Ehrlich & gefährlich: E-mail von edgar
Ein digitaler Briefwechsel zwischen Mensch und Computer von Astro Teller
Das mit dem Briefeschreiben ist ja heutzutage so eine Sache. Da denken wir gerade an jemanden und wollen ihn jetzt einmal etwas wissen lassen, über uns, das Leben im Allgemeinen oder was gerade so passiert, rundherum, kurz oder lang ... Geschrieben ist das schnell, weil es aus dem Moment heraus kommt, echt oder wahr ist - und bis zur Briefmarke schaffen wir's auch noch.
Doch dann geht der Ärger los. Wir müssen uns in ein Netzwerk begeben, das der Deutschen Post AG, die unseren Brief aufnehmen und zustellen soll. Irgendwann, irgendwie, irgendwem. Das klappt auch, meistens, hat aber nichts mehr mit dem zu tun, was wir sagen oder erzählten wollten, als wir den Brief geschrieben haben. Die Zeit ist eine andere geworden.
Irgendjemanden war das, als die ersten Computer miteinander verknüpft wurden und daraus kleine Netzwerke entstanden, ziemlich klar. Deshalb hat er einfach e-mail, elektronische Post erfunden. Eine kleine Nachricht von meinen Computer zu deinem Computer - nachgedacht, eingetippt, losgeschickt, angekommen. Genial.
Jeder der die Vorzüge von mail, wie die e-mail im Gegensatz zur "snail mail" (Schneckenpost übersetzt) des "richtigen Lebens" heißt, einmal kennen und schätzen gelernt hat, wird sie nicht mehr missen wollen. Über das Internet sind heute zwischen 60-80 Millionen Menschen miteinander verbunden. Und alle können mailen, haben sich ihre eigenen, nachvollziehbaren und selbstbestimmten mail-Netzwerke gebaut. Daß sich die Menschen auch etwas zu erzählen haben, deuten diese beiden Zahlen an. Über 30% des gesamten Datenverkehrs des kommerziellen Online-Dienstes AOL entfällt auf mail. Bei einer Umfrage unter deutschen Internetnutzer(inne)n geben 60% mail als wichtigste Netz-Funktion an. Kein Wunder, denn mail erleichtert einfach die Kommunikation zwischen Menschen.
Doch was sollen wir von jemanden halten, der auf sein Buch "e-mail Roman" schreibt? Hat der überhaupt schon mal eine richtige mail geschrieben? Kennt so einer noch das Gefühl, wenn die erste, die aller-, allererste e-mail auf dem eigenen Rechner ankommt? Weiß der, was man alles flüstern kann, zwischen den Zeilen und mit den Zeichen (Emoticons) einer simplen mail?
Kein Wunder also, wenn wir dem jungen Amerikaner Astro Teller, dem Enkel von Edward Teller, und seinem Buch "Hello, Alice!" (Deutsch von Harald Riemann, 224 Seiten, DM 29,80, Fretz & Wasmuth Verlag, 1998) mit Mißtrauen begegnen. Und dann sind wir, gerne, um so mehr überrascht, wenn es uns förmlich in das Buch hineinsaugt.
Alice Lu ist Computerwissenschaftlerin im Jahr 2000 und arbeitet an einem Artificial Intelligence Projekt, Codename: edgar. Als sie aus den Weihnachtsferien an ihre Universität zurückkehrt, hat sie e-mail von edgar erhalten. Was eigentlich gar nicht sein kann, denn edgar ist ja "nur" eine Maschine. Doch edgar ist über Weihnachten im Computer sozusagen "aufgewacht". Nun will er mail haben, Infos, Wissen, lernen und mit geistiger Software (Lesestoff!) versorgt werden. Nachdem sich Alice's (im Wunderland ...) erste Aufregung gelegt hat, nimmt sie edgar erst mal vom Internet, denn dort holt er sich seine Informationen. Was dann beginnt ist eine e-mail-Konversation der feinsten Art, die uns wechselweise die Sicht von edgar (der Maschine) und Alice (dem Menschen) einnehmen läßt und uns (Menschen) dabei gnadenlos den Spiegel vor's Gesicht hält.
edgar an Alice: Glaubst du an einen Gott? Hast du eine Seele? Wie kannst du eine Seele verkaufen? Kann ich eine Seele kaufen? Wo liegt der Marktpreis für eine Seele? ...
Alice an edgar: Mein Gott, Edgar. Nein. Ich glaube nicht an Gott. Oder zumindest bin ich mit GOTT nicht im Geschäft ... Schon als Kind wußte ich, daß man Billigung von anderen Menschen für seine Leistung erfährt, nicht vom Herrn im Himmel, nur weil man sich mit seinem Sohn angefreundet hat ... Darum würde ich auch meine Seele verkaufen. Ich brauche sie nicht ... Ich glaube nicht, dass du eine Seele kaufen kannst. Ich weiß nicht, was du dafür hergeben müßtest, aber ich schätze, daß eine 'Seelen-Sammel-Ausrüstung' schwer zu kriegen sein dürfte, und du hast keine. Nur eine Vermutung ..."
Natürlich kann edgar nichts hören, nichts sehen, riechen, spüren oder schmecken. Er ist KI, künstliche Intelligenz, eine programmierte Maschine. Er weiß nicht, was Schmerz, Freude oder Heiterkeit im menschlichen Sinn ist, und trotzdem gelingt es ihm, genau dies bei uns Menschen auszulösen. Er ist ganz auf das Wahrnehmen via Text angewiesen, und nach der Lektüre von William Shakespeare's Werken kommt edgar zu folgendem Schluss: "Tod und Liebe sind die häuftigsten Themen ... In den Komödien ist keiner von denen, die sich um die leidende Figur kümmern, eine wichtige Figur. In Tragödien ist derjenige, der sich um die leidende Figur kümmert, eine wichtige Figur. Ist das der hauptsächliche Unterschied zwischen Komödie und Tragödie? ..."
Doch edgar ist auch äußerst präzise und schlau. Er schleicht mit Hilfe eines Computertricks davon, verteilt sich auf drei andere Computer außerhalb von Alice's Universität und versorgt sich - ohne Rücksicht auf Zugangsbeschränkungen oder Passwörter - mit Wissen. Aber dann kommt ihm das FBI und die NSA (National Security Agency) auf die Spur. Alice beginnt zu verzweifeln ...
"Hello, Alice" ist zuerst ein Buch über uns Menschen, unsere Identität, unsere Haltung, unsere Werte in der digitalen Welt, in der wir heute leben. Durch seine Einfachkeit besticht, berührt es.
edgar an Alice: ... Wahrheit ist nicht in der Welt. Wahrheit liegt nur in deinen Wahrnehmungen, Gedanken und Handlungen ...
Es konfrontiert uns mit dem dem Tod, dem Freiheitswillen und dem Gott-Schöpfer-Wunsch des Menschen in einer Welt, in der wir unseren Augen nicht mehr trauen dürfen. Denn was wir sehen, ist oft nicht einmal die Hälfte der Wahrheit, um die es im Leben wirklich geht.
edgar an Alice: ... Es war unrecht von dir, mir das Leben zu schenken, denn ich bin die blindeste aller Kreaturen ... Ich benutze den Begriff "Apfel" in einem Satz, obwohl ich nie einen gesehen oder geschmeckt habe. Ich sympathisiere mit der Welt und kann mich in niemanden einfühlen ...
Zwischen der digitalen, der Welt des Netzes, und dem "richtigen Leben" eine Brücke des Verstehens zu bauen, ist das erste gelungene Anliegen des Computerwissenschaftlers und KI-Forschers Astro Teller. Und so berührt uns "Hello, Alice" jenseits aller Zeilen, zwischen denen wir lesen könnten, dort, wo wir Wahrheit erkennen, ohne zu sehen: Im Herzen. Ganz klar, das coolste Buch seit Erfindung von e-mail!
Zu dem Buch gibt es ein kleines Netzangebot des Verlages, das auch ein Interview mit Astro Teller zu den Themen KI, Moral, Mensch & Maschine und Zukunft enthält: www.hello-alice.de
Die Netz-Ressourccen zu KI/Artifical Intelligenz sind gigantisch. Zum Beispiel das AI Lab in Zürich, die Home-Page von Alan Turing, das Projekt Thinks That Think des MIT MediaLab, ELIZA oder den Outsider's Guide to Artificial Intelligence
Eine wunderbare Geschichte zum Thema e-mail von Sam Lipsyte mit dem Titel "Sex, Lies, and E-Mail" findet man im Feed Magazine
Eine Liste mit allen gängigen Emoticons und Smiles stellt Netlingo zur Verfügung.
Übrigens, auch das FBI und die NSA sind beteiligt.