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Ein Rahmenkonzept zur Bekämpfung der Rockerkriminalität

Wird mithilfe der Medien das subjektive Sicherheitsempfinden der Bevölkerung manipuliert und instrumentalisiert?

Es ist auffällig, wie viele Einsätze deutsche Behörden derzeit gegen Rocker, vor allem gegen die Hells Angels, führen. Das Verhältnis zwischen Rockern und Behörden war schon immer schwierig [1] - aktuell aber ist das Verhalten mancher Behörden so ungewöhnlich, dass auch in ausländischen Medien [2] dies Phänomen nachgefragt wird: Razzien, Durchsuchungen und Verhaftungen gehen parallel zu Verboten und Selbstauflösungen von Hells Angels-Chartern (Ortsgruppen).

Zwei Schwerpunkte bei Rockereinsätzen: Seit Mai 2012, seit April 2010

Zwar ist die ganz große Aktivität seitens der Behörden neu und dürfte mit dem Prozess in Kiel im Mai dieses Jahres gegen den ehemaligen Legion 81-Rocker Steffen R. zusammenhängen. Der hatte zahlreiche Hörensagen über die Hells Angels wiedergegeben, deren wohl wichtigste - der ehemalige Hannoversche Rocker Frank Hanebuth als inoffizieller Deutschlandchef und Auftraggeber für einen Mord, eine eingemauerte Leiche in einer Lagerhalle in Altenholz, eine angebliche Folterkammer in Kiel - sich in Luft aufgelöst haben. Aber noch, bevor sie überprüft worden waren, wurde der Angeklagte zu einer außerordentlich milden Strafe für seine Verbrechen verurteilt [3].

Bild: DaiFh. Lizenz: CC-BY-SA-3.0 [4]

Eine schon deutlich gesteigerte Aktivität von Behörden gegen die Hells Angels lässt sich jedoch auch schon seit Längerem - genauer: Seit dem Frühjahr 2010 - nachweisen. Deutlich zeigt sich dies an Vereinsverboten und Selbstauflösungen von Hells Angels Chartern in Deutschland: Im Oktober 1983 war der Charter Hamburg verboten worden, im Januar 2001 Düsseldorf. In jüngerer Zeit erst Flensburg (April 2010), dann Borderland (Pforzheim) und der Unterstützerclub Commando 81 Borderland (Juni 2011), danach Frankfurt und Westend (September 2011). Im Jahr 2012 zuerst Kiel (Januar), im April Cologne, im Mai Berlin City und Singen, im Juni Southport, Potsdam, Hannover und West Side (Bremen).

Kurz: In den 1980er Jahren wurde ein Charter geschlossen, in den 1990er Jahren keiner, in den Nuller Jahren wieder einer. Das ist nicht viel. Aber seit 2010, also innerhalb von nur zweieinhalb Jahren, verschwanden elf Charter von der Bildfläche.

Zwar haben sich einige Charter wie etwa Hannover oder West Side selbst aufgelöst. Man kann dafür mehrere Gründe vermuten: Wenn ein Verein nicht mehr existiert, kann er nicht verboten und das Vereinsvermögen nicht beschlagnahmt werden. Oder die Rocker wollen weiterhin Hells Angels sein und sich in einem anderen Charter zusammenschließen, was schwierig wäre, wenn sie zu einem verbotenen Charter gehört hätten.

Also dürften auch Selbstauflösungen auf äußeren Druck zurückzuführen sein.

Außerdem stehen den Verboten und Auflösungen zahlreiche Neugründungen gegenüber: Der erste Hells Angels-Charter in Deutschland wurde im Jahr 1973 in Hamburg gegründet (und nach zehn Jahren verboten). Inzwischen ist Stuttgart der älteste - 1981 gegründet - und Nummer Zwei, Berlin, gibt es seit 1990. Bis 1998 gab es wohl gut ein halbes Dutzend Charter in Deutschland. Im Jahr 1999 kamen 14 neue dazu - fast alle durch den Übertritt der Rockergruppe Bones. In den Nuller Jahren kamen 22 Charter hinzu und seit 2010, also in den letzten zweieinhalb Jahren, 19. Allein vier von ihnen wurden in den vergangenen Wochen in Berlin gegründet.

Folgten die Verbote den Neugründungen? Reagierten die Behörden also auf die Rocker? Die Logik wäre: mehr Charter - mehr Straftaten - mehr Verbote. Dagegen spricht aber zweierlei: Erstens, dass in den Nuller Jahren 22 Charter entstanden, aber nur einer geschlossen wurde. Zweitens wirken zumindest manche Neugründungen (wie etwa die vier Berliner Charter Northtown, Southtown, Westtown und Easttown) wie eine Reaktion von Rockern auf Behörden - vielleicht, um diese zu provozieren. Das schließt das Erste nicht aus, passt aber nicht so recht dazu.

Auffällig ist vor allem der Beginn der Kette der Schließungen im April 2010.

Konzept zur Bekämpfung der Rockerkriminalität könnte Einsatzschwerpunkt seit April 2010 erklären

Ein Dokument könnte (mit) erklären, warum Polizeibehörden seit genau diesem Zeitpunkt so viele Einsätze gerade gegen die Hells Angels durchführen.

Ein "Unterausschuss Führung, Einsatz und Kriminalitätsbekämpfung" (UA FEK) hatte eine Bund-Länder-Projektgruppe "Bekämpfungsstrategie Rockerkriminalität-Rahmenkonzeption" (BLPG BR-RK) eingerichtet. Ziel der Projektgruppe ist die Abstimmung des gemeinsamen Vorgehens gegen Rockerkriminalität. Sie hat ein Dokument herausgebracht, es heißt: "Bericht der Bund-Länder-Projektgruppe des UA FEK 'Bekämpfungsstrategie Rockerkriminalität - Rahmenkonzeption' [BLPG BR-RK]". Es stammt vom Ministerium des Innern und für Sport Rheinland-Pfalz, ist gekennzeichnet als "VS - NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH (i.S. IFG nicht freigabefähig)" und steht seit ein paar Wochen öffentlich einsehbar auf einer Website der Hells Angels [5]. Es wirkt echt.

Bild: SliceofNYC. Lizenz: CC-BY-2.0 [6]

Das 64-seitige Dokument beinhaltet die "Entwicklung eines ganzheitlichen und länderübergreifenden strategisch-taktischen Rahmenkonzeptes zur Bekämpfung der Rockerkriminalität" und gibt den Stand vom 7. Oktober 2010 wieder.

Seine Verfasser begründen die Ausarbeitung eines solchen Rahmenkonzeptes damit, dass es "bundesweit wiederholt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen bis hin zu Tötungsdelikten zwischen rivalisierenden Rockergruppen" (S. 4) gekommen sei, und dass mit zunehmenden Aktivitäten der Gruppierungen die Gefahr einer Eskalation der Rockerkriminalität steige. Sie nehmen auch Bezug auf ein tragisches Ereignis vom 17. März 2010. An diesem Tag erschoss ein Mitglied der Hells Angels in Rheinland Pfalz einen Polizisten.

Der Rocker war zu Hause, als ein SEK kam und seine Wohnung betreten wollte. Als die Beamten seine Wohnungstür öffnen wollten, schoss der Rocker zweimal durch die geschlossene Tür und traf einen der Polizisten so unglücklich, dass dieser trotz schusssicherer Weste sein Leben verlor. Der Rocker wurde durch den Bundesgerichtshof freigesprochen, der die Verantwortlichkeit für den Vorfall bei der polizeilichen Einsatzleitung sah: Der Hells Angel hatte gesagt, er habe einen Überfall von Bandidos befürchtet.

Im Bericht heißt es zu den Auseinandersetzungen zwischen Rockergruppen und dem Tod des Polizeibeamten: "Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung gilt es einen polizeilichen Schwerpunkt zu setzen, die bundesweit vorliegenden Bekämpfungsstrategien konzeptionell zu bündeln und darüber hinaus auch andere Behörden und Stellen durch Kooperation mit einzubeziehen." (S. 4) Warum und wie dies geschehen soll, wird auf 64 Seiten ausgeführt. Diese Rahmenkonzeption besteht aus elf Teilen: Vorbemerkung (I), Lagebeschreibung (II), (Einsatz-)Organisation (III), Informationsmanagement, Ermittlungen und Geheimhaltung (IV), Zusammenarbeit (V), Öffentlichkeitsarbeit (VI), Prävention (VII), Aus- und Fortbildung (VIII), Wirkungszusammenhänge (IX), Weitere Hinweise der Projektgruppe (X) und schließlich Fortschreibung (XI). Der Schwerpunkt des Berichtes liegt in den Ausführungen zur Einsatzorganisation.

An dieser Stelle sollen nur zwei Aspekte herausgegriffen werden: Erstens die Rolle der Polizei, zweitens die Rolle der Medien.

Die Rolle der Polizei und das Ziel des Konzeptes

Zunächst zur Rolle der Polizei. In der Akte steht: "Die 'BLPG BR-RK' misst der Rolle der Polizei bei der Bekämpfung von Rockerkriminalität vor dem geschilderten Gesamthintergrund grundsätzliche Bedeutung zu" (S. 7). Die beiden Ziele der Projektgruppe sind "die Erarbeitung präventiver und regressiver Bekämpfungsstrategien unter Einbeziehung anderer zuständiger Stellen" sowie "Information und Beratung der Politik … insbesondere im Hinblick auf Rechtsfortentwicklung".

Clubhaus der Hells Angels Karlsruhe in Waghäusel. Bild: Ikar.us. Lizenz: CC-BY-SA-3.0 [7]

Gleich dieser Beginn wirft die Frage auf, ob es die Rolle der Polizei sein darf, Lobbyarbeit für "Rechtsfortentwicklung" zu treiben: Wird dadurch nicht die Gewaltenteilung infrage gestellt? Das Konzept empfiehlt, ein Verbotsverfahren nach dem Vereinsgesetz zu prüfen, "sofern Ermittlungen gegen Rockergruppen zu dem Ergebnis geführt haben, dass die Aktivitäten des Clubs auf die planmäßige Begehung von Straftaten ausgerichtet sind, dass der Club Straftaten einzelner Mitglieder im Clubinteresse duldet, fördert oder deckt oder dass die Aktivitäten des Clubs gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung ausgerichtet sind" (S. 60).

Hieran ist natürlich nichts auszusetzen. Im Gegenteil. Allerdings war dies auch schon vorher möglich.

Außerdem wird eine lange Liste "taktischer Maßnahmen" aufgezählt (S. 13 - 25), die nicht nur der Ermittlung von Straftaten dienen, sondern auch der Überzeugung von Justiz und Ordnungsbehörden von der polizeilichen Sicht (S. 17), oder der einfachen Störung von Rockergruppen. So seien Gewerbeanmeldungen "intensiv" zu prüfen (S. 48), oder die sehr professionell gesicherten Vereinshäuser sollten von Bauordnungsämtern "restriktiv geprüft" werden (S. 48). - Vielleicht mussten die ehemaligen Mitglieder des früheren Bremer Charters "West Side" deswegen kürzlich ihr altes Clubhaus räumen - nach Angaben des Weser-Kuriers hat das Bauressort die Nutzung ihres Gebäudes für Versammlungen und Veranstaltungen untersagt [8].

So fragt sich, ob dies Konzept nun eigentlich nur darauf zielt, die polizeilichen Ermittlungen zu unterstützen, oder ob es nicht (zumindest im Nebeneffekt) die Auffassung durchsetzen soll, dass Rockergruppen wie die Hells Angels grundsätzlich kriminell sind und verboten gehören.

Die Legitimität dieses Konzeptes bestreitet denn auch der Rechtsanwalt Michael Karthal [9], der für den verbotenen Charter HAMC Frankfurt die Verbotsverfügung des Hessischen Innenministeriums anficht. In seiner Klagebegründung schreibt er mit Bezug auf dieses Konzept: Einziges Ziel sei, "die Innenministerien zu veranlassen, Vereinsverbote auszusprechen." Diese unterliegen nämlich "nicht der strengen Nachweispflicht für strafrechtliche Verurteilungen […], sondern ein Zurechnungszusammenhang zwischen den Taten einzelner und mehrerer Mitglieder und dem Verhalten der übrigen Vereinsmitglieder" genüge.

Natürlich: Wenn ein, wie Rechtsanwalt Karthal schreibt, "Zurechnungszusammenhang zwischen den Taten einzelner und mehrerer Mitglieder und dem Verhalten der übrigen Vereinsmitglieder" nachgewiesen werden kann, und dies Grundlage für ein Vereinsverbot ist, dann kann ein Vereinsverbot durchaus im Sinne der Bevölkerung sein. Es fragt sich aber, ob die hohe Anzahl der Vereinsverbote nahelegt, dass so ein Zurechnungszusammenhang regelmäßig besteht? Wenn ja, dann folgt unvermeidlich eine weitere Frage: Besteht dieser Zusammenhang erst seit April 2010? Der Tod des Polizisten ist tragisch, aber kann man daraus bei so vielen Chartern bundesweit auf diesen Zusammenhang schließen?

Karthal zieht den umgekehrten Schluss: "Der von nun an verfolgten polizeilichen Strategie ist insbesondere die Erkenntnis geschuldet, dass der strafrechtlich geforderte Nachweis einer organisierten kriminellen Vereinigung trotz umfangreicher und zielgerichteter Ermittlungen nicht geführt werden konnte. Als dennoch sanktionierendes Instrument für eine nicht nachgewiesene organisierte Strafrechtswidrigkeit der Vereinigungen haben die Polizeibehörden zur Beseitigung des Vereinslebens die den Grundrechtsschutz einschränkenden Verbotsverfügungen erkannt."

Die Rolle der Medien

Ein zweiter wichtiger Aspekt im Rahmenkonzept ist die Rolle der Medien bzw. das Konzept der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Sie hat eine: "zentrale Bedeutung." (S. 8) Ihr ist sogar ein ganzes Kapitel gewidmet (Kapitel VI, S. 55 - 58), denn: "Die Medien beeinflussen ganz überwiegend die Wahrnehmung der Öffentlichkeit und damit auch die Akzeptanz und Wirksamkeit polizeilicher Maßnahmen." (S. 55). Ziel der Öffentlichkeitsarbeit ist außerdem, die "Kooperationsbereitschaft der Bevölkerung" zu erhöhen (S. 55) und - erstaunlicherweise - die "[u]mfassende Information und Sensibilisierung aller Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten" (S. 55). Informiert die Polizei ihre Mitarbeiter über öffentliche Medien?

Bild: Roy Lister. Lizenz: CC-BY-2.0 [10]

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit ist genannt als Teil der polizeilichen Taktik und bildet den Abschluss unter den taktischen Leitlinien: "Eine einsatzbegleitende und anlassunabhängige Presse- und Öffentlichkeitsarbeit macht das konsequente Vorgehen der Polizei deutlich, entmythologisiert die OMCG (Outlaw MotorCycle Groups) und berücksichtigt dabei ausgewogen die subjektive Sicherheitslage." (S. 14)

Auffällig ist gerade im Zusammenhang mit taktischen Leitlinien zweierlei: Erstens soll die Öffentlichkeitsarbeit anlassunabhängig sein. Das heißt: Man braucht keinen Anlass, um über Rockergruppen zu informieren. Kein Verbrechen, kein Vergehen, nichts. Zweitens soll die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit die subjektive Sicherheitslage der Bevölkerung berücksichtigen: also Empfindungen, nicht Fakten. Nun ist natürlich wünschenswert, dass die subjektive Befindlichkeit der Bevölkerung berücksichtigt wird. Es ist sogar lobenswert.

Es fällt jedoch auf, dass polizeiliche Presseinformationen, etwa über Razzien, in der Tat häufig ungenau und subjektiv sind: Es wird oft von "Drogenfunden" berichtet, aber vielleicht sind es bloß 20 Gramm Marihuana? "Verurteilungen" können sich auf Verbrechen beziehen - aber ebenso gut auch auf Verkehrsvergehen. "Messer" können auch Küchenmesser sein.

Eine angemessene Angst vor Kriminalität übt eine Schutzfunktion aus. Aber wenn solch eine Angst nicht angemessen ist, mindert sie die Lebensqualität der Verängstigten. Nun berichten sogar Polizisten, dass die Pressestellen der Polizei jene Meldungen und Informationen, welche die Bevölkerung ängstigen könnten, häufig nicht veröffentlichten. Warum ist dies in Bezug auf Rocker so offensichtlich anders?

Das Rahmenkonzept weckt den Eindruck, dass Vereinsverbote angestrebt werden, weil man den Hells Angels nicht nachweisen kann, dass es sich bei ihnen um eine kriminelle Vereinigung handelt. Wenn daher Vereinsverbote zweite Wahl gegenüber strafrechtlichen Verurteilungen sind, und wenn an Vereinsverboten Folgendes von Vorteil ist: "Das Verbot qualifiziert den Rockerclub öffentlich als kriminell." (S. 63): Dann stellt sich die Frage, ob hier nicht mithilfe der Medien das subjektive Sicherheitsempfinden der Bevölkerung manipuliert und instrumentalisiert werden soll.


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https://www.heise.de/-3395370

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.globkult.de/gesellschaft/projektionen/619-hells-angels-gesetze-und-behoerden
[2] http://www.nzz.ch/aktuell/international/grosses-reinemachen-in-der-deutschen-rocker-szene-1.17491806
[3] https://www.heise.de/tp/features/Sind-diese-Rocker-wirklich-so-gefaehrlich-Oder-steckt-da-etwas-ganz-anderes-dahinter-3394764.html
[4] http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de
[5] http://www.hellsangelsmedia.com/pressetext/rahmenkonzeption%202010.pdf
[6] http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de
[7] http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de
[8] http://www.weser-kurier.de/bremen/vermischtes2_artikel,-Rocker-raeumen-ihr-Clubhaus-_arid,351438.html
[9] http://www.westendlaw.de/index.php?id=129
[10] http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de