Eiertanz in Myanmar
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Warum Aung San Suu Kyi eine tragische Gefangene ihrer Realpolitik ist. Und wer wirklich die Macht in der ehemaligen britischen Kolonie Burma hat
Im Schatten der Pandemie und der US-Präsidentenwahlen geriet eine wichtige Entscheidung in Myanmar, dem ehemaligen Burma, aus dem Fokus der medialen Aufmerksamkeit. Die Nationale Liga für Demokratie, kurz NLD, der die Friedensnobelträgerin Aung San Suu Kyi vorsteht, hat die zweite freie Parlamentswahl seit der Einleitung von demokratischen Reformen durch die Militärjunta haushoch gewonnen. Die Zeitung Myanmar Times verkündete, dass die NLD ihre absolute Mehrheit verteidigen und sogar ausbauen konnte.
Die Parlamentswahlen hatten aber einen Makel: Die Wahlkommission hatte entschieden, in einigen von ethnischen Minderheiten dominierten Konfliktregionen erst gar nicht wählen zu lassen. Rund 1,5 Millionen Menschen waren dadurch vom demokratischen Prozess ausgeschlossen. Das Mandat der NLD wurde überwiegend von den Bamar-Burmesen, der ethnischen Mehrheitsbevölkerung des Vielvölkerstaats, der Aung San Suu Kyi selbst angehört, bestätigt.
Gräueltaten an Rohingya
Vor einem Jahr, am 11.12.2019 trat Aung San Suu Kyi vor den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag. Im Namen der Organisation für Islamische Zusammenarbeit hatte Gambia den Antrag gestellt, vom IGH prüfen zu lassen, ob das burmesische Militär im Bundesstaat Rakhaing an der muslimischen Minderheit der Rohingya einen Genozid verübt hatte. In einem ungewöhnlichen Schritt trat die als "De-facto-Regierungschefin" bezeichnete Außenministerin Myanmars persönlich vor das Gremium, um emotional und bestimmt die Politik ihres Landes zu verteidigen.
Gräueltaten an Rohingya, einer von buddhistischen Burmesen verfolgten muslimischen Minderheit, einem Volk, das im Westen bisher kaum jemanden geläufig war, füllen seit drei Jahren die Medienberichte. Mehr als 750.000 Menschen mussten vor dem Terror der burmesischen Militärs ins benachbarte Bangladesch flüchten. Die Offensive forderte bis zu zehntausend Tote. Die Geflüchteten berichteten von Leichen, die im Grenzfluss angeschwemmt wurden, abgebrannten Dörfern und Massenvergewaltigungen. Führende UNO-Diplomaten sprachen von einer "Politik der ethnischen Säuberungen", Frankreichs Präsident Emmanuel Macron von Genozid.
Bei ihren öffentlichen Auftritten spielte Aung San Suu Kyi die Verbrechen an den Rohingya herunter. In Den Haag sprach sie erstmals von der Möglichkeit, dass einzelne Aktionen des Militärs unverhältnismäßig gewesen und dass es zu Verletzungen des humanitären Völkerrechts gekommen sein könnte.
Doch sie vertraue auf die Fähigkeit und den Willen der Justiz ihres Landes und deshalb sei es besser, dass sie sich nicht in ihre Arbeit einmische. Gleichzeitig betonte sie aber die Notwendigkeit der Militäraktion und verteidigte diese als legitime Aktionen gegen Terroristen. Auch lobte sie die Schritte, die die Zentralregierung seitdem zur Verbesserung der Situation in Rakhaing unternommen hätte.
Gefallene Hoffnungsträgerin
Empörung riefen zunächst das lange Schweigen und die später nur halbherzige Stellungnahme der "starken Frau" Myanmars hervor. Seitdem wird sie auf den Fotos von Nachrichtenagenturen nicht mehr als mild lächelnde Freiheitsikone mit einer Blume im Haar, sondern als ernst, düster und gereizt blickende "Iron Lady" abgebildet.
Eine herbe Enttäuschung für die westliche Gesellschaft und ihre Medienwelt, die so sehr an ein positives Narrativ mit Happyend in Myanmar glauben wollten. "Gefallene Hoffnungsträgerin", "Aung San Suu Kyi verliert ihren Heiligenschein", "Eine Nobelpreisikone verblasst" titelten deutsche Printmedien. In muslimischen Ländern wurden ihre Konterfeis von wutentbrannten Menschenmassen verbrannt.
Einhellig verlangten die Kritiker, ihr den Friedensnobelpreis abzuerkennen und das Land wieder mit Sanktionen zu belegen. Doch vermutlich wird es in Myanmar auch nach ihrem neuerlichen Wahlsieg kein Happyend geben. Und daran wird nicht Frau Aung San Suu Kyi die Schuld tragen.
Ausgeblendete Ereignisse
Die Situation in Bundesstaat Rakhaing, wo die Rohingya leben, erregte zuletzt viel mediale Aufmerksamkeit, doch der Konflikt ist nicht neu und er ist nicht der einzige im Vielvölkerstaat Myanmar. Im Nordosten des Landes flammen immer wieder Kämpfe auf, bei denen ebenfalls tausende Menschen vertrieben und getötet wurden. Diese Ereignisse werden von westlichen Medien gänzlich ausgeblendet, weil sie komplex sind und nicht ins Bild eines von friedliebenden Buddhisten bewohnten Hoffnungslandes passten.
Der entfesselte Nationalismus, der seit Jahrzehnten von der Militärregierung kultiviert und zur Staatsdoktrin erhoben wurde, fiel und fällt unter den Bedingungen der neu gewonnenen Meinungsfreiheit, aber vor allem durch die explosionsartige Ausbreitung der sozialen Medien, die das Land mit Gerüchten, Verschwörungstheorien und Falschmeldungen überschütten, auf einen fruchtbaren Boden.
Das verleiht diesen Konflikten eine neue Dimension und gibt den Generälen freie Hand, "mit inneren Feinden" oder, in internationaler Diktion, mit "islamistischen Terroristen" ein für alle Male aufzuräumen. Die Militärs haben das Volk ausnahmsweise auf ihrer Seite und Frau Aung San Suu Kyi müsste, könne sie frei handeln, gegen die Mehrheit ihrer Landsleute entscheiden. Ein Schritt, der ihr die Macht kosten würde. Zudem kommt ihr durch ihre ideellen und familiären Verknüpfungen mit der politischen Elite Myanmars eine überaus tragische Rolle zu.
Die Staatsrätin
Nach über 50 Jahren Militärherrschaft erlaubte die burmesische Führungsriege ab 2010 eine vorsichtige Demokratisierung ihres bis dahin streng kontrollierten und isolierten Landes. Dieser Öffnung gingen jahrelange Vorbereitungen in Form der sogenannten "Roadmap to a Discipline Flourishing Democracy" voraus, die eine neue Verfassung ausarbeiten und teilweise demokratische Wahlen vorbereiten sollte.
Dabei spielten ein Generationswechsel in der Militärführung und Kontakte des Militärestablishments bzw. seiner Familienangehörigen zu wirtschaftlich erfolgreichen Ländern der Region wie Thailand, Singapur, aber auch China, wohin viele von ihnen ihre Kinder zum Studieren schickten oder zum Einkaufen pendelten, eine wesentliche Rolle.
Zunehmend drängten auch armeenahe Geschäftsleute auf eine Öffnung, um vom regionalen Wirtschaftsboom mitprofitieren zu können. Die westliche Sanktionspolitik hatte hingegen nur wenig Einfluss auf diese Entwicklung, weil sie vom wirtschaftlichen Engagement Chinas konterkariert wurde. Dieser zunehmende Einfluss des mächtigen Nachbarn dürfte den auf Autarkie bedachten Militärmachthabern zunehmend Unbehagen bereitet haben, so dass auch in Armeekreisen Rufe nach einer vorsichtigen Umorientierung Richtung Westen laut wurden.
Immer stärker wurde Myanmar zu einem Spielball im neuen Great Game der Weltmächte China und USA. Ein geopolitisch motiviertes Gezerre um Chinas Nachbarn ist im Gange, bei dem sich für die Regierungen auch neue Freiräume eröffnen.
So verhallte nach dem anfänglich lautstarken Menschenrechtsaufschrei die Kritik der USA an den Massakern an den Rohingya sehr rasch, um Myanmar nicht wieder Richtung China abdriften zu lassen. China hatte die Zeit der Militärdiktatur dazu genutzt, seine wirtschaftliche Dominanz zu festigen. Seit der Öffnung gab es zunehmend Zeichen einer Distanzierung zum großen Nachbarn, etwa die Einstellung einiger wichtiger Infrastrukturprojekte.
Bei den ersten freien Parlamentswahlen seit 25 Jahren im November 2015 gewann Aung San Suu Kyis Oppositionspartei NLD 77 Prozent der Sitze im Abgeordnetenhaus. Allerdings gewährt die unter der Militärjunta ausgearbeitete Verfassung Vorrechte für die Armee, etwa dass ein Viertel der Parlamentsmandate automatisch an Militärangehörige vergeben werden müssen. De facto verfügt das Militär über ein Vetorecht im Parlament.
Weil ihre beiden Söhne britische Pässe besitzen, wurde Aung San Suu Kyi das Amt der Staatspräsidentin verwehrt. Sie hat eine nur unscharf definierte Position als Staatsrätin und bekleidet das Amt der Außenministerin. Sie leitet zwar die Regierungsgeschäfte, hat aber keinerlei Kontrolle über die Streitkräfte.
Ihrer Freilassung aus dem Hausarrest im November 2010 gingen langjährige geheime Verhandlungen über ihre künftige Rolle voraus. Die Macht ist nun offiziell in der Hand ihrer Partei, ihre Handlungen und Entscheidungen müssen aber mit den hochrangigen Militärs abgestimmt werden. Zudem soll sie in der erst vor 15 Jahren in Zentral-Myanmar neu erbauten und halbfertigen Hauptstadt Naypyidaw isoliert und von zweifelhaften Beratern aus den Reihen des Militärs umgeben sein.
Der Politikerin werden Beratungsresistenz und eine gewisse Schwäche, Kompromisse einzugehen, nachgesagt, sie versuche viele Probleme auf eigene Faust zu lösen. Ein Beispiel dafür ist die zunehmende Verschärfung der jahrzehntealten ethnischen Konflikte. Aung San Suu Kyi hat die Verhandlungen mit bewaffneten Rebellengruppen in ihre eigene Hand genommen, ohne über notwendige Erfahrung und Kontakte zu verfügen, die die bisherigen Verhandler der Armee hatten.
Ein Déjà-vu?
Eine Situation, wie sie bereits 1990 eingetreten war, ist durchaus möglich und es stellt sich die Frage, ob der Westen, der lautstark seine kritische Stimme erhebt, dies wirklich wünscht. Sollte Frau Aung San Suu Kyi abtreten müssen, könnte das Militär das Demokratie-Experiment für gescheitert erklären. In den Armeekreisen stehen bereits mächtige Interessenten für das Präsidentenamt in den Startlöchern.
Als Aung San Suu Kyis NLD 1990 zum ersten Mal unerwartet zu Wahlen zugelassen wurde und diese haushoch gewann, flackerte die Hoffnung nur kurz auf. Die Partei wurde kurz danach von der Militärjunta zerschlagen, ihre Mitglieder verhaftet. Diesem Volksentscheid gingen blutige Proteste mit mehreren Tausend Toten, Verhaftungen und Einschüchterungen voraus.
Die "Lady", wie sie von den Menschen in Myanmar genannt wurde, verkam danach, von ein paar kurzen Unterbrechungen abgesehen, bis November 2010 im Hausarrest in Yangon und durfte außer ihrem Leibarzt und zwei Hausmädchen keine Besucher empfangen. Sie verlor all diese Zeit hindurch ihre große Ausstrahlung nicht und verschrieb sich in zahlreichen Schriften dem gewaltlosen Widerstand.
Vor diesen Ereignissen hatte sie den Großteil ihres Lebens im Ausland verbracht. Im Alter von vierzehn Jahren folgte sie ihrer Mutter nach Indien, nachdem diese zur burmesischen Botschafterin ernannt wurde. Später studierte sie Philosophie und Wirtschaft in Oxford, arbeitete bei der UNO in New York, unterrichtete den bhutanischen Thronfolger und half sein Außenministerium zu organisieren. Bis 1988 lebte sie mit ihrem britischen Ehegatten in London.
Nachdem ihre Mutter erkrankte, weilte sie zum Zeitpunkt der Studentenproteste zufällig in Yangon. Als Tochter des vergötterten Freiheitskämpfers und des Vaters der burmesischen Unabhängigkeit, General Aung San, wurde sie nicht ganz freiwillig auf die Spitze der Opposition hinaufkatapultiert und damit als Symbol der Demokratiebewegung in der ganzen Welt bekannt. Zusammen mit einigen abtrünnigen ehemaligen Generälen und langjährigen Weggefährten des Langzeit-Diktators Ne Win gründete sie die "Nationale Liga für Demokratie".
1991 wurde ihr, bereits unter Hausarrest, der Friedensnobelpreis verliehen. Ihr Leben und ihr Werdegang verdeutlichen den tiefen intellektuellen Graben, der sie vom Mindset ihrer einstigen politischen Kontrahenten und der jetzigen politischen Partner aus der Armee trennt. Gleichzeitig ist sie durch ihre familiäre Geschichte auf eine paradoxe Weise mit den Militärmachthabern untrennbar verbunden.