Eiertanz um antisemitisches Flugblatt: Aiwanger und sein Zielgruppen-Dilemma

Droht Hubert Aiwanger ein Gesichtsverlust vor Wählern, die er gerade erst für sich einnehmen konnte? Foto: Stefan Brending / CC-BY-SA-3.0 DE

Bayerns Wirtschaftsminister will seinen Posten behalten. Dazu braucht er die Gunst der Unionsparteien. Aber wie steht er zu Wählern, denen seine "Jugendsünde" sympathisch ist?

An Rücktritt scheint der bayerische Wirtschaftsminister, stellvertretende Ministerpräsident und Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger wegen der sogenannten Flugblatt-Affäre bisher nicht zu denken. Ob ihn die mögliche Verbreitung des antisemitischen Pamphlets in seiner späten Schulzeit vor 36 Jahren – oder vielmehr sein späterer Umgang damit – große Stimmenanteile kosten wird, ist ungewiss. Seit einer Woche ist es einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, weil die Süddeutsche Zeitung (SZ) darüber berichtete.

Aiwangers Performance wirkt, als träfe ihn das, was er "Schmutzkampagne" nennt, völlig unvorbereitet. Als hätte er die Sache bestenfalls verdrängt.

Zielgruppentechnisch eiert er herum – zwischen denjenigen, die voller Verständnis für seine "Jugendsünden" sind und zu viel Reue politisch völlig unsexy fänden, und den bürgerlichen Demokraten, die sich fragen, ob er sich im Wesenskern verändert hat, seit er als 17-Jähriger die mutmaßlich von seinem Bruder verfasste "Satire" über das "Vergnügungsviertel Auschwitz" mit sich herumschleppte. Nach Aussage eines früheren Mitschülers hat er zu dieser Zeit auch den Hitlergruß gezeigt – aber das weiß er nun angeblich nicht mehr so genau.

Welche Stimmen Aiwanger verlieren und welche er gewinnen könnte

Einige Stimmen weniger von Liberalkonservativen könnten es bei der Landtagswahl am 8. Oktober schon werden – aber vielleicht auch einige mehr aus Kreisen, die sich sonst für die AfD entschieden hätten. Sicher ist nur, dass eine Neuauflage der Koalition der Freien Wähler mit dem Seniorpartner CSU ganz unabhängig von möglichen Stimmenverlusten schwieriger wird. Der CSU-Chef und Ministerpräsident Markus Söder bekommt Druck aus den Reihen der Schwesterpartei CDU, sein Verhältnis zu Aiwanger und dessen Verhältnis zu tiefbraunem Gedankengut zu klären.

In der CDU gibt es bürgerliche Antifaschisten wie Ruprecht Polenz, denen an Aiwangers ersten Reaktionen auf den SZ-Bericht sofort aufgefallen war, dass er "kein Wort des Bedauerns gegenüber den Jüdinnen und Juden in Deutschland" gefunden habe.

Zu einer Entschuldigung hat sich Aiwanger am Donnerstag durchgerungen. An diesem Freitag erhöhte Söder jedoch den Druck und forderte Aiwanger auf, seinen 25 Punkte umfassenden Fragenkatalog zu beantworten – "am besten noch heute", betonte Söder laut einem aktuellen Bericht der SZ.

15 Jahre Bangen – und trotzdem kalt erwischt?

Wenn es stimmt, dass sich Aiwanger schon 2008 Sorgen machte, ob ihm die Episode aus seiner Jugend eines Tages auf die Füße fällt, dann sollte sich die Fraktion der Verständnisvollen zumindest fragen, ob der Freie-Wähler-Chef und bayerische Wirtschaftsminister zu den hellsten Kerzen auf der Torte gehört – denn sonst wäre er besser vorbereitet.

Laut einem Spiegel-Bericht soll sich Aiwanger im Jahr 2008 bei dem damaligen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) über Nachforschungen zu seiner Vergangenheit beschwert haben. Das berichtete das Hamburger Magazin am Donnerstag unter Berufung auf Zeugenaussagen und interne Vermerke. Entsprechende Vorwürfe zu seiner politischen Ausrichtung kursierten offenbar schon früh unter ehemaligen Schülern und Lehrern in Niederbayern – und erreichten wohl auch CSU-Kreise in der Landeshauptstadt.

Nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung hatte Aiwanger vor rund 15 Jahren eine Parteifreundin zu seinem früheren Lehrer geschickt. Die Frau soll sich erkundigt haben, ob von ihm "Gefahr" für Aiwanger ausgehe. Nach den Worten des Lehrers sei es dabei "eindeutig" um das antisemitische Flugblatt gegangen. Als dessen Verfasser bezeichnet sich inzwischen sein Bruder, den Aiwanger damals gedeckt haben soll, indem er die Schuld auf sich nahm.

Ehemalige Lehrer und Mitschüler, mit denen die SZ gesprochen hat, mussten vielleicht auch deshalb wieder an den Vorfall denken, weil Aiwanger im Juni bei einem Auftritt in Erding reichlich Applaus von AfD-Anhängern bekommen hatte, ohne sich abzugrenzen.

Tenor: Entschuldigung, aber ich bin hier das Opfer

Seit einer Woche zieht es nun breitere Kreise, dass er als 17-Jähriger im Schuljahr 1987/88 mehrere Exemplare des antisemitischen Flugblatts mit Holocaust-Witzen in der Schultasche mit sich geführt hatte.

Vor zwei Tagen twitterte er dazu noch: "Schmutzkampagnen gehen am Ende nach hinten los." Am gestrigen Donnerstag folgte dann eine kurzfristig einberufene Pressekonferenz. Dort schlug Aiwanger zunächst einen anderen Ton an:

"Ich bereue zutiefst, wenn ich durch mein Verhalten in Bezug auf das in Rede stehende Pamphlet oder weitere Vorwürfe gegen mich aus der Jugendzeit Gefühle verletzt habe. Meine aufrichtige Entschuldigung gilt zuvorderst allen Opfern des NS-Regimes, deren Hinterbliebenen und allen Beteiligten und der wertvollen Erinnerungsarbeit." Er distanziere sich in aller Form "von dem ekelhaften Inhalt" des Flugblatts, so Aiwanger.

Er könne sich "nicht erinnern, jemals einen Hitlergruß gezeigt zu haben", ging er auf den Vorwurf des ehemaligen Mitschülers ein. Andere Vorwürfe bezüglich menschenfeindlicher Witze könne er aus seiner Erinnerung weder bestätigen noch vollständig dementieren.

Direkt im Anschluss ging er allerdings wieder in die Offensive und ließ keinen Zweifel daran, dass er sich als Opfer einer Kampagne sieht: Er habe den Eindruck, er solle "politisch und persönlich fertig gemacht werden". Es werden ein falsches Bild von ihm gezeichnet, er sei nie ein Antisemit und Menschenfeind gewesen. "Das bin nicht ich, das ist nicht Hubert Aiwanger."

Fragen ließ er nach dem abgelesenen Pressestatement nicht zu. Sein Dilemma: Gar keine Entschuldigung oder ein kurzes "Sorry" würde nicht reichen, um die Koalitionsfähigkeit zu wahren, das hat er begriffen – eine zu glaubwürdige Entschuldigung und tiefschürfende Selbstkritik würden ihm aber das Fischen nach Wählerstimmen am rechten Rand erschweren.

Ansonsten hätte er den Zeitpunkt, zu dem die Flugblatt-Episode einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wird, auch fernab von Wahlkämpfen selbst bestimmen und der angeblichen "Schmutzkampagne" zur Unzeit vorbeugen können. Indem er den Vorfall von sich aus selbstkritisch thematisiert hätte – ob ehrlich gemeint oder nicht – bei einer der leider vielen Gelegenheiten, in Deutschland über Antisemitismus zu sprechen.