Ein Jahr später: Warum ist der Nord-Stream-Anschlag immer noch ein Rätsel?
Trotz der Reichweite von USA und Nato ist weiter unklar, wer es war. Berichte deuten auf einen für den Westen unangenehmen Täterkreis. Wie der Sabotageakt zu einem heißen Eisen wurde.
Als gestern vor einem Jahr die Nachricht von den angeblichen Explosionen an den Nord-Stream-Pipelines die Runde machte, überschlugen sich die Medien mit Spekulationen, die meist in Richtung der russischen Regierung gingen.
"Alles deutet auf Russland hin", lautete eine Schlagzeile von Politico zwei Tage nach den Explosionen. In dem Artikel wurden mehrere ausländische Kommentatoren, darunter der ehemalige Präsident des deutschen Bundesnachrichtendienstes, zitiert, die meinten, nur Russland habe die Mittel und Motive für diese Tat.
"Wir wissen immer noch nicht zu 100 Prozent, dass Russland verantwortlich war", sagte Olga Khakova, stellvertretende Direktorin für europäische Energiesicherheit beim Atlantic Council. "Aber alles deutet darauf hin, dass Russland dahintersteckt". Die US-Energieministerin Jennifer Granholm sagte der BBC am 30. September, dass es "so aussieht", als stecke Russland hinter den Sabotageakten.
Im Oktober schlug die Redaktion der Washington Post Alarm wegen weiterer Angriffe auf "den Westen".
Über solche Fähigkeiten verfügt normalerweise ein staatlicher Akteur, obwohl die Nato nicht offiziell sagt, was jeder inoffiziell vermutet: Der Urheber dieses Angriffs auf Europas Stabilität und Sicherheit war Russland. Jetzt müssen sich die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten einer neuen Herausforderung stellen: der Bedrohung kritischer Infrastrukturen, gerade jetzt, wo sie versuchen müssen, ohne russisches Öl und Gas durch den Winter zu kommen.
Abgesehen von einem impulsiv auf Twitter kommunizierenden ehemaligen polnischen Außenminister, der genüsslich die USA beschuldigte, hatten die Mainstream-Meinungsmacher in den Medien keine Hemmungen, Russland bis zum Herbst 2022 offen die Schuld zu geben.
Ein Jahr später weiß die Welt jedoch immer noch nicht, "wer es war". Einige Kritiker vermuten, dass sich die Ermittlungen auf politisch unangenehmes Terrain begeben, da jüngste deutsche Berichte auf eine Verbindung des ukrainischen Militärs zu den Explosionen hindeuten.
"Ob instinktiv oder auf Anweisung, es gibt einen klaren Versuch, diese Geschichte einfach komplett zu begraben", sagte Anatol Lieven, Direktor des Eurasien-Programms des Quincy-Instituts. Er verglich das scheinbar fehlende Interesse der US-Medien mit George Orwells "Mülleimer der Geschichte" in seinem Roman "1984".
Offensichtlich liegt das daran, dass die wichtigsten Theorien, die für die Verantwortung der Sabotage vorgebracht wurden, wenn sie wahr wären, für die westlichen Regierungen äußerst peinlich wären.
Deutschland, Dänemark und Schweden haben getrennte Ermittlungen eingeleitet. In einer gemeinsamen Erklärung vom 30. September teilten Dänemark und Schweden dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in einem Schreiben mit, dass die Lecks durch mindestens zwei Sprengungen mit "mehreren hundert Kilo" Sprengstoff verursacht wurden. Ende letzten Jahres jedoch wiesen europäische Quellen die Rolle Russlands bei den Sabotageakten zurück und erklärten, es gebe "keine schlüssigen Beweise", die nach Moskau führen würden.
Symour Hersh berichtete, dass die Vereinigten Staaten die Anschläge koordiniert und ein geheimes Expertenteam der US-Marine eingesetzt hätten. Das wurde von den Mainstreammedien und offiziellen Stellen im Westen weitgehend ignoriert, widerlegt und verspottet.
Bald darauf wurde bekannt, dass die deutschen Ermittler eine zweite Theorie verfolgten: dass es sich um das Werk einer pro-ukrainischen Organisation handelt, die entweder mit der ukrainischen Regierung in Verbindung stand oder unabhängig agierte. Die schwedischen Ermittler sind übrigens der Meinung, dass der Anschlag nur von einem staatlichen Akteur verübt werden konnte.
Durchgesickerte CIA-Dokumente von Anfang dieses Jahres zeigen, dass die USA mindestens drei Monate vor den eigentlichen Explosionen über Informationen verfügten, wonach …
das ukrainische Militär einen verdeckten Angriff auf die Unterwasser-Pipelines geplant hat, bei dem ein kleines Team von Tauchern eingesetzt werden soll, das direkt dem Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte unterstellt ist.
Wir wissen allerdings nicht, ob die Ukrainer den Anschlag tatsächlich durchführten, obwohl mindestens ein anonymer US-Vertreter sagt, die CIA habe die Ukraine davor "gewarnt".
Vor Kurzem rekonstruierte ein detaillierter Bericht von 19 Spiegel-Autoren, dass tatsächlich alle Wege in die Ukraine führen. Zumindest haben ihnen das die deutschen Ermittler gesagt. In dem Artikel vom 28. August heißt es:
Die Ermittler des BKA, der Bundespolizei und der Bundesanwaltschaft haben kaum noch Zweifel, dass ein ukrainisches Kommando für die Sprengung der Pipelines verantwortlich ist. Auffallend viele Indizien deuteten auf die Ukraine hin, heißt es. Und auch die möglichen Motive scheinen für internationale Sicherheitskreise klar: Ziel sei es gewesen, Moskau eine wichtige Einnahmequelle zur Finanzierung des Krieges gegen die Ukraine zu entziehen. Und gleichzeitig wolle man Putin sein wichtigstes Erpressungsinstrument gegen die deutsche Regierung ein für alle Mal aus der Hand nehmen.
Wenn nur eine Blamage zu erwarten ist
Wie weit die Kette nach oben geht, weiß noch niemand, oder ob andere staatliche Akteure beteiligt gewesen sind. Nach Bekanntwerden der CIA-Leaks wies Selenskyj die Vorwürfe vehement zurück.
Ich bin Präsident und gebe dementsprechend meine Befehle. Die Ukraine hat nichts dergleichen getan.
Aber das Geheimnis bleibt bestehen, und es scheint – abgesehen von der intensiven Berichterstattung des Spiegels – keine Dringlichkeit zu geben, das Thema weiter voranzutreiben, zumindest in der US-Presse. Das liegt wahrscheinlich daran, dass, wie Lieven und andere sagen, dadurch kein politischer Vorteil zu erwarten ist, sondern nur eine Blamage, wenn die USA hinter dem Angriff stecken sollten, wie Hersh behauptet, oder die Ukraine, wie die deutsche Untersuchung zu enthüllen scheint.
Der russische Präsident Putin seinerseits hält die USA und nicht die Ukraine für den Schuldigen. Andere, darunter der deutsche Verteidigungsminister, haben die Kiewer Theorie als "Falsche-Flagge"-Beschuldigung bezeichnet, um die Ukraine verantwortlich zu machen.
"Es erscheint sehr seltsam", dass die Nato-Regierungen mit ihren massiven nachrichtendienstlichen Fähigkeiten – insbesondere Washingtons globaler Reichweite – "nicht in der Lage zu sein scheinen, der Sache auf den Grund zu gehen", so der Jacobin-Reporter Branko Marcetic gegenüber Responsible Statecraft.
Aber noch merkwürdiger ist das scheinbare Desinteresse und die fehlende Diskussion der verschiedenen Medien und Politiker dieser Länder bei einem Angriff, der einen wichtigen Teil der Infrastruktur eines Nato-Verbündeten zerstört hat.
Um fair zu sein, wie Der Spiegel anmerkt, können die deutschen Ermittler "keine Untersuchungen in der Ukraine durchführen, und es ist nicht zu erwarten, dass Kiew viel Unterstützung leisten wird. Die deutschen Behörden haben auch davor zurückgeschreckt, ein Rechtshilfeersuchen an die Ukraine zu stellen, weil sie dafür ihr Wissen preisgeben müssten."
Wer profitiert von der dauerhaften Abschaltung von Nord Stream 1 (die EU importierte 35 Prozent ihres Erdgases über diese Pipeline, bis sie nach der Invasion abgeschaltet wurde) und von der Tatsache, dass Nord Stream 2 nie in Betrieb genommen wurde (was die USA geschworen hatten, dass es nie passieren würde)?
"Die Vereinigten Staaten haben ohne Frage (davon) profitiert", so Lieven.
Sie haben es Deutschland sehr viel schwerer gemacht, jemals wieder eine intensive Energiebeziehung mit Russland einzugehen. Deutschland und andere europäische Länder sind nun noch abhängiger von Flüssiggasimporten aus den Vereinigten Staaten.
Die Nord-Stream-Pipeline, die von Russland nach Deutschland führt, gehört mehrheitlich (51 Prozent) der russischen Gazprom, zusammen mit deutschen, niederländischen und französischen Anteilseignern. Nach Angaben der Energy Information Association wurde Europa im Jahr 2022 mit einem Anteil von 64 Prozent an den Gesamtexporten zum wichtigsten Abnehmer für LNG-Exporte aus den USA. Auf vier Länder – Frankreich, Großbritannien, Spanien und die Niederlande – entfielen zusammen 74 Prozent dieser Exporte.
Neben den USA erhält Deutschland auch Gaslieferungen aus Norwegen und den Golfstaaten. Inzwischen hat die Abkehr des Westens von der russischen Energieversorgung jenseits der Abkopplung von den Nord-Stream-Pipelines der deutschen Wirtschaft schweren Schaden zugefügt.
Aber die Flut von Reaktionen nach dem Anschlag vom 26. September gab Russland die Schuld, weil Moskau, wie es hieß, den Westen in Angst und Schrecken versetzen will. Präsident Putin habe es getan, weil Moskau "Energie als Waffe einsetzt" und "verzweifelt" ist. Nichts von alledem wurde zurückgenommen, und da sich niemand wirklich mit den tatsächlichen Ereignissen befasst, hat auch niemand das Bedürfnis dazu.
Tatsächlich erwähnt die Washington Post in ihren eigenen Erinnerungen an den Jahrestag kaum, dass dieses Narrativ noch einen Monat nach den Explosionen wiederholt wurde.
"Ob das die ganze Geschichte ist, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer sagen", erklärt Marcetic und verweist auf die ukrainische Verbindung.
Aber die Tatsache, dass ein Staat, der von der Nato militärische und finanzielle Unterstützung in noch nie dagewesenem Umfang erhält, beschuldigt wird, einen Anschlag auf einen Nato-Verbündeten verübt zu haben, ist natürlich bedeutsam. Dennoch ist es ein weiteres Ereignis, das viele offensichtlich lieber nicht diskutieren oder anerkennen möchten, selbst wenn es sich direkt auf brennende Fragen wie den möglichen Beitritt der Ukraine zum Bündnis bezieht.
Das Rätsel bleibt, wie man so schön sagt, ungelöst.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Hier geht es zum englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.