EXPO-Themenpark als kultureller Hyperorganismus?

Das Buch "Hyperorganismen" ist die inhaltliche Nachbereitung des "größten Experiments in kollektiver Robotik"

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Die Expo ist vorbei - Veranstalter, Politiker und Sponsoren ziehen Bilanz, rechnen die Schulden auf, kalkulieren volkswirtschaftlichen, touristischen und infrastrukturellen Mehrwert. Aber was bleibt von den aufwendigen Inszenierungen und Präsentationen zu den Visionen des 21. Jahrhunderts in den Köpfen zurück - was könnte als kultureller Mehrwert verbucht werden? Anlass und Vorlage für eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex "Wissen", wie er im Themenpark der EXPO unter der Leitung von Stefan Iglhaut und einem sprichwörtlich verrücktem Team aus Medienkünstlern und Bastlern (der Künstlergruppe BBM), Robotikexperten, Szenographen, Musikern, Theoretikern ... inszeniert worden ist, kann der gerade erschienene Band "Hyperorganismen" sein.

Siehe auch aus dem Buch Hans Moravec: Kleine Wellen und Pfützen

Computergrafik "Schwarm". Bild: Martin Miranda-Lange

"Hyperorganismen" versammelt in vorbildlicher Weise ein breites Spektrum von Essays und Materialien, die sowohl den konzeptuellen und organisatorischen Entstehungsprozess dokumentieren, die Querbeziehungen zwischen den verschiedenen "Partnern" eines solchen Mammutprojekts (zumindest teilweise) offenlegen, die Machtgefüge und Kollaborationen des "größten Experiments in kollektiver Robotik" nachzeichnen und den radikalen politisch-kulturellen Background der grundlegenden inszenatorischen Idee zur Darstellung vernetzter Wissenssysteme aufreißt: dem Schwarmdenken autonomer Wissensagenten oder Roboter oder wie immer man die von Olaf Arndt "erfundenen" Gebilde nennen will, die eine der wenigen Zonen auf der EXPO bevölkert haben, die wirklich mit den Besuchern in intensive Interaktionen getreten sind.

Das Buch als Schwarm

Die "Hyperorganismen" als Buch funktionieren letztlich genau so, wie die 72 schwärmenden autonomen Projektionsroboter im Themenpark "Wissen": sie bilden Themen-Cluster, locken die Leserinnen und Leser in verschiedenste Gebiete und Abgründe postmoderner Wissensorganisation, umzingeln Lesende aus einer Vielzahl von Richtungen, greifen an mit scharfer Munition aus der Frühgeschichte des Internets, schmiegen sich dann wieder an durch literarische oder originelle theoretische Schreibweisen, machen Lesende zu Voyeuren beim Ablauschen von Handygesprächen und bei Einblicken in diverse interne Dokumente. Das Buch funktioniert also selbst als Sub- oder Hypertext , als "subversive Analyse" und macht wirklich neugierig, stellt Fragen, verleitet zum Nachforschen und Nachdenken.

Einer der Roboter ohne Hülle. Bild: Martin Miranda-Lange

Diese Publikation hebt sich also wohltuend ab von den bisher vorliegenden "offiziellen" zwei Bänden zum Themenpark, denen eine solche Nachhaltigkeit (mit gerade diesem Versprechen erhielt Hannover überhaupt den Zuschlag zur EXPO, S. 17) größtenteils abgeht - durch eine fast durchgehende affirmative Haltung zu den durchgeführten Projekten - zumeist mit Eigenbeschreibungen aus dem inneren Kreis der beteiligten Teams, ohne kritische Distanz oder problemorientierten Vermittlungsanstrengungen. Das ist umso erstaunlicher, als es sich doch bei den Themenparkausstellungen mit einem Etat von 250 Millionen plus X Millionen Sponsorengeldern wohl doch um ein Projekt von ausnehmend öffentlichem Interesse handelt, das zudem im Vorfeld insgesamt sehr kritisch diskutiert wurde.

Themenpark: Netzwerke des Wissens

So ist der Anspruch der Macher durchaus hoch angesetzt:

Das Verfahren, zunächst mit interdisziplinären und von kaum miteinander zu vereinbarenden Interessen geprägten Arbeitsgruppen eine Themenaussammlung zu betreiben, dann mit Wissenschaftlern, Ausstellungsmachern und Szenographen das Programm zu verdichten, um schließlich Partner unterschiedlichster Provenienz in ein einheitlichen Entwurf zu integrieren, wirkt umständlich und kraftraubend. Da es sich aber nicht um eine kuratorische Einzelleistung handelt, sondern um einen dem Anlaß entsprechenden komplexen Entwicklungsprozeß, und da für diese Ausstellung ein für kulturelle Projekte exorbitantes Budget und ein ungewöhnlich großer Publikumsandrang zu den Planungsgrößen gehören, ist dieser Aufwand gerechtfertigt. Die Dokumentation dieses mehrjährigen Ringens um eine inhaltliche und gestalterische Balance ist also in erste Linie die Ausstellung selbst - Geschichtsschreiber werden in den Projektarchiven aber die anfangs erwähnten Berge von Konzeptpapieren und Entwürfen finden, um sie zu verwerten und zu klassifizieren.

Stefan Iglhaut - Leben in der Infosphäre, in Themenpark der Expo 2000, Bd. 1, S. 129-132, hier: 132

Aber wo sind die Archive, fragt sich der kritische Netzwissenschaftler, findet im Katalog dazu nur eine kleine Anekdote zur Ablehnung eines Videoausschnitts, in dem - inspiriert durch Mike Davis' "City of Quarz" - ein Hammer einen Computermonitor zum implodieren bringt, durch den Sponsor Alcatel als zu destruktiv. Da haben wir wieder all unsere Vorurteile bestätigt...

Projekt-History: Von der Universalmaschine zum autonomen Maschinenschwarm

"Hyperorganismen" wird inhaltlich und konzeptuell von einem ausgedehntem Netzwerk von kooperierenden Biologen, Chemikern, Architekten, Philosophen, Mathematikern, Kulturwissenschaftlern, Robotikern und Künstlern getragen, und das eben gerade ohne die Unterstützung von Sponsoren als autonomes selbständiges Projekt in Zusammenarbeit mit dem kleinen "Internationalismus Verlag" herausgebracht wurde, der auch interessante Kataloge zu anderen Projekten der Gruppe BBM verlegt hat (etwa "Buna 4. Über die industrielle Verwertung von Arbeitskraft. Die IG Farben in Auschwitz", 1995 oder "Das Modell einer neuen Gesellschaftsordnung", 260 S. sehr viele Fotos und Texte von Stewart Home, Critical Art Ensemble, Billy Klüver u.v.m, 1999)

Hier liest sich die Entwicklungsgeschichte des Roboterschwarms spannend wie ein Krimi. Die radikalen Ansätze des Entwicklungsteams lehrten den Expo- und Firmenvertretern, dem TÜV, den Controllern und den konkurrierenden Anbietern immer wieder das Fürchten - setzten sich aber - wie im Märchen - dann glücklicherweise doch durch.

Am Anfang stand die Idee einer überdimensionalen Universalmaschine, die brachial durch die Wände der Ausstellungshalle bricht, sich in krabbelnde Einzelteile zerlegt, um sich schließlich selbst zu entsorgen und aufzukehren. (So Stefan Iglhaut in einem (simulierten) SMS-Gespräch mit dem Leiter des Themenparks Martin Roth, in dem viele interne Detail-Informationen und Konflikte ausgeplaudert werden, Hyperorganismen, S. 295-309, hier: 301)

Der erste offizielle Entwurf für die Expo vom Architekten und Szenographen François Confino versuchte noch ein überdimensionales spektakultäres Bild der Netzwelten in einer Landschaft aus verformbaren Gittern mit darunterliegenden thematischen Schauplätzen zu entwerfen, in denen sich die bekannten, auf der Expo viel zu oft eingesetzten, stationären Multimedia-Show-Räume dem interpassiven Besuchern aufdrängen müssen. Dagegen setzt die Crew um Olaf Arndt ein dynamisches Konzept eines Netzwerkes schwarmartig operierender Roboter, die in permanenter Performance zwischen den Zuschauerschwärmen interagieren: eben kein Netzwerk darstellen oder simulieren, sondern wirklich eins bilden.

Und genau hier fangen die Schwierigkeiten an: das Institut für Robotik und Systemdynamik rät dringend von einer solchen Umsetzung ab: "2 % der Besucher genügen, um alle Roboter ... abzuriegeln." (S. 12) Auch der TÜV, deutsche Forschungsinstitute für Künstliche Intelligenz (GMD und DFKI) und das beteiligte Konsortium von High-Tech-Firmen sehen gerade in dieser selbständigen Eigenbewegung eine Gefahr, die kontrolliert, versichert, vermieden, vorherbestimmt, etc. werden muß.

Hier hat es eine Künstlergruppe einmal wirklich geschafft, ins Zentrum der gesellschaftlichen, kulturellen und technologische Auseinandersetzungen vorzudringen - und letztlich durch beharrliches Weiterarbeiten und Vernetzen von Wissenssystemen (etwa in der schwierigen Frage der Schwarmprogrammierung) so ein komplexes Projekt in all seinen Facetten durchzuführen und entscheidende interdisziplinäre Übersetzungsarbeit zu leisten, "Hyperorganismen" zu bauen:

Schwarm, Rhizom, Guerilla . Eine Subversionsgeschichte?

"Es heißt oft, die ZKM-Ausstellung zeige, wie man von der Natur lernen kann. Natürlich ist Biologie, mit allen ihren Komposita (wie Mikro- und Nanotechnologie) hochgradig interessant. Doch spannend wird solches Wissen erst in seiner sozialen Ableitung, als Übersetzung in die Wissenschaft vom menschlichen Zusammenleben. Das Rhizom beispielsweise ist - wie der Schwarm - eine philosophische Idee, keine Pflanze: ein Hyperorganismus.

Es steht für ein stabiles, erfolgreiches System unterirdischer, subcutaner Verzweigungen, Produkt der unschlagbaren 'Intelligenz der Natur'. Das knotige Wurzelwerk Rhizom zeigt auf bildhafte Weise, was jedermann heute noch von der in bestimmten linken Theoriekreisen paradigmatisch gewordenen vietnamesichen Guerilla lernen kann: zusammenhalten, aber nicht zusammenhängen; unabhängig sein, aber eine Gemeinschaft bilden.

Eine Guerilla lebt ohne lokalisierbares Zentrum, sie bewegt sich soweit außerhalb der orthogonalen Pläne der geistigen und physischen Planquadrate jeder Art von Regime, sie läuft derart quer zu den Alleen der Demokratie, dass man in der Tat eine gewisse Natürlichkeit, ein wieder-Natur-werden in ihr entdecken kann. Guerilla ist die Inkarnation des Prinzips, nicht das Eine zu sein, sie ist eine Vielheit, Wildwuchs mit Steuerung ohne Kontrolle.

Die Wahl fiel auf den Schwarm, jedoch nicht, um das Leben der Datendrohnen in einer postdarwinistischen Elektrowelt zu karikieren. Der Schwarm steht lediglich für ein plausible äußere Form, die unmittelbar klar macht, wie die sozialen Bewegungen und ihr künftiges Leben, ihre Möglichkeiten im Umgang mit den neuen Medien funktionieren werden: jenseits von vordergründigen Browserfaschismus-Ängsten und noch weiter außerhalb der verlogenen affirmativen Ästhetik einer kollektiven Intelligenz des ,Netzes', das mit Hilfe unklar verschlungener, abflußähnlich gurgelnder, alltäglich sich selbst fortspülender Neologismen den albernen Versuch unternimmt, den Zusammenschluß von einem Telefonkabel und einem Bildschirm zur zweiten Natur zu erklären." (Vorwort der HerausgeberInnen: Hyperorganismen, S. 15 ff)

Netzwerke der Inhalte

Bild: Martin Miranda-Lange

In dem Band findet sich eine bemerkenswert breite Themenvielfalt von Beiträgen, die das Thema noch einmal in verschiedensten - auch politisch-kulturellen- Kontexten aufgreifen, teils Originalbeiträge, teils von Ronald Voullié und Gabriele Ricke (den Übersetzern von Deleuze & Guattaris "Mille Plateau") sorgfältig übersetzte Vorträge, Essays oder im Netz zirkulierender Texte, die alle für den Kontext des Buches überarbeitet wurden.

Bemerkenswert sind z.B. (die Netzadressen verweisen jeweils auf die englischen Originalfassungen), "Das Manifest der Digitalkunsthandwerker" (Richard Barbrook, Pit Schulz), "Postmediale Wüsten" (Ricardo Dominguez), Parabeln des Virtuellen (Brian Massumi), "Flecken und Spiegelungen" (Hans Moravec), um nur einige Beispiele aus der gebotenen Vielfalt zu nennen (hier befindet sich das vollständige Inhaltsverzeichnis).

Netzwerke der Gestaltung: die Enden des Buches

Bild: Martin Miranda-Lange

Dem Band sind 5 Mappings vorangestellt, auf denen verschiedene topographische Vernetzungen zu den Beiträgen und zum Projekt eingetragen sind, Landkarten des Wissens, Orte der Kollaboration und eine sehr plastische graphische Projektgeschichte. Auf 21 ganzseitigen Farbfotografien sind Entwürfe, Planskizzen und Ausstellungsimpressionen zu sehen, auf der beiliegenden (mixed Media) CD-ROM (produziert von Martin Hoyer, ZKM-Team Hannover) finden sich eine Fülle weiterer visueller und akustischer Materialien und dokumentarische Filmsequenzen.

Auf dem Audio-Part hört man den "echten" Schwarmsound aus der Ausstellung. Play. Sound on und Gebrauchsanweisungen befolgen:

Die Soundbewegungen im Raum und die Steuerung der Lautstärke finden ... in Echtzeit statt. Die Positionen und Bewegungen der Sounds entsprechen der Schwarmbewegung. ... Obsessionen ausleben, Gier bedienen, den Dienst verweigern. Nur so holt man sich ein Stück vom Spaß zurück, das mit dem eigentlichen Erlebnis zu tun hat. Vergeßt Papa Czukay, ... vergeßt Dj Spooky, Baudrillard gehört ins Regal, auf dem Plattenteller wird er lauwarm. Sich wie in Grönland fühlen können, heißt immer noch hinzufahren. Auf der CD weiter hinten im Buch könnt ihr vom Großen Eis eine Scheibe abschneiden, aber die Zunge bleibt nur kleben, wenn ihr mitten zwischen den Biestern steht und an der weißen Hülle leckt.

Hartmut Bruckner, der auch die Sounds komponiert und in der Ausstelllung installiert hat: Schwarm-, Schreib- und Klangmaschinen. Über einige Hörerlebnisse, S. 25-35, hier: 25

Aber: ich gerate ins Schwärmen. Warum nicht. Einziger Kritikpunkt: Leider sind die Texte nicht auf der CD-ROM, Links und Netzunterstützung findet sich nur sehr spärlich in den bibliographischen Angaben; als Reflex darauf habe ich einige Sequenzen in einem aktuellen Netzschreib-Projekt eingeschleust, zum ausschwärmen (wieder) ausgesetzt ins Netz.

Olaf Arndt, Stefanie Peter, Dagmar Wünnenberg (Hg.): Hyperorganismen. Essays, Fotos, Sounds der Ausstellung "Wissen", Internationalismus Verlag, Hannover 2000, incl. mixed Media CD-ROM (enthält: 19 min-Sound-Remix, Animationsfilm und 19 min. dokumentarischen Videofilm "72 Artefakte" von Carsten Aschmann und Agniesczka Jurek, für Mac und PC), ISBN : 3-931126-54-4, DM 78,00-SFR 72,00 - öS 569. Bestelladresse: kundlatsch@internationalismus.de.

Heiko Idensen ist Pionier der deutschen Hypertextszene und kollaborativer Schreibprojekte.