Der trojanische Schoßhund
Mit "Viridiana" hat der gottbegnadete Blasphemiker Luis Buñuel 1961 Spaniens größten Filmskandal losgetreten
Die Franco-Gegner verstanden die Welt nicht mehr, als sie 1960 erfuhren, dass Luis Buñuel der Einladung des verhassten Diktators gefolgt und nach 24 Jahren des Exils zum ersten Mal wieder nach Spanien gereist sei, um seinen Film Viridiana vorzubereiten. Welcher Teufel mag den einstigen Bürgerschreck und Pfaffenhasser nur geritten haben, als er einwilligte, sich als Francos Schoßhund vorführen zu lassen?
Buñuel hatte sich nach dem Sieg der Franquisten lange standhaft geweigert, auch nur einen Fuß auf spanischen Boden zu setzen. Mit seiner Familie pflegte er sich auf der französischen Seite der Grenze zu treffen. Als er nun mit Viridiana erstmals wieder eine spanische Produktion in Angriff nahm, bereiteten ihm Francos Lakaien – erpicht aufs internationale Renommee des Regisseurs – jedenfalls einen überaus warmen Empfang. Die Zensur zeigte sich, offenbar auf höheren Befehl, betont großzügig und ließ das Drehbuch (die Geschichte der hoffnungslos frommen und weltfremden Novizin Viridiana, die dem Landgut ihres Onkels einen letzten Besuch abstattet) mit wenigen, belanglosen Eingriffen passieren.
Die ganze Angelegenheit ist im ersten Teil ekelhaft und später äußerst unangenehm, weswegen ich nicht glaube, dass sie einen guten Film ergeben wird; ich sehe aber auch keinen Grund dafür, ihn zu verbieten, zumal es sich um eine Novizin handelt, deren Betragen in jeder Hinsicht korrekt ist,
konstatierte eines der Gutachten. Nur einer der vier Zensoren ließ weniger Milde walten und brachte, wie in den Akten des Kulturministeriums nachzulesen ist, die Tendenz des Drehbuchs auf „einen gemeinsamen Nenner, und zwar den der Unmoral“:
1. Don Jaime hat einen unehelichen Sohn: 2. Don Jaime will seine Nichte (!), eine Novizin (!), missbrauchen; 3. Jorge, der Sohn von Don Jaime, stellt Lucía, seine Geliebte, vor, als sei es die natürlichste Sache der Welt; 4. Die Bettlerinnen, die Zuflucht finden, sprechen von ’ihrem Mann’ mit den niedrigsten sexuellen Hintergedanken; 5. Enedina verteidigt ihr leibliches Zusammensein mit dem anderen Bettler als ihr natürliches Recht; 6. Die Schwangere im Asyl, die bereits ein Kind hat, und beide haben keinen Vater.
Auch die spanischen Produzenten, die der verbotenen Kommunistischen Partei nahe standen und sich von Buñuel mehr politische Sprengkraft erhofft hatten, ließen sich zunächst von der scheinbaren Unverfänglichkeit der Drehbuchfassung in die Irre führen. „Hier, lies das Drehbuch von deinem über alles geliebten Meister, was er für einen Schwachsinn geschrieben hat!“, soll der Filmemacher Juan Antonio Bardem, damals Leiter der Produktionsfirma Uninci, zu seinem Kollegen Carlos Saura gesagt.
In der Tat betraf die einzige größere Änderung, die dem Projekt abverlangt wurde, die Schlussszene. Weil ihm die inzestuöse Zweisamkeit von Viridiana (Silvia Pinal) und ihrem Cousin (Paco Rabal) als zu anrüchig erschien, empfahl angeblich der Chef der staatlichen Zensurbehörde höchstpersönlich, die Szene durch die zusätzliche Anwesenheit des Hausmädchens zu entschärfen – eine umso delikatere Dreieckskonstellation, die Buñuel dankbar akzeptierte.
Bei der Endabnahme des Films führte Buñuel die Zensoren dann abermals an der Nase herum: Während sie nur eine manipulierte (und noch unvertonte) Rohfassung zu Gesicht bekamen – die spanischen Produzenten wussten nur zu gut, welche Szenen man besser unterschlagen sollte –, schmuggelte sein Sohn Juan Luis Buñuel eine intakte Kopie der Negative, gut verdeckt von allerlei Stierkampf-Utensilien, im Wagen einer Torero-Mannschaft außer Landes und weiter nach Paris.
Eines Morgens in aller Frühe verließ ein Minivan mit einem Matador namens Pedret, seiner Mannschaft, der "cuadrilla", und mir Barcelona und fuhr in Richtung der Grenze. Außer mit unseren persönlichen Koffern war der Wagen vollgeladen mit Umhängen, Capas, Degen und allem, was ein Stierkämpfer braucht ... und darunter, gut versteckt, lagen die runden Filmdosen mit den Negativen. Als wir zur Grenze kamen, begrüßten uns die Grenzposten, Zöllner und Angehörigen der Guardia Civil mit Glückwünschen und riefen uns zu: "Suerte, Matador!" Wir winkten alle zurück, mit dicken Schweißperlen auf der Stirn.
Der Zorn des Padre Fierro
Sprichwörtlich in der allerletzten Minute schafften es die Filmrollen so nach Cannes, wo Viridiana unmittelbar vor Festivalende gezeigt und prompt – als erste einzige spanische Produktion überhaupt – mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde.
Der Preis wurde – in Abwesenheit und, wie er später beteuerte, gegen den ausdrücklichen Willen des Regisseurs – dem offiziellen Vertreter der spanischen Regierung überreicht. Doch das Blitzlichtgewitter des Galaabends sollte die Abschiedsvorstellung von Francos oberstem Filmfunktionär werden, der sich, ahnend was ihm bevorstand, stundenlang in seinem Hotelzimmer eingeschlossen haben soll: Kaum war José Muñoz Fontán aus Cannes zurück, war er, mitsamt seinen 21 Mitarbeitern, schon abgesetzt, und kurz darauf sah sich auch der Informationsminister Arias-Salgado genötigt, den Hut zu nehmen.
In der Zwischenzeit war nämlich im Osservatore Romano, dem vatikanischen Amtsorgan, ein wutschnaubender Verriss erschienen, der in dem Film nur eine „Abfolge von gottlosen Darstellungen“, eine hässliche „Blasphemie wider die Heilige Schrift“ erblickte und den Verantwortlichen als angemessene Strafe die ewige Verdammnis prognostizierte. Besonderen Anstoß nahm der von Padre Fierro gezeichnete Artikel an dem Einfall, den orgiastisch-obszönen Festschmaus der Bettler an der herrschaftlichen Tafel als eine – mit dem Halleluja aus Händels Messias unterlegte – Parodie von Leonardos Letztem Abendmahl zu inszenieren.
Die Rolle Christi, der beim Mahl den Ehrenplatz einnimmt, kommt einem blinden Bettler zu, dem gewöhnlichsten von allen. Die blasphemische Darstellung wird durch die vorgetäuschte Fotoaufnahme noch verstärkt. Irgendwann kündigt einer der Bettler an: ‚Enedina wird uns fotografieren, dann haben wir eine Erinnerung.’ (...) Sie stellt sich den Gästen gegenüber, um ein Foto zu machen. Dann hebt sie ihr Kleid hoch und zeigt den Gästen (...) ihr Geschlechtsteil. Dieser Moment fällt nun gerade genau mit demjenigen zusammen, in dem die Gäste die Pose der Jünger von da Vincis Abendmahl einnehmen.
Jérôme Cottin, Magazin f. Theologie und Ästhetik 44/2006
Völlig unvermutet dürfte der Sturm der Entrüstung wohl nicht über Buñuel hereingebrochen sein – der hatte sich nämlich in weiser Voraussicht bereits nach Mexiko verdrückt. „Diese Komödie – denn es ist eine Komödie“, erklärte der frühere Jesuitenzögling rückblickend, „enthält eine heimliche Dosis umstürzlerischen Geistes, die jedoch nicht für jedermann, sondern nur für Eingeweihte zu erkennen ist. Und zu diesen gehören natürlich die Zensoren der Kirche.“
In der Tat hatte er einiges an Ingredienzien aufgeboten, die geeignet schienen, die gestrengen Kirchenvertreter auf den Plan zu rufen: Selbstmord und Vergewaltigung, befremdliche sexuelle Obsessionen und Inzest, eine Dornenkrone, die im Feuer landet, ein Kruzifix mit eingebautem Dolch (das in Spanien als Massenware hergestellt wurde) und nicht zuletzt der gnadenlose Schiffbruch von Frömmigkeit und christlicher Caritas.
Über Nacht war der Film also zum Skandalon geworden (bei L'Âge d'Or hatte man 1930 immerhin noch neun Tage gebraucht, um den Film auf den Index zu setzen). Der interpretatorische Furor, mit dem die Sittenwächter jetzt einander darin zu übertrumpfen suchten, angeblich blasphemische Szenen zu identifizieren, überraschte selbst Buñuel: „Ich hatte mir niemals vorgestellt, dass man auf so viele Arten Blasphemie treiben könnte!“
Dem erzkatholischen Franco, der sich nun ausgerechnet von der Kirche gemaßregelt sah, dämmerte allmählich, welches Kuckucksei seine Kulturbehörden da ausgebrütet hatten. Umgehend ließ der blamierte Diktator dem Film rückwirkend die Drehgenehmigung entziehen. Die Produktionsfirma Uninci wurden mit gerichtlichen Manövern in den Bankrott getrieben und die spanischen Auslandsvertretungen angewiesen, sämtliche dort auffindbaren Filmrollen als „illegale Schmuggelware“ zu konfiszieren. Alle Kopien sollten eingezogen und zerstört werden, jede Erwähnung des Films wurde konsequent unterdrückt.
Das gerettete Kuckucksei
Darüber, wie schließlich doch noch eine Kopie vor Francos Zerstörungswut gerettet werden konnte, gehen die Angaben auseinander. Einer Version zufolge soll einer der Produzenten eine Kopie des Films hastig vor der Hausdurchsuchung in seinem Garten vergraben haben; eine andere nimmt an, dass alle heutigen Kopien auf die vorsorglich nach Paris gebrachten Negative zurückgehen.
Trotz des spanischen Verbots konnte der Film jedenfalls im Ausland erfolgreich gezeigt werden. Denn während das junge spanische Kino nach dem Skandal wieder die volle Härte der franquistischen Zensur zu spüren bekam, nutzte Buñuels mexikanischer Geldgeber Gustavo Alatriste (der vor Viridiana vorwiegend als Möbelfabrikant und Mann an der Seite von Silvia Pinal aufgefallen war) die Gunst der Stunde, um den Film als „mexikanische Produktion“ international zu vermarkten. „Wie kann es sein, dass man einem Film, den wir gemacht haben, diese Nationalität verpasste? Wo doch die einzige Mexikanerin, die darin vorkommt, Silvia Pinal war“, zeigte sich der spanische Produzent Bardem noch Jahrzehnte später empört.
Doch auch im Ausland blieb der Film oft nicht ganz von Kürzungen verschont. In Deutschland etwa ersparte man den sittlich Empfindsamen unter den Kinobesuchern eine Szene, in der Viridiana dem Melken einer Kuh zusieht, bevor sie sich errötend abwendet. „Buñuel zeigt sich abgründig vom Bösen fasziniert und getrieben von sadistischer Lust. Er verdient unser Mitleid“, hieß es 1962 mit seelsorgerischer Strenge im deutschen Katholischen Filmdienst. In Italien erwirkte der Mailänder Oberstaatsanwalt Anfang 1963 vorübergehend sogar ein Aufführungsverbot; ein Verbot, das allerdings (ebenso wie die landesweite Beschlagnahme aller Kopien) schon bald wieder aufgehoben wurde, wenngleich selbst die Berufungsinstanz nicht umhin konnte, dem Film „ein besonderes Interesse an moralischen Verirrungen“ zu attestieren. In seiner Autobiographie berichtet Luis Buñuel sogar davon, in Italien in Abwesenheit zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt worden zu sein.
Das spanische Publikum bekam Viridiana höchstens als beliebten Höhepunkt von als Einkaufsfahrten deklarierten Busreisen über die Grenze zu sehen. In seinem Entstehungsland selbst durfte der Film erst im April 1977 zum ersten Mal legal – wenn auch weiterhin als „mexikanische Produktion“ – gezeigt werden. Es sollten noch fünf weitere Jahre verstreichen, bis das spanische Höchstgericht Viridiana zu guter Letzt, nach einem 21 Jahre währenden Rechtsstreit, doch noch offiziell in den Rang einer „spanischen Produktion“ erhob.
Padre Fierro, dessen gehässiger Artikel einst den Skandal ins Rollen gebracht hatte, soll später Buñuels Hauptdarsteller Fernando Rey während einer Drehpause in Madrid aufgesucht und für seine damaligen Angriffe um Verzeihung gebeten haben – Rey zögerte nicht lange und warf den verdutzten Padre im hohen Bogen hinaus.
Zu sehen ist „Viridiana“ heute, am 12.2.2008, auf der Berlinale (CinemaxX 8) um 20:00 sowie in 3sat um 22:40 Uhr.
Das Buch zur Berlinale-Restrospektive: Luis Buñuel. Essays, Daten, Dokumente, hrsg. v. der Deutschen Kinemathek, Bertz-Fischer: Göttingen 2008, 184 S.