Drei Szenarien: Wohin der Ukraine-Krieg im Jahr 2023 führen könnte

Ukrainische Soldaten im Schützengraben. Bild: АрміяInform

Die militärischen Gewinne und Verluste werden bestimmen, wie der Konflikt sich entwickelt. Die wahrscheinlichsten drei Szenarien sind verbunden mit Problemen und Gefahren. Worauf man sich einstellen sollte.

Wie in jedem Krieg wird der wichtigste Faktor für den künftigen Verlauf des Ukraine-Konflikts letztlich das sein, was auf dem Schlachtfeld geschieht. Es gibt im Wesentlichen drei Möglichkeiten, wobei jede von ihnen eine Reihe potenzieller Konsequenzen nach sich ziehen würde: ein ukrainischer Durchbruch, ein russischer Durchbruch und eine Pattsituation, die in etwa den derzeitigen militärischen Frontverläufen entspricht.

Angesichts der zunehmenden Zahl russischer Streitkräfte, die sich mit massiver Artillerieunterstützung entlang verkürzter Frontlinien verschanzt haben, wird es für die ukrainische Armee eine große Herausforderung sein, einen Durchbruch zu erzielen. Nichtsdestotrotz haben die Ukrainer die Welt seit Beginn der russischen Invasion so oft in Erstaunen versetzt, dass weitere Siege nicht auszuschließen sind.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft.

Sollte es den ukrainischen Truppen gelingen, bis zum Asowschen Meer durchzubrechen sowie die Krim zu isolieren bzw. einen großen Teil der von Russland seit 2014 unterstützten Separatisten-Region im Osten des Donbass zurückzuerobern, dann ist es wahrscheinlich, dass Russland als Reaktion darauf eine drastische Eskalation androhen und möglicherweise auch durchführen würde.

Das könnte mit der symbolischen Bombardierung (mit konventionellen Raketen) von Nato-Luftwaffenstützpunkten oder Nachschublinien in Polen oder Rumänien beginnen. In jedem Fall würde der Kreml damit darauf abzielen, die Möglichkeit des Abgleitens in einen Atomkrieg zwischen Russland und den Vereinigten Staaten zu erhöhen.

Ein solcher russischer Angriff würde höchstwahrscheinlich eine begrenzte und eine dem Angriff entsprechende militärische Antwort der USA nach sich ziehen (z.B. die Bombardierung eines russischen Stützpunktes im besetzten Teil der Ukraine). Angesichts der Gefahr eines Nuklearkriegs würden jedoch auch einflussreiche Stimmen in den Vereinigten Staaten und Europa wohl zu einem Waffenstillstand in der Ukraine aufrufen.

Ihr Argument wäre, dass Kiew einen ausreichenden Sieg errungen hat, bei dem es fast alle Gebiete zurückerobern konnte, die es seit der russischen Invasion im Februar 2022 verlor (wenn auch nicht die meisten der von Russland und seinen dortigen Verbündeten seit 2014 besetzten Gebiete). Für den Westen wäre es einfacher, einen Waffenstillstand vorzuschlagen, wenn eine weitere russische Niederlage zum Sturz von Präsident Putin führte, da das dann als großer westlicher und ukrainischer Erfolg gesehen würde.

In solch einem Szenario, in dem sich die Ukraine auf dem Weg zu einem vollständigen Sieg befände, würden Bemühungen um einen Waffenstillstand jedoch auf heftigen Widerstand seitens der ukrainischen Regierung, bestimmter Nato-Mitglieder, darunter Polen und die baltischen Staaten, sowie wichtiger Teile des politischen Establishments und der Medien in den USA stoßen. Der Ausgang einer derart krisenhaften Zuspitzung lässt sich daher nicht vorhersagen. Das Risiko einer Eskalation zu einem alles umfassenden Krieg zwischen der Nato und Russland wäre jedoch extrem hoch.

Die militärische Entwicklung im Ukraine-Krieg (19 Bilder)

Frontverlauf am 26. Februar 2022

Eine russische Offensive, die zu einem siegreichen Durchbruch führte, scheint im Moment nicht geplant zu sein, abgesehen von begrenzten Vorstößen zur Einnahme der Stadt Bachmut im westlichen Donbass. Alles deutet darauf hin, dass die russischen Streitkräfte ihre bestehenden Linien sichern wollen, um weitere ukrainische Erfolge wie die Rückeroberung des östlichen Teils der Region Charkiw und der Stadt Cherson zu verhindern.

Sollte die ukrainische Armee jedoch in den nächsten Monaten bei missglückten Offensiven schwere Verluste erleiden und ihre Munitionsvorräte und gepanzerten Fahrzeuge aufbrauchen, dann könnte eine erfolgreiche russische Gegenoffensive durchaus möglich sein.

Die Tücken eines Waffenstillstands ohne echte Friedensverhandlungen

Westlichen Geheimdienstschätzungen zufolge sind die ukrainischen und russischen Verluste in etwa gleich hoch – wobei Russland dreieinhalbmal so viel Einwohner wie die Ukraine hat. In den ersten Monaten des Krieges wurde Russlands zahlenmäßiger Vorsprung dadurch zunichtegemacht, dass das Putin-Regime (aus innenpolitischen Gründen) nicht bereit war, Wehrpflichtige in den Einsatz zu schicken und Reservisten zu mobilisieren. Dieser Mangel wird nun durch die Einberufung von 300.000 zusätzlichen Soldaten (wenn auch von sehr fragwürdiger Qualität) behoben.

Russland produziert auch wesentlich mehr Artilleriegranaten als die Ukraine herstellt bzw. vom Westen erhält. Es ist aber nicht klar, inwieweit eine erhöhte US-Produktion diesen Mangel in den nächsten Monaten ausgleichen kann.

In Anbetracht der bisherigen Bilanz und der anhaltenden Einschränkungen in Hinsicht auf Truppenstärke, Panzer und Munition besteht jedoch keine realistische Chance, dass ein russischer Durchbruch zur Einnahme von Kiew führen könnte. Es ist nicht einmal im Entferntesten wahrscheinlich, dass Russland Charkiw einnehmen könnte. Der Rückzug Russlands aus der Region Cherson auf das linke östliche Ufer des Dnepr macht eine Offensive gegen die ukrainischen Schwarzmeerhäfen Mykolajiw und Odessa praktisch unmöglich.

Sollte Russland jedoch die gesamte Donbass-Region erobern und die Landbrücke zur Krim verstärken, wäre es sehr wahrscheinlich, dass Putin dann behaupten wird, die wichtigsten russischen Ziele (die zu Beginn der Invasion festgelegt wurden) seien erreicht worden. Moskau könnte dann einen Waffenstillstand und Friedensgespräche ohne Vorbedingungen anbieten.

Ein solches russisches Angebot würde zugleich tiefe Gräben innerhalb des Westens einerseits und zwischen den westlichen Ländern und der Ukraine andererseits aufreißen. Denn angesichts der in weite Ferne gerückten Möglichkeit eines ukrainischen Siegs und der Aussicht auf einen nicht enden wollenden Krieg, würden viele im Westen argumentieren, dass ein Waffenstillstand das beste Angebot ist, das die Ukraine jemals erhalten könnte.

Diese Argumentlinie würde gestärkt dadurch, dass nur ein stabiler Waffenstillstand die Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur durch Russland beenden und es der Ukraine und ihren Partnern ermöglichen würde, den langen und sehr kostspieligen Prozess des Wiederaufbaus der ukrainischen Wirtschaft zu beginnen, um Kiews Hoffnungen auf einen Beitritt zur Europäischen Union zu fördern.

Das könnte auch bei einigen pragmatischen Ukrainern Anklang finden, die der Ansicht sind, dass ein Waffenstillstand und damit verbundenes wirtschaftliches Wachstum es der Ukraine ermöglichen könnte, das Militär zu stärken, um den Krieg zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzunehmen – etwas, was wegen Russlands Angriffen auf die ukrainische Wirtschaft im Moment sehr schwierig ist.

Diejenigen, die in der Ukraine und im Westen gegen einen von Russland vorgeschlagenen Waffenstillstand sind, würden natürlich argumentieren, dass es Moskau die Möglichkeit geben würde, seine eigenen Streitkräfte für einen künftigen neuen Krieg aufzurüsten. Dieses Argument würde aber an Zugkraft einbüßen, wenn Russland öffentlich erklärt, dass man seine Kriegsziele erreicht habe.

Wenn keine der beiden Seiten einen Durchbruch erzielt, besteht die Aussicht auf eine unbestimmte und blutige Pattsituation. Sie würde bestehen entlang der gegenwärtigen Kampflinien und in vielerlei Hinsicht an die Westfront im Ersten Weltkrieg erinnern. Die Frage wäre dann, wie lange es dauern wird – und wie viele Menschen sterben müssen –, bis beide Seiten erschöpft sind und beschließen, dass es keinen Sinn macht, den Kampf fortzusetzen.

Dann wäre der Boden bereitet für einen instabilen Waffenstillstand, wie er zwischen Indien und Pakistan in Kaschmir die letzten 75 Jahre fast durchgängig herrschte. Er wäre letztlich eine Version des Waffenstillstands im Donbass der Jahre 2015 bis 2022 auf erhöhtem Niveau. Ein solcher Waffenstillstand würde begleitet werden von Friedensverhandlungen, aber auch von periodischen Gewaltexplosionen und möglicherweise großen Kriegsphasen.

Sicherlich wäre ein Waffenstillstand besser als das derzeitige massive Blutvergießen in der Ukraine. Aber wenn er nicht von erfolgreichen Verhandlungen gestützt wird, die auf eine Einigung zielen bzw. versuchen, die bewaffneten Spannungen zu minimieren, dann enthält er weiter eine Reihe von negativen Elementen: das Potenzial für neue Kriege, nicht nur in der Ukraine, sondern auch zwischen Russland und anderen ehemaligen Sowjetstaaten; die Schwierigkeit, die Ukraine wieder aufzubauen, und auf dem Weg in die Europäische Union voranzukommen; die Unmöglichkeit des Westens, seine kooperativen Beziehungen zu Russland auch nur ansatzweise wiederherzustellen; und die Wahrscheinlichkeit, dass Russland, China und Iran stärker zusammenarbeiten.

Der Artikel von Anatol Lieven erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine und Russland: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).