Drohende Gasknappheit: Gesprächskanäle auf!

Anlandungsstelle der Nord Stream 1 bei Lubmin. Foto: Chron-Paul / CC-BY-SA-4.0

Warum die Energiekrise nicht für neue Verhandlungen mit Russland nutzen?

Vor einigen Wochen hatte man noch den Eindruck, in Deutschland wollten sich alle möglichst heute und sofort von der russischen Gasversorgung verabschieden. Es schien, als würde es manchen Menschen schon ein psychisches Unbehagen bereiten, wenn überhaupt noch "Putin-Gas" in Deutschland durch die Leitungen fließt.

Irgendwie hatten aber alle schon geahnt, dass spätestens im Herbst deutlich wird, dass es ohne russisches Gas ganz schön kalt in Deutschland werden würde. Nun zittern schon mitten im Hochsommer Politiker und auch Teile der Bevölkerung, ob Putin Deutschland jetzt das Gas abdreht. Jetzt sind diejenigen, denen es noch vor Wochen nicht schnell genug gehen konnte, vom Putin-Gas wegzukommen, ganz schön leise geworden.

Dabei müssten sie doch eigentlich froh sein, dass ihr Wunsch vielleicht schneller in Erfüllung geht, als sie es selbst wahrhaben wollten. Jetzt ist es eine Routineüberprüfung, die Deutschland auf den Boden der Tatsachen bringt. Es zeigt sich, dass es eben nicht so einfach ist, in kurzer Zeit auf russisches Gas zu verzichten. Und plötzlich fragen sich alle: Wird das russische Regime nun tatsächlich Deutschland vom russischen Gas befreien?

Die Turbine und die Sanktionen

Nun konnte es Deutschland auf einmal nicht schnell genug gehen, dass Kanada eine Ausnahmegenehmigung erteilt und die frisch gewartete Turbine für die Gaspipeline Nord Stream 1 liefert, damit es zumindest einen Grund weniger gibt, die Gaslieferungen einzustellen. Die Kritik des ukrainischen Präsidenten und auch anderer osteuropäischer Staaten, die in der Turbinenlieferung eine Aufweichung der harten antirussischen Haltung sehen, prallt an Deutschland ab.

Da zeigt sich doch, dass das Getöse um die Verteidigung westlicher Werte in der Ukraine schnell ruhiger wird, wenn simple ökonomische Interessen ins Spiel kommen. Nun ist das nicht die schlechteste Nachricht. Auch die lautesten Claqueure für die Verteidigung der westlichen Werte in der Ukraine werden stiller, wenn sie mit der Möglichkeit kalter Wohnungen und einer Wirtschaft am Boden konfrontiert sind.

Einen kleinen Vorgeschmack, was da noch passieren könnte, haben die Grünen kürzlich in Schwedt bekommen. In der Stadt, die als Standort der PCK-Raffinerie besonders auf russisches Öl angewiesen ist, wurde der Wirtschaftsminister ausgebuht und auf einem Schild stand: "Grüne an die Ostfront". Die Menschen dort wissen genau, dass die Grünen in der Bundesregierung die Kraft ist, die den Kampf gegen Russland besonders lautstark vorangetrieben hat.

Bundesweit dürften es dann auch die Grünen sein, die unter Umständen für fehlendes Gas und kalte Wohnungen in die Verantwortung genommen werden. Allein die Angst davor könnte manchem besonders schneidigen Ostlandreiter bei den Grünen in die Parade fahren. Die Grünen könnten dann die Sündenböcke sein – und die anderen bürgerlichen Parteien SPD, Union und FDP könnten ihnen schnell klarmachen, dass es auch Mehrheiten ohne sie gibt.

Merz fordert Kehrtwende bei Atomkraftwerken

Man merkt schon jetzt, wie sehr diese Parteien sich wieder mit eigentlich unpopulären Themen profilieren, von denen sie lange die Finger gelassen haben, aus Angst, die Grünen damit zu stärken. Dazu gehörte die Diskussion um längere Laufzeiten für Atomkraftwerke. Dass forderte lautstark bisher nur die AfD, während Union und FDP immer erklärten, sie wollten die alten Schlachten nicht noch einmal schlagen.

Auch bei vielen von ihnen war klar, dass sie den Ausstiegsbeschluss unter der damaligen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) eigentlich ablehnten, aber auch keinen Rückenwind mehr aus der Bevölkerung verspürten, um das Thema wieder aufzunehmen. Es hätte eher den Grünen genutzt. Nach den russischen Einmarsch in die Ukraine und durch die anhaltende Diskussion um die Energiesicherheit für Deutschland ist das anders.

Jetzt wagen sich aus verschiedenen Ecken des politischen Spektrums die Befürworter längerer AKW-Laufzeiten wieder hervor. Wenn jetzt Friedrich Merz (CDU) direkt an die Grünen appelliert, sie sollten ihren Widerstand gegen einen begrenzten Weiterbetrieb von AKWs aufgeben, zeigt sich, dass sich der Wind tatsächlich gedreht hat. Jetzt sind nicht mehr diejenigen in Erklärungsnot, die für längere Laufzeiten sind, sondern die Grünen, weil sie auf die vertragsgemäße Abschaltung bestehen.

Nun hat der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck bereits vor einigen Monaten deutlich gemacht, dass auch er über längere Laufzeiten reden würde und im grünen Nahbereich gibt es schon längst Stimmen, die ihn dabei unterstützen. Manche bei den Grünen sehen da sogar eine Bringschuld in ideologiefreiem Denken, wenn sie sich gerade bei einem ihrer Kernthemen, den AKW-Ausstieg flexibel zeigen. Schließlich haben sie auf fast allen anderen Gebieten ihre ursprünglichen Forderungen längst über Bord geworfen.

Mit Russland verhandeln – ein Ausweg aus der Gaskrise

Nun könnte man ja auch andere Dogmen angesichts der Gaskrise über Bord werfen. Dazu gehört das Mantra, dass man mit Russland keine Beziehungen mehr haben kann, solange der Krieg in der Ukraine tobt. Das ist nun keineswegs selbstverständlich. Natürlich hat die deutsche Regierung 2003 die Beziehungen zu den USA nicht abgebrochen, nachdem diese einen von der damaligen "rot-grünen" Bundesregierung abgelehnten Angriff auf den Irak gestartet hatten.

Dabei räumt so ein entschiedener Gegner des russischen Kriegs in der Ukraine und Unterstützer der militärischen Verteidigung der Ukraine wie Slavoj Zizek ein, dass die beiden Kriege durchaus vergleichbar sind. Warum also sollte die Energiekrise nicht genutzt werden, um endlich wieder zumindest auf dem Gebiet der Energieversorgung ins Gespräch zu kommen?

Es ist unverständlich, dass es scheinbar wirklich keine Gesprächskanäle zwischen Russland und Deutschland – nicht einmal inoffizielle – gibt, wie es durchaus auch mitten im Kalten Krieg immer üblich war. Zumindest wird jetzt der Eindruck der völligen Gesprächsverweigerung gemacht, wenn überall gerätselt wird, ob Putin respektive die russische Regierung den Gashahn zudreht. Eigentlich müsste die Frage ja über diese mehr oder weniger inoffiziellen Kanäle erkundet werden.

Es kann natürlich auch sein, dass der Eindruck, dass es keine Gesprächskanäle gibt, nur bewusst erweckt wird, um die Gespräche umso ungestörter führen zu können. Dagegen sollte die deutsche Regierung offiziell Verhandlungen mit Russland über die weitere Gestaltung der Energielieferungen aufnehmen. Dabei sollte auch noch einmal über die Gaspipeline Nord Stream 2 gesprochen werden.

Gelänge an einer solch speziellen Frage ein Kontakt, könnte das tatsächlich der Beginn neuer Verhandlungen sein. Schließlich ist es eine Frage der Zeit, wann diese kommen, denn dies ist keine Frage von Sympathie oder Antipathie, sondern einfach der Tatsache geschuldet, dass man gemeinsam der Erde wohnt und keine der Parteien verschwinden wird, sofern nicht beide durch einen atomaren Schlagabtausch verschwinden. Also sollte man beizeiten über gemeinsame Anliegen und Interessen reden – und da seht jetzt die Energiepolitik an zentraler Stelle.

Kein Verrat an der Ukraine?

Nun dürfte sofort der Einwand kommen, damit würde doch die Ukraine verraten. Aber das ist eine zutiefst nationalistische Sichtweise, denn genauso wenig wie andere Nationen gibt es "die Ukraine" als einheitliche Interessengemeinschaft. Sie ist ebenfalls ein durch Klassen, Ethnien etc. gespaltenes Land. Die nationalistische Strömung, die sich 2014 durchsetzt hat, erlangte ihre Hegemonie auch durch Unterdrückung der Opposition, wie Thomas Gerlach selbst in der taz kürzlich bestätigen durfte, indem er ausführlich den ukrainischen Widerstand gegen die russische Besatzung beschrieb und dann auf die ukrainische Linke einging:

Heute wird der Anarchist Nestor Machno ignoriert. In die Ukraine passt der Linksradikale nicht mehr in eine Zeit, in der Gewerkschaften immer mehr einer neoliberalen Politik weichen müssen und sozialistische Parteien verboten werden.


Thomas Gerlach, taz

Sollten wieder Gesprächskanäle nach Russland aufgebaut werden, wäre das auch ein Signal an die ukrainische Regierung, dass sie eben auch Realitäten anerkennen und Kompromisse machen muss. Dazu war ja der ukrainische Präsident noch im März/April 2022 bereit. Erst die bedingungslose Solidarität des globalen Westens hat die harte Haltung der ukrainischen Regierung gegen Russland bestärkt.

Gerade jetzt müssen sich die Stimmen mehren, die klar machen, dass es auch für die Ukraine nicht ohne Kompromisse gehen kann. Daher sollten die ultranationalistischen Kräfte, die darin Verrat sehen, möglichst schnell isoliert werden. So könnte der ukrainischen Regierung verständlich gemacht werden, dass eine Unterstützung möglich ist, wenn sie sich von den Ultranationalisten bei Asow und Co. abgrenzt. Das sollte als Bedingung klar benannt werden.