanien).

Später in dem Film, den wir gerade sehen, wird die nicht enden wollende Macht- und Ämterfülle dieses Mannes aufgezählt, der im Zentrum des Franquismus stand, eines ganz auf ihn und seine Person zugeschnittenen Herrschaftssystems. So einer, der für sich selbst das Gottesgnadentum beanspruchte, ist nicht einfach weg, wenn er gestorben ist. Man wird das Gefühl nicht los, dass unter diesem Stein mehr als ein paar alte Knochen liegen. Im Vampirfilm würde sich bei Sonnenuntergang die Platte heben und Dracula käme aus seiner Gruft, auf der Suche nach neuen Opfern und frischem Blut.

Skandal um "Viridiana"

Spanien wurde seinen Diktator nicht durch eine Revolution los, sondern durch das Entschlafen eines kranken alten Mannes, am 20. November 1975. Das war ein Segen und doch auch ein Fluch, weil das Hinscheiden des Caudillo keinen radikalen Bruch mit der Vergangenheit verlangte und den "Pakt des Schweigens" beförderte, in dem man sich einrichtete, so gut es eben ging. Über den Bürgerkrieg und die anschließende Diktatur redete man lieber nicht. Auf ein gnädiges Vergessen hoffte wohl die Übergangsregierung, die nach Francos Tod beschloss, den Streit um die letzte Ruhestätte zügig zu beenden, indem sie Fakten schuf und die Leiche in das Valle de los Caídos überführen ließ.

In den ersten Monaten nach Francos Tod drehte der Katalane Pere Portabella ein Werk mit einem Titel, der fast so sperrig ist wie der Film lang: Informe general sobre algunas cuestiones de interés para una proyección pública (Allgemeiner Bericht über einige interessante Fragen für eine öffentliche Vorführung). Informe general ist eine knapp dreistündige Reflexion über das Spanien nach Franco. Der Film beginnt mit fünf gruseligen Minuten, dem soeben beschriebenen Besuch im "Tal der Gefallenen". Für Portabella war es nur logisch und konsequent, einleitend die Gruft des Vampirs aufzusuchen, weil ihm das Genre des Horrorfilms dabei geholfen hatte, in Zeiten einer strengen Filmzensur Kritik am Regime zu üben.

Eine besondere Rolle hatte Graf Dracula dabei gespielt. Also war es folgerichtig, das Grab des Blutsaugers in Augenschein zu nehmen und sich zu vergewissern, dass er wirklich tot war. Aber was heißt das schon bei einem Widergänger und Schattenwesen, das an der Grenze zwischen Leben und Tod durch die Kultur spukt? Informe general ist denn auch ein Film aus einem Zwischenreich, in dem die Diktatur noch nicht ganz gestorben ist und man sich in langen Gesprächsrunden fragt, ob und wie eine lebendige Demokratie aus ihr erwachsen kann.

Informe general ist außerdem der Abschluss einer informellen Vampirtrilogie, an deren Anfang die Zusammenarbeit Portabellas mit Christopher Lee stand. Die beiden drehten zwei Filme, die Lee für die außergewöhnlichsten seiner Karriere hielt. Da wird man ihm kaum widersprechen, wenn man sie gesehen hat. Leider ist das zu selten der Fall. In ihrer Andersartigkeit sind Cuadecuc Vampir und Umbracle so faszinierend wie eh und je. Und unheimlich sind sie obendrein. Sigmund Freud hätte sie geliebt. Seine Traumdeutung wäre die ideale Begleitlektüre. Selbstverständlich kann man sie auch ohne sehen.

Skandal um "Viridiana" (0 Bilder) [3]

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Die Vorgeschichte führt zurück in die frühen 1960er, als Franco begann, für die Aufnahme seines rückständigen und finanziell angeschlagenen Landes in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu werben (die Vorläuferorganisation der EU). Spanien sollte sich als Kulturnation präsentieren, und dabei helfen sollte Luis Buñuel, der international renommierteste spanische Regisseur. Das Kulturministerium lud ihn ein, aus dem mexikanischen Exil in die Heimat zurückzukehren und einen Film zu drehen. Buñuel nahm an und schlug einen harmlos wirkenden Stoff vor: Die junge Novizin Viridiana besucht vor ihrem Eintritt in einen Nonnenorden das Landgut ihres Onkels.

Buñuel drehte dann aber kein Erbauungsstück über Frömmigkeit und das Leben auf dem Lande, sondern einen filmischen Albtraum über einen reaktionären Katholizismus, mit dem er die vermeintlichen Werte und ehrwürdigen Traditionen angriff, derer sich die Diktatur bemächtigt hatte, um ihre Herrschaft zu legitimieren. Das war ganz im Sinne von Pere Portabella, der 1959 die Produktionsfirma Films 59 gegründet und gleich zwei eindrucksvolle Filme hergestellt hatte, Carlos Sauras Die Straßenjungen und Marco Ferreris Der Rollstuhl. Bei Viridiana war er als Co-Produzent mit dabei.

Als den Franquisten dämmerte, was sie sich da eingehandelt hatten, hätten sie Viridiana [5] am liebsten spurlos entsorgt. Das erwies sich als illusorisch, als eine über die Grenze geschmuggelte Kopie 1961 beim Festival von Cannes lief und mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Die Hilflosigkeit der Düpierten zeigte sich bei der Preisverleihung. Buñuel war nach Mexiko zurückgereist. Den Löwen nahm ein überforderter Vertreter der spanischen Regierung entgegen, der nicht wusste, was er tun sollte und seinen Posten verlor, als er wieder in Madrid war. Weitere Rücktritte folgten.

Buñuel hatte geliefert, nur nicht so wie erwartet. Viridiana wurde vom Vatikan als blasphemisch eingestuft (wegen Vergewaltigung, Selbstmord, Nekrophilie, einer Ménage à trois etc pp.) und in Spanien, für das er einen der begehrtesten Filmpreise der Welt gewonnen hatte, totgeschwiegen wie so vieles in dem Land. Des Regisseurs konnte man nicht mehr habhaft werden. Der Produzent des Films war noch da. Portabella wurde der Reisepass entzogen, weil er Schande über Spanien gebracht habe. Er erhielt ihn erst zurück, nachdem Franco gestorben war.

Entführung in Barcelona

Ein Jahr nach dem Buñuel-Desaster starteten die Franquisten einen neuen Anlauf. Sie pumpten nun Geld in die marode Filmindustrie und erhofften sich im Gegenzug das kulturelle Prestige, das die Regierung für ihre EWG-Kampagne dringend brauchte. Begleitend gab es eine moderate Liberalisierung der Zensurvorschriften, weil mit dem, was reaktionäre Katholiken auf der Leinwand sehen wollten, in Westeuropa kein Staat zu machen war. Sogar ein wenig Kritik an den herrschenden Verhältnissen war erlaubt, wenn dadurch Filme entstanden, mit denen das Regime dem Ausland das Bild eines modernen und europäischen Spanien präsentieren konnte.

Unter der Franco-Diktatur musste erst das Drehbuch genehmigt werden und dann der fertige Film. Das Verfahren war völlig willkürlich. Beamte entschieden nach eigenem Ermessen oder folgten Regeln, die je nach Bedarf formuliert und dann wieder verworfen wurden. Um für mehr Klarheit zu sorgen wurde 1963 ein Katalog mit einheitlichen Zensurvorschriften erstellt, der trotz einiger Lockerungen im Wesentlichen bis zu Francos Tod so blieb. Hintergrund waren die vom katholischen Laienorden Opus Dei angestoßenen Reformen, die der oft chaotisch operierenden Wirtschaft eine allgemein verbindliche, regelbasierte Grundlage geben sollten.

Entführung in Barcelona (18 Bilder) [6]

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Umbracle

In Portabellas Umbracle stellt uns der Kritiker Román Gubern (Spezialgebiete: Genrefilme, Comics, Luis Buñuel) den Zensurkatalog kurz vor. Verboten war beispielsweise die "würdelose oder abwertende Darstellung politischer Ideologien", aber das galt nur, wenn Kritik am Franquismus geübt wurde. Verboten war alles, was die Verteidigungsfähigkeit des Landes schwächen konnte; alles, was gegen die Dogmen und die Moral der katholischen Kirche gerichtet war; alles, was den Status quo und den Staatschef in Frage stellte; und alles, was nicht in katholisches Weltbild passte: Suizid, Ehebruch, Abtreibung, Geburtenkontrolle, Scheidung, außerehelicher Sex, Prostitution und so weiter.

Artikel 18 hielt fest, dass Filme zu verbieten waren, die durch eine Ansammlung von Szenen "eine lüsterne, brutale, vulgäre oder morbide Atmosphäre schaffen", auch wenn an den einzelnen Szenen, für sich genommen, nichts zu beanstanden war. So konnte man Filme verbieten, denen kein direkter Regelverstoß nachzuweisen war. Der Gipfel der Heuchelei ist für Gubern Artikel 12, der "Bilder oder Szenen mit Grausamkeiten gegenüber Menschen oder Tieren oder Bilder des Schreckens" verbietet.

Gubern findet das zynisch, "weil die Polizei in diesem Land auf den Straßen terroristische Methoden anwendet, brutal gegen Bürger, Arbeiter, Studenten vorgeht, und doch verbietet es diese Heuchelei, auf einer Leinwand die Brutalität und den Terror zu zeigen, den [das Regime] selbst praktiziert." Bevor Gubern über die Zensur spricht kauft sich Christopher Lee eine Zigarre, geht aus dem Tabakladen hinaus auf die Straße und sieht, wie Geheimpolizisten einen Mann in ein Auto zerren und verschleppen. Offen bleibt, ob Lee ein Tourist ist oder der Auftraggeber, der eine von ihm angeordnete Aktion beobachtet.

Je schlimmer die real ausgeübte Gewalt, desto weniger darf sie in einem Film gezeigt werden: Nach dieser Logik des Zensurkatalogs wurde die - durch die künstlerische Verfremdung sowohl auf das Wesentliche wie auf das Ungeheuerliche reduzierte - Entführung durch die Wahl des Schauplatzes zum umso größeren Regelverstoß. Sie spielt sich in Barcelona ab, der Hauptstadt der Katalanen. Im Bürgerkrieg hatten die Feinde der Republik in Katalonien besonders schlimm gewütet. Danach ging Franco mit einer erschreckenden Ruchlosigkeit gegen alles vor, was katalanisch war. Die Eigenständigkeit der katalanischen Kultur war ihm ein Dorn im Auge, den es zu beseitigen galt.

Besiegt, aber nicht bezwungen

Die Franco-Diktatur wirkt lange nach. Die Unterdrückung ihrer Kultur ist einer der Gründe dafür, warum sich viele Katalanen von Spanien abspalten wollen. Ein einschneidendes Ereignis für die katalanischen Cineasten war eine Konferenz im Badeort Sitges (eine halbe Autostunde von Barcelona entfernt) im Oktober 1967. Dort trafen sich Studenten, Kritiker und junge Filmemacher, um über den Zustand und die Zukunft des spanischen Kinos zu diskutieren. So etwas hatte es seit den "Conversaciones Cinematográficas de Salamanca" im Jahr 1955 nicht mehr gegeben.

Damals hatte der Regisseur Juan Antonio Bardem erklärt, dass das spanische Kino "politisch nutzlos, gesellschaftlich falsch, intellektuell niedrigstehend, ästhetisch zu vernachlässigen und industriell notleidend" sei. Salamanca war die Gründungsveranstaltung des "Neuen spanischen Films". Der Aufbruch war von einer gehörigen Portion Pragmatismus begleitet. Mit eingeladen waren der Generaldirektor für Film und Theater José María García Escudero und José Luis Sáenz de Heredia, Francos Schwager, der 1942 den Propagandafilm Raza gedreht hatte, basierend auf einer von Franco höchstpersönlich verfassten Erzählung (in Dialogform) über die Rettung des Vaterlandes durch den Faschismus.

Besiegt, aber nicht bezwungen (21 Bilder) [8]

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No compteu amb els dits

Bardem und andere forderten mehr staatliche Unterstützung und sprachen sich dafür aus, die Qualität des spanischen Films im Rahmen des Möglichen zu steigern, also innerhalb der vom Regime vorgegebenen Bedingungen, statt Luftschlösser zu bauen. Deshalb verlangten sie nicht nur mehr Freiheiten für Filme, die ein realistisches Bild der Gesellschaft zeichneten, sondern auch eine Zensur mit klaren Richtlinien (was 1963 verwirklicht wurde), damit man wusste, in welchem Rahmen man sich zu bewegen hatte. Wenn schon Zensur, dann bitte eine solche, auf die man sich einstellen konnte, weil es feste Regeln gab.

Den Cineasten, die sich zwölf Jahre danach in Sitges versammelten, war das viel zu angepasst. Die Konferenz wurde rasch zur Gegenveranstaltung zu Salamanca und zur Absage an das neue, mit Madrid assoziierte spanische Kino, das sich damals konstituiert hatte. Der evolutionäre Ansatz, dem zufolge nach und nach alles besser werden würde, wenn man sich mit kleinen Schritten begnügte und die Toleranz des Regimes nicht zu sehr beanspruchte, führte für die Konferenzteilnehmer nur in die Selbstzerstörung. Einer der Organisatoren, der Drehbuchautor und Regisseur Joaquín Jordà, verlas einen Text, der zum Gründungsmanifest der "Barcelona-Schule" wurde.

Unter den Bedingungen der franquistischen Zensur sei es sinnvoller gewesen, meinte Jordà später, einen Film über einen Billardball zu drehen als über den Bürgerkrieg, weil man über einen weißen Ball mehr Wahres habe sagen dürfen als über den Krieg. In Sitges forderte er ein alternatives Kino, das sich selbst finanzierte, statt auf staatliche Zuwendungen angewiesen zu sein; ein Kino, das außerhalb der Zensurvorschriften operierte, das von Leuten gemacht wurde, die ihr Handwerk nicht an den staatlichen Filmschulen gelernt hatten und das sich Vertriebswege suchte, die nicht staatlich kontrolliert wurden.

In Abkehr von Madrid und dem dort propagierten Sozialrealismus sollte dieses Kino avantgardistisch sein und die Repräsentationsformen des Mediums hinterfragen. Was das bedeuten konnte ließ sich beispielsweise anhand von No compteu amb els dits erkunden, der in Sitges zum ersten Mal gezeigt wurde. Mit "Zähle nicht mit den Fingern", entstanden in Zusammenarbeit mit dem katalanischen Dichter Joan Brossa, meldete sich der seit Viridiana verfemte Pere Portabella als engagierter Filmemacher zurück, experimentierte mit neuen Erzählformen und gab gleich mit dem ersten Satz seines ersten Films seine Visitenkarte ab: "Besiegt … aber nicht bezwungen."

Das Regime fühlte sich durch Sitges so sehr herausgefordert, dass zur Abschlussveranstaltung die Polizei erschien und Verhaftungen vornahm. Escudero, dem für den Film zuständigen Generaldirektor, wurde vorgeworfen, zu liberal zu sein; er verlor seinen Posten. In Barcelona wurde das Filmmuseum geschlossen. An der staatlichen Filmhochschule durfte vorübergehend nicht mehr unterrichtet werden. Die harsche Reaktion des Regimes zeigt, dass die Avantgarde mehr ist als eine esoterische Spielerei. Während sich der Kommerzfilm arrangiert kann sie eine subversive Kraft entfalten, die Diktatoren fürchten.

Ich will ihn tot

Portabella etablierte sich nach Sitges als einer der wichtigsten Vertreter der Barcelona-Schule, dies allerdings im Untergrund. Er und seine Avantgarde-Freunde hatten nicht die Absicht, Genrefilme zu drehen, und doch war das europäische Genrekino ihr Verbündeter. Durch die Finanzspritze des Regimes war Geld in Umlauf. Das lockte mitunter recht dubiose Produzenten an, die internationale Co-Produktionen auf die Beine stellten und in Spanien Filme drehen ließen, die im Wertekanon des Bildungsbürgertums ganz weit unten rangierten: Spaghetti- bzw. Paella-Western, Gialli, Horrorfilme.

Durch die gestiegene Produktion kamen mehr von solchen Filmen in die spanischen Kinos. Wenn Zuschauer Geld für Sex und Gewalt auf der Leinwand ausgeben ist der Verdacht nie fern, dass da niedrige Triebe befriedigt werden. Als der französische Kritiker Marcel Oms nach Francos Tod eine erste Bilanz zog nannte er einen anderen Grund für die Popularität dieser Filme in Spanien. Oms war überzeugt, dass sich durch den blutsaugenden Vampir oder den einsamen Cowboy für ein zeitgenössisches spanisches Publikum automatisch eine politische, anti-franquistische Deutungsmöglichkeit eröffnete, weil Graf Dracula immer ein Hauch von Repression umweht, den Pistolero hingegen von Rebellion.

Ich will ihn tot (9 Bilder) [10]

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Umbracle

Portabella bringt in Umbracle beides zusammen. Christopher Lee fährt vor einem Kino eine Rolltreppe hoch. Im Kino läuft ein Italo-Western [12] mit Craig Hill und Lea Massari. Der Held (Django heißt er nur in der deutschen Synchronfassung) begibt sich nach der Ermordung seiner Schwester auf einen Rachefeldzug. Indem er die Schuldigen zur Strecke bringt leistet er, eher nebenbei, einen Beitrag zur Beendigung des (amerikanischen) Bürgerkriegs, den Waffenhändler in die Länge ziehen wollen. Titel des Films: Ich will ihn tot. Wer da wohl gemeint sein könnte, in Barcelona zu Zeiten der Franco-Diktatur?

Eine Inspirationsquelle für die Barcelona-Schule war die Nouvelle Vague, und da besonders Jean-Luc Godard, der das Erzählkino in seine Einzelteile zerlegte und neu zusammensetzte. Man merkt das schon am gemeinsamen Hang zum Anzitieren anderer Filme. Die Funktion des Zitats ist aber nicht dieselbe. Bei der Nouvelle Vague sind Hinweise auf Fritz Lang, Alfred Hitchcock und Howard Hawks Liebeserklärungen an diese Regisseure und ihr Werk. Wenn Christopher Lee an einem Ich will ihn tot-Plakat vorbeigeht soll uns das nicht signalisieren, dass Portabella ein Fan des Regisseurs Paolo Bianchini ist.

Die Botschaft ist eine andere. Das Genrekino mit seinen leicht wiedererkennbaren Bilderwelten und Handlungsabläufen war wie geschaffen für regimekritische, notgedrungen mit Anspielungen und Assoziationen arbeitende Filmemacher. Die Bedeutung steckt in der Variation vertrauter Elemente und deren Übertragbarkeit auf aktuelle Zustände, was für Zensoren schwer fassbar ist. Sehr gewinnbringend kann man dazu Vent d’est (1969) sehen, Godards Dekonstruktion des von den ’68ern verehrten Italo-Westerns mit Gian Maria Volonté (der Chef der Banditen in Töte Amigo, Damiano Damianis Western über Revolution und Gewaltherrschaft) und Daniel Cohn-Bendit.

Wurmfortsatz

Auf die Frage, wie man Filme außerhalb der herkömmlichen Strukturen finanzieren konnte, hatte die Avantgarde lange vor der Barcelona-Schule eine Antwort gegeben: Man sparte Kosten, indem man sich bereits vorhandenes Material aneignete. Am bekanntesten ist Rose Hobart [13] (1936), ein Collagefilm von Joseph Cornell, der eine Kopie des Südseeabenteuers East of Borneo [14] in Stücke schnitt, den Ton entfernte und eingefärbte Teile zu einer Hymne auf die Hauptdarstellerin montierte. Portabella machte die Aneignungstechnik nicht einfach nach, er hob sie auf ein neues Level.

Die Gelegenheit dazu ergab sich, als er von einem gemeinsamen Freund erfuhr, dass Jesús "Jess" Franco (mit dem Diktator nicht verwandt) plante, in Barcelona einen Dracula-Film zu drehen. Der Freund stellte den Kontakt her und Portabella erzählte Franco von seinem Plan: Er wollte die Dreharbeiten zu El conde Drácula mit einem eigenen Kamerateam begleiten und selbst einen Film machen, der schließlich den Titel Cuadecuc Vampir erhalten sollte. Cuadecuc ist, Portabella zufolge, das katalanische Wort für "Schwanz des Wurmes" und es bezeichnet auch das letzte, nicht belichtete Stück auf einer Filmrolle. Sagen wir also Wurmfortsatz dazu.

Das passt gut, weil Portabella einen Stachel ins Fleisch der Diktatur treiben wollte. Der Wurmfortsatz des Blinddarms, der nur auf sich aufmerksam macht, wenn er entzündet ist und dann operativ entfernt wird, galt lange Zeit als ein durch die Evolution überflüssig gewordenes Rudiment. Neuere Forschungen legen nahe, dass er doch eine Funktion hat. Offenbar dient er nützlichen Darmbakterien als Zufluchtsort und hilft bei der Stärkung des Immunsystems. Leute mit "Blinddarm" leiden seltener unter Durchfallerkrankungen als die ohne. Der Wurmfortsatz als Mittel der Immunisierung gegen Diktatoren und Antidemokraten - das ist doch eigentlich ein schöner Gedanke.

Wurmfortsatz (20 Bilder) [15]

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Cuadecuc

Cuadecuc wird üblicherweise als "avantgardistisches Making of" charakterisiert. Das stimmt so nicht. Man sieht zwar, was sonst verborgen bleibt: Jess Franco gibt den Darstellerinnen Regieanweisungen und ist natürlich mit seiner Filmcrew dabei, wenn die Schauspieler agieren; Harker flieht durch eine Kulissenwand aus Schloss Dracula; Soledad Miranda raucht noch eine letzte Zigarette, bis der Vampir kommt. Für Portabella gehört das aber mit zur Geschichte. Die Trennung zwischen dem Illusionskino und dem dafür erforderlichen Apparat, an die wir uns gewöhnt haben, weil die Filmindustrie den Herstellungsprozess gern für sich behält, akzeptiert er nicht (die von Produktionsfirmen georderten Making ofs unserer Tage sind Werbemaßnahmen und bieten auch nur Illusionen).

Portabella wollte nicht das Entstehen eines Filmes dokumentieren, sondern seine eigene Version eines Vampirfilms drehen, mit einem Star und allem Drum und Dran, dies aber so, dass er nicht selbst dafür bezahlen musste, denn dazu fehlte ihm das Geld. Damit schuf er ein Stück Underground-Kino, obwohl er sich an gewisse Regeln hielt. Den zuständigen Stellen legte er weder ein Drehbuch (wie auch?) noch den fertigen Film zur Genehmigung vor. Trotzdem bat er höflich um Erlaubnis, nur eben nicht bei den Zensoren. Dabei kam ihm vermutlich zugute, dass er mit seiner Anfrage auf zwei Herren stieß, die einen verwandten Geist in ihm erkannten.

Den Jonathan Harker in Francos Nachts, wenn Dracula erwacht (deutscher Verleihtitel) spielt Fred Williams, der mit bürgerlichem Namen Friedrich Wilhelm Löcherer heißt. Im Audiokommentar der Kinowelt-DVD erzählt er, dass er sich von den acht Filmen, die er mit Jess Franco drehte, nur an drei oder vier erinnern könne. Der Rest seien "Schnipseleien" gewesen. Wenn Franco einen Film machte drehte er zwischendurch gern mal Material, das danach in ganz anderen Filmen auftauchte, ohne dass er Darsteller und Geldgeber vorab informiert oder gar ihr Einverständnis eingeholt hätte. Das waren die "Schnipseleien".

Francos Produzent, der umtriebige Harry Alan Towers, hatte eine Vorliebe für Stoffe mit abgelaufenem Urheberrecht und war sehr viel unterwegs, immer auf der Flucht vor Gläubigern und manchmal auch vor der Polizei, die unter anderem wegen des Verdachts gegen ihn ermittelte, einen Prostitutionsring bei den Vereinten Nationen in New York zu betreiben. Fred Williams erinnert sich, dass Towers ab und an am Drehort erschien und sich meistens hinter einer Säule versteckte, um lästigen Fragen nach nicht gezahlten Gagen auszuweichen. Schade, dass ihn Portabella dort nicht gefilmt hat.

Franco und Towers war Portabellas Plan sympathisch, darum ließen sie ihn machen. Francos Angebot, über den Dracula-Stoff und mögliche Ansätze für eine Verfilmung zu reden, lehnte Portabella dankend ab. Das hätte die Eigenständigkeit seines Projekts gefährdet. Man könnte sagen, dass er Francos El conde Drácula vampiristisch aussaugte, doch das trifft es so wenig wie die manchmal vorgetragene Theorie, Portabella habe Cuadecuc gemacht, um Franco vorzuführen und zu zeigen, was aus Sicht eines Künstlers von Filmen wie den seinen zu halten sei, nämlich gar nichts.

Cuadecuc ist einer von zwei parallel entstandenen Vampirfilmen, die dadurch verbunden sind, dass sie zur selben Zeit und am selben Ort gedreht wurden. Jeder kann für sich selbst entscheiden, welcher von beiden der bessere ist. Ich würde ohne zu zögern Cuadecuc nehmen - nicht weil ein Avantgardefilm Kunst ist und Jess Franco die Ikone des Trashkinos, sondern weil Portabella den viel unheimlicheren Film gemacht hat und Franco - von einigen atmosphärisch sehr gelungenen Szenen einmal abgesehen - offenbar nicht bei sich selbst war, als er El conde Drácula drehte.

Durch das für seine Verhältnisse stattliche Budget war Franco kommerziellen Zwängen unterworfen, die er nicht gewohnt war. Andererseits war nur ausreichend Geld für die Szenen mit Christopher Lee vorhanden, was der Rest des Films nicht verbergen kann. Towers hatte Lee mit dem Versprechen nach Barcelona gelockt, die erste werkgetreue Adaption von Bram Stokers Dracula-Roman zu produzieren. Daraus wurde nur bedingt etwas, doch Franco musste sich an bestimmte Vorgaben halten, was ebenfalls nicht sein Ding war. Seine eigene, ihm gemäße Version des Stoffes verfilmte er erst im Jahr darauf, mit Soledad Miranda als lesbischer Gräfin in Vampyros Lesbos.

Dienerin im Leopardenmantel

Bedingt durch die unorthodoxen Produktionsumstände kann Portabella nur zeigen, was am Set von Jess Franco zu sehen war. Klaus Kinski als Renfield kommt in Cuadecuc nicht vor, weil seine Szenen in der Gummizelle später gedreht wurden, in einem Filmatelier in Pisa. Dracula und Van Helsing sieht man nie in derselben Einstellung. Herbert Lom scheint erst in Barcelona eingetroffen zu sein, als Christopher Lee schon wieder weg war. Bei Franco leidet die große Konfrontation der beiden darunter, dass die getrennt voneinander entstandenen Einstellungen mit Dracula und Van Helsing schlampig montiert sind und kein Ganzes ergeben. Es wirkt, als agierten die Widersacher in verschiedenen Filmen.

Portabella hat damit kein Problem, weil er ohnehin die Risse in der Illusion zeigen will. In Cuadecuc präpariert erst der Requisiteur den Fußboden, ehe Van Helsing den Vampir mit einem brennenden Kreuz auf dem Teppich in die Flucht schlagen kann. Die Schauspieler werden ebenfalls zu Komplizen beim Auseinandernehmen der Illusionsmaschine. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen Van Helsing und Dracula zwinkert uns Maria Rohm (Mina) kurz zu. Damit lässt sie die Luft raus aus der aufgeblasenen Szene, ehe es weitergeht wie gehabt und Van Helsing die schwache Frau in seine starken Arme nimmt.

Dienerin im Leopardenmantel (26 Bilder) [17]

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Cuadecuc

Cuadecuc will nicht mit El conde Drácula verglichen werden. Ein Vergleich ist trotzdem aufschlussreich. Den dümmsten Satz der Franco-Version spricht Herbert Lom. Mina serviert Van Helsing den Kaffee. Sie werde ihm fehlen, sagt der gütige Doktor, denn: "Sie sind nicht nur Pflegerin, sondern auch Haushälterin geworden" (oder, noch frauenfeindlicher in der englischen Fassung: Dienerin). Auch Portabella zeigt den Serviervorgang, dies aber in zwei Teilen. Mit dem Tablett auf dem Arm geht Mina zur Schiebetür vor Van Helsings Büro. Auf der anderen Seite der Tür trägt sie wie durch Zauberei (Filmschnitt) einen Leopardenmantel.

Mina Murray ist jetzt nicht mehr Mina Murray, die Verlobte Jonathan Harkers, sondern der Filmstar Maria Rohm und die Gattin des Produzenten Harry Alan Towers, die Herbert Lom das Kaffeeservice für die nächste Szene bringt. Alle mussten mithelfen bei dieser Produktion, die nur so tat, als sei viel Geld vorhanden (solange Lee in Barcelona war). Portabella treibt sein Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit und löst zugleich die üblichen Hierarchien auf. Das folgende Gespräch der Vampirjäger beobachtet Rohm als Randfigur. So weit, so traditionell. Wenn die Männer Kriegsrat halten sind die Frauen nur Staffage.

Andererseits bleibt Rohm mit irritierender Gelassenheit neben Lom/Van Helsing stehen, statt sich nach ihrer Betätigung als Requisiteurin (oder war das Hereinbringen des Tabletts eine Probe für die nächste Szene?) diskret zurückzuziehen. Die Erklärung ist denkbar einfach. Rohm hat sich außerhalb des von Francos Kameramann Manuel Merino ausgewählten Bildausschnitts postiert, wird also in Nachts, wenn Dracula erwacht nicht zu sehen sein. In Cuadecuc steht sie mit im Bild. Die Frau im Pelzmantel bringt Unordnung in die geregelten Abläufe der Vampirgeschichte. Mysteriös bleibt die Klappe mit dem Filmtitel "El Proceso". Ob die noch von Orson Welles ist, Francos Idol (und Regisseur von Der Prozess)?

Film als Geisterbeschwörung

Auch Vampire sind bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterworfen. Dracula hat kein Spiegelbild und deshalb keine Spiegel in seinem Schloss. Für solchen Vampirologenkram hatte Jess Franco keinen Sinn. Bei seinem Dracula hängt ein Spiegel an der Wand. Harker erschrickt, weil er sich nur selber darin sieht und nicht den Grafen direkt neben ihm. Das vermittelt uns - ein wenig aufdringlich - die Botschaft, dass der Mensch sein eigenes Monster ist und Dracula die Projektion unserer Wünsche und Ängste. Portabella übernimmt das, gibt aber ein Klopfgeräusch dazu und der Sache eine neue Wendung.

Bei ihm entdeckt man etwas später das Filmteam im Spiegel, wie Schemen aus einer Geisterwelt. Ob von da das Klopfen kam, aus der Welt hinter dem Spiegel? Durch die Montage denkt man, dass sich Harker/Williams alias Löcherer nicht wegen des Fehlens von Draculas Spiegelbild gruselt (= wegen sich selbst, weil nur er zu sehen ist), sondern wegen dieser gespenstischen Wesen im Spiegel. Der Gegenschuss entlarvt dann aber, dass Harker tatsächlich über Merino erschrickt, der mit seiner Kamera in den Kulissen lauert und ihn filmt, damit er, Harker/Löcherer, als Protagonist in einem Horrorfilm, auf der Kinoleinwand erscheinen kann. Wo ist da noch die Grenze zwischen Fiktion/Geisterwelt und Wirklichkeit?

Film als Geisterbeschwörung (15 Bilder) [19]

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Cuadecuc

Seit Bram Stoker ist der Vampir das Wesen mit der geschärften, weil übersinnlichen Wahrnehmung - eines, das alles sieht und sogar im Hinterkopf Augen zu haben scheint. Das macht ihn zum Repräsentanten des Überwachungs- und Unterdrückungsstaates. In Cuadecuc ist das Auge des Vampirs das Objektiv der Kamera. Portabella verdoppelt die Beobachtung. Er und sein Kameramann Manel Esteban drehen parallel zu Franco und Merino, und sie lassen die Kamera auch in den Drehpausen laufen. Die Scherze der Akteure im Angesicht des Objektivs können den Eindruck nicht verwischen, dass es keinen Rückzugsraum mehr gibt, in dem man ungesehen ist.

Der handelsübliche, durchkonfektionierte Horrorfilm erzählt eine Geschichte mit Geistern und Dämonen. Je nach Ausführung ist das mal gruselig und mal eher lächerlich. Portabella gelingt es, die fundamentale Unheimlichkeit des Mediums an sich einzufangen, die unseren Vorfahren in den Anfangsjahren der Kinematographie Angst einjagte und dann zunehmend verdrängt wurde, weil der Film als Industrieprodukt unterhalten soll und nicht verstören. Mit Cuadecuc ist das Medium (schon der Begriff evoziert die Séance) wieder da, wo es seinen Ursprung hat: in einer Zwischenwelt an der Grenze zwischen Sein und Schein, zwischen Tod und Leben, zwischen Gestern und Heute.

Nur bei einer oberflächlichen Betrachtungsweise erscheint es paradox, dass das keine nostalgischen oder esoterischen Bedürfnisse befriedigt, sondern dem Erfassen der Realität im Spanien des Caudillo dient. Er und seine Kollegen von der Barcelona-Schule, sagt Portabella in einem Interview, hätten die alles übergreifende Notwendigkeit gespürt, "in einer feindseligen, mittelmäßigen, grauen und repressiven, in der Hand der reaktionären Kräfte der Diktatur befindlichen Umgebung zu intervenieren". Das habe sie angetrieben und den entschiedenen Willen in ihnen genährt, einen "neuen, kritischen Blick auf die Wirklichkeit zu werfen".

Um zu diesem neuen Blick zu kommen aktualisierte Portabella einen alten, der bei ihm zum Angriff auf eine Realität wird, die er bekämpfen wollte, die des repressiven Franco-Staates. Inspirationsquellen waren zwei Meisterwerke des europäischen Vampirfilms, Murnaus Nosferatu und Dreyers Vampyr. Nachdem er von einem Labor 16mm-Film mit abgelaufenem Verfallsdatum erhalten hatte experimentierte Portabella mit verschiedenen Verfahren, um eine grobkörnige, extrem kontrastreiche und der Farbe beraubte Bilderwelt zu erschaffen, die einen an restaurierungsbedürftige Kopien alter Stummfilme erinnert und doch, ein ästhetisches Konzept verfolgend, sehr kunstreich gestaltet ist.

Das ist nie die l’art pour l’art, die man der Avantgarde gern unterstellt. Die ästhetische Verfremdung hat einen Zweck, ist Teil eines politischen Projekts. Das kunstvoll erzeugte Schwarzweiß lädt uns dazu ein, genauer hinzuschauen, Einstellungen, Szenen und Handlungselemente, die wir so oder so ähnlich aus Dutzenden von Vampirfilmen kennen, neu zu sehen, sonst verborgene Zusammenhänge zu entdecken und das Gezeigte darauf zu überprüfen, wie es mit der Wirklichkeit korrespondiert. Avantgarde hin oder her: Das Horrorgenre war immer subversiv, weil es sich den tabuisierten Schattenseiten der Gesellschaft widmet. Unheimlich ist Cuadecuc sowieso, mit Politik oder ohne.

Weil es sich da um mentale, für staatliche Kontrollorgane schwer greifbare Prozesse handelt und nie direkt gesagt wird, dass der Vampir ein (spanischer) Diktator ist kann man Cuadecuc auch als Vorschlag zum Unterlaufen der Zensur verstehen. Auf sprachliche Vermittlung wird ohnehin komplett verzichtet. Portabella brachte keinen Tontechniker mit und kein Mikrophon. Es gibt weder hörbare Dialoge noch erläuternde Zwischentitel. Trotzdem würde ich behaupten, dass der Großteil des Publikums den Ereignissen problemlos folgen kann, weil das eine so bekannte Geschichte ist.

Sprachverbot und Peitsche

Der Film beginnt auf einem Platz im Barri Gòtic, dem Gotischen Viertel in der Altstadt von Barcelona. Bezogen auf die Dracula-Geschichte müsste das irgendwo in Transsilvanien sein, denn bis zum Schloss des Grafen ist es nicht mehr weit. Ein nasskalter Tag. Gedreht wurde im Dezember 1969, was auch erklärt, warum Maria Rohm ihren Pelzmantel über der Mina-Bluse trägt, wenn sie nicht als Schauspielerin vor Merinos Kamera stehen muss. Eine Kutsche bringt Harker zum Gasthof, in dem er die letzte Nacht vor der Ankunft beim Grafen verbringen wird. Die Wirtsleute begrüßen ihn.

Draußen vor dem Gasthof läuft ein Mann in einem Regenmantel über das Pflaster, um ins Trockene zu kommen. Auch zwei Männer mit Regenschirmen überqueren den Platz. Einer hat eine Aktentasche dabei. Das sind Passanten und Eindringlinge aus einer anderen Zeit, die in so einer Vampirgeschichte aus dem Viktorianismus nichts zu suchen haben. Sie sind zufällig in die Filmaufnahme geraten, oder nach einer Regieanweisung von Portabella. Jedenfalls ist ihre Anwesenheit höchst erwünscht, denn durch sie wird das 19. Jahrhundert mit dem Barcelona des Jahres 1969 verknüpft.

Sprachverbot und Peitsche (25 Bilder) [21]

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Cuadecuc

Bei diesem Anfang auf einem verregneten Platz in Barcelona denke ich unwillkürlich an den Anfang von Jacques Demys Les parapluies de Cherbourg [23] (1962), bei jedem Sehen ein Stück mehr. Das hat nicht nur mit den Regenschirmen zu tun. Beide Filme nähern sich Themenbereichen an, die gesellschaftlich tabuisiert waren. Bei Demy ist es der Algerienkrieg, bei Portabella die Diktatur. Beide Filmemacher entschieden sich für einen unkonventionellen Umgang mit dem Ton, um Dinge zu sagen, die nicht ausgesprochen werden durften. Bei Demy werden alle Dialoge gesungen. Portabella lässt sie weg. Man sieht nur die sich bewegenden Lippen der Akteure.

Durch das Verstummen der Darsteller erhält der Zuschauer "interpretatorische Freiheiten", wie Portabella es einmal nannte. Das Publikum wird zur Mitwirkung aufgefordert und kriegt keine abgeschlossene, sondern eine fragmentarische Geschichte vorgesetzt, die es selbst vervollständigen soll, indem es die Leerstellen füllt. Im Spanien des Generalísimo war darüber hinaus bereits das Verstummen eine kraftvolle politische Aussage. Die Sprache der Katalanen war verboten. Das Schweigen in Cuadecuc ist sehr laut. Ein stummer Protest gegen eine Wirklichkeit, die für viele Katalanen unerträglich war.

Sogar die Information im Vorspann von No compteu amb els dits, dass Portabella die Texte von Joan Brossa aus dem Katalanischen übersetzt habe, war in Francos System der Uniformität eine Provokation. In No compteu gehen zwei alte Frauen durch eine Landschaft. Dann sieht man die Ruine einer Burg. Dazu hört man das Knallen einer Peitsche. Eine Männer- und eine Frauenstimme lesen Texte aus einem Katalog vor, in dem ein Peitschenverkäufer seine Produkte anpreist. Es gibt Peitschen für Tiere und für Menschen, für Erwachsene und für Schulkinder.

Man erfährt, welche Peitschen besonders schmerzhaft sind und wozu der Händler rät, wenn man eine Peitsche mit einem federleichten Griff will, die trotzdem sehr wirkungsvoll ist. Vielleicht ist das aber auch die Broschüre einer Behörde, die ihren Schergen empfiehlt, was man am besten nimmt, wenn man einen Katalanen beim Sprechen seiner Sprache ertappt hat. Zuwiderhandlungen gegen das Sprachverbot wurden mit Prügel- oder Gefängnisstrafen geahndet. Vielleicht hat Brossa den Werbetext selbst geschrieben, weil er in der gewünschten sprachlichen Prägnanz bei Händlern und Polizeibütteln nicht zu finden war.

Soviel ich weiß war es auch Brossa, der vorschlug, dem Filmtitel Vampir das katalanische Cuadecuc hinzuzufügen, als Zeichen des Widerstands gegen die Gleichmacherei. Das Land durfte der Film so nicht verlassen. Als er im Mai 1971 in einer Sonderreihe des Festivals von Cannes gezeigt wurde lief er als Vampir, ohne den Wurmfortsatz. Portabella hieß Pedro und nicht Pere, weil unter Franco sogar die Vornamen hispanisiert wurden. Die Ausreise nach Frankreich musste ihm das Regime gar nicht erst verweigern, weil er seit dem Viridiana-Skandal keinen Pass mehr hatte.

Unheimliche Gesichte

Cuadecuc ist stumm, nicht ohne Ton. Der Multimediakünstler Carles Santos, ein Schüler von John Cage, hat eine Klanglandschaft aus Presslufthämmern, Hundegebell, Kirchenglocken, Flugzeuglärm, Opernarien und elektronisch generierten Tönen geschaffen, von einem nach Wellblech klingenden Donnergrollen bis zu einem ominösen Dröhnen, von dem man sich durch eine einschmeichelnde Lounge-Musik erholen kann. Der elektronische, lang nachhallende Donner begleitet Harker durch die ersten Minuten und wird ergänzt durch die Wirtsfrau, die ihn vor der Weiterreise warnt.

Zum Vorspann fährt ein Auto durch ein geflashtes, mit Bäumen bestandenes Gelände. In dem Auto sitzt der Herr der Vampire. Graf Dracula oder, mit bürgerlichem Namen, Christopher Lee. Der Betrachter darf (soll) selbst entscheiden, ob das Harkers Albtraum ist oder die Wirklichkeit. Vielleicht beides. Cuadecuc sei während der Dreharbeiten zu Jess Francos "Dracula" entstanden, informiert ein Vorspanntext, produziert von der Firma Hammer Films. Das ist ein Irrtum und trotzdem nicht ganz falsch. Harry Alan Towers war nicht auf Originalität aus, sondern wollte mit möglichst geringen Mitteln die Konkurrenz kopieren.

Unheimliche Gesichte (32 Bilder) [24]

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Cuadecuc

Mit Dracula Has Risen from the Grave, dem dritten und bisher schwächsten ihrer Vampirfilme mit Christopher Lee, war der Hammer soeben einer der größten Kassenschlager der Firmengeschichte gelungen. An diesen Erfolg wollte sich Towers anhängen, indem er mit seiner Firma Towers of London sowie Partnern aus Spanien, Deutschland und Italien einen eigenen "Hammer-Film" produzierte - ohne den Namen "Hammer" im Vorspann und auf dem Plakat, dafür aber mit dem Schauspieler, den man am meisten mit der Dracula-Figur assoziierte, seit er für die Hammer in Frauenhälse biss: Christopher Lee. Das war zumindest ein angestrebter Etikettenschwindel.

Am Drehort angekommen, hat der Chauffeur seine Arbeit getan und erst mal Pause. In einem Gebüsch findet die Kamera Christopher Lee. Ein Mann macht künstlichen Nebel, ein elektronischer Wind weht dazu, und Lee hält sich die Hand vors Gesicht, als fühle er sich ertappt und wolle nicht gefilmt werden. Eine Kutsche fährt durch den Wald. Lee grinst jetzt und grüßt gut gelaunt in die Kamera als freue er sich auf sein Opfer. Im Kunstnebel taucht eine andere Kamera auf, die von Merino. In der Szene, die sie filmt, sind wir am Borgo-Pass. Dracula, als Kutscher verkleidet, holt Harker ab, um ihn in sein Schloss zu bringen.

So gruselig wie hier, verstärkt durch einen elektronisch erzeugten Wind wie aus der Gruft, hat man die Szene selten gesehen. Am ehesten kann man sie noch mit Nosferatu vergleichen, wo der Leichenwagen des Vampirs in Negativbildern durch den Wald fährt. "Kaum hatte Hutter [Harker] die Brücke überschritten, da ergriffen ihn die unheimlichen Gesichte, von denen er mir oft erzählt hat", berichtet bei Murnau der anonyme Chronist. Cuadecuc vermittelt einem ein Gefühl dafür, was es bedeutet, wenn man von "unheimlichen Gesichten" ergriffen wird. Bilder rauschen vorbei. Wie in Nosferatu nimmt die Kutsche Fahrt auf, wird immer schneller als sei sie nicht mehr zu stoppen, wenn man erst mal drin sitzt.

Vor dem Aufprall am Ende dieser Höllenfahrt rettet uns ein Filmschnitt. Ein stiller See. Dahinter, durch kahle Bäume, das Vampirschloss. Der Requisiteur macht frische Spinnweben an die Eingangstür, bevor Harker anklopft und Dracula öffnet, jetzt als Schlossherr. Ehe Lee die Tür wieder schließt wirft er einen kurzen Blick in die Kamera - in die von Cuadecuc und nicht in die von El conde Drácula, denn dort gilt das Gebot der unsichtbaren vierten Wand zwischen Publikum und fiktionaler Welt. Der Blick in die Kamera ist verpönt, weil er die Illusion zerstört, dass die vor ihr agierenden Schauspieler nicht wissen, dass sie da ist (stellvertretend für uns, die Zuschauer).

Portabella legt die Mechanik des Illusionskinos offen als würde er die Motorhaube des Wagens hochklappen, in dem der Chauffeur Christopher Lee durch die Gegend kutschiert, damit wir sehen können, was darunter verborgen ist und was man braucht, damit das Auto fahren kann. Dabei ist alles gleichermaßen phantastisch, das Nebel- und Spinnwebmachen genauso wie der Vampirismus. Einmal ist man mit der Kutsche unterwegs, dem Vehikel des 19. Jahrhunderts, ein andermal mit dem des 20. Jahrhunderts, dem Automobil. Einmal ist man in Transsilvanien und ein andermal in Spanien, und immer in einer Welt, in der ein Feudalherr darauf wartet, dass er Menschen das Blut aussaugen kann.

Im zweiten (und letzten) Teil besichtigen wir das Schlafzimmer des Vampirs und schauen nach, was da an der Wand hängt. Damit geht es demnächst weiter:

Im Schattenhaus: Bei den Geistern der Vergangenheit [26]


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