Ein paar Zuckersäcke und eine gewonnene Wahl
Bei fünf Bombenanschlägen in Südrussland und Moskau kamen 1999 über 300 Menschen ums Leben - die Hintergründe der Attentate sind bis heute rätselhaft. Jetzt hat das Gerichtsurteil gegen zwei Verdächtige die Ungereimtheiten der Affäre wieder aufgerührt, während sich mit dem neuen Terroranschlag die Geschichte zu wiederholen scheint
Die Präsidentschaftswahl steht kurz bevor und die Ampel zeigt auf Grün für eine weitere Amtszeit von Wladimir Putin, denn ein ernsthafter Konkurrent ist nicht in Sicht. Da wird ausgerechnet jetzt vom Moskauer Stadtgericht ein Urteil verkündet, das den hartnäckigen Gerüchten um eine Verwicklung des Präsidenten in die Anschläge von 1999 neue Kraft verleiht und Verschwörungstheorien wuchern lässt.
Gestern fand zudem ein neuer verheerenden Anschlag, ausgeführt nach den Behörden möglicherweise von einer Selbstmordattentäterin mit der Hilfe eines Komplizen, auf einen U-Bahn-Zug in Moskau statt. Für den russischen Präsidenten eindeutig eine Tat tschetschenischer Terroristen: "Wir wissen mit Sicherheit, dass Maschadow und seine Banditen mit diesem Terrorismus verbunden sind", erklärte Putin. Sakayev, ein Sprecher von Maschadow, wies dies jedoch zurück und verurteilte den Anschlag. Allerdings könne Maschadow nicht alles im Land kontrollieren. Tschetschenische Terroristen/Rebellen haben wiederholt Anschläge in Russland durchgeführt. Maschadow ist Anführer der tschetschenischen Separatisten. 1997 wurde er freien Wahlen unter internationaler Beobachtung zum Präsidenten von Tschetschenien gewählt und ist mit der russischen Invasion 1999, die Putin mit den Terroranschlägen rechtfertigte, in den Untergrund gegangen. Ende September jedenfalls fällt die Ernennung von Putin zum Regierungschef unter der Präsidentschaft Jelzins mit dem Beginn des Krieges zusammen.
Putin will Tschetschenien einerseits als innere Angelegenheit Russlands behandelt sehen, andererseits aber sucht er trotz der schweren Menschenrechtsverletzungen der Russen in Tschetschenien Anschluss an die internationale Gemeinschaft und spricht vom "internationalen Terrorismus" (Russland will seinen Kampf gegen den Terrorismus im Stil von Bush ausweiten). Die Gewaltspirale zwischen tschetschenischen Anschlägen und grausamer Besatzung - amnesty spricht von einer "weiterhin dramatischen Menschenrechtslage in Tschetschenien" - wird weiter anhalten, Putin schloss weiterhin jede Verhandlungen mit den tschetschenischen Unabhängigskämpfern aus: "Russland verhandelt nicht mit Terroristen, es eliminiert sie." Auch die Anschläge von 1999 fanden kurz vor den Präsidentenwahlen statt und trugen mit dazu bei, dass Putin zum Präsidenten gewählt wurde.
In den ersten beiden Septemberwochen des Jahres 1999 sorgte eine Serie von Sprengstoffanschlägen in Russland für Angst und Schrecken. Doch während Wladimir Putin bereits am Tag nach der Explosion eines Moskauer Wohnhaus sicher wusste, dass die Schuldigen in Tschetschenien zu suchen seien, gärte schon bald der Verdacht, dass der Geheimdienst FSB seine Hände im Spiel haben könnte, um die Wahl Putins zum Präsidenten zu befördern.
Zu den stärksten Indizien, dass der FSB hinter den Anschlägen steckt, gehören die rätselhaften Ereignisse in der Stadt Rjasan, wo Anwohner einige Tage nach der Explosion in Wolgodonsk ein verdächtiges Fahrzeug vor ihrem Haus entdeckten. In einem nahe gelegenen Keller fand die herbeigerufene Polizei Säcke mit einem weißen Pulver, das mit einem Zeitzünder verbunden war. Der Sprengstoffexperte Jurij Tkatschenko testete das Pulver und stellte fest, dass es sich um Hexogen handelte, den gleichen Sprengstoff, wie er bei dem Anschlag in Moskau verwendet worden war. Die Nation jubelte: Anschlag verhindert! Aber denkste. FSB-Chef Nikolaj Patruschew, der den aufmerksamen Rjsanern gerade noch zur "zweiten Geburt" gratuliert hatte, ließ tags darauf verlauten, dass es sich bei den Sprengsätzen um mit Zucker gefüllte Attrappen gehandelt habe und das Ganze nur eine Übung gewesen sei, um die Wachsamkeit der Bürger zu testen.
Eine Erklärung, die von Anfang an wenig glaubhaft war, denn immerhin gilt Tkatschenko als ausgewiesener Fachmann. Außerdem ist bekannt, dass Hexogen ein Sprengstoff ist, der nur beim Militär verwendet wird. Er wird in Russland in lizenzierten Fabriken produziert und an besonderen Orten gelagert, die von Armee und FSB überwacht werden.
Es gibt zahlreiche weitere Ungereimtheiten in dieser Angelegenheit, doch das Interesse an einer Aufklärung war schon bald relativ gering. Auch das russische Parlament lehnte die Berufung einer parlamentarischen Untersuchungskommission mehrfach ab. Immerhin setzten einige liberale Parlamentarier eine unabhängige Untersuchungskommission ein, deren Vorsitzender, der bekannte Menschenrechtler Sergej Kowaljow, Anfang 2003 vor Gericht zog, um den Geheimdienst zur Herausgabe von Dokumenten zu zwingen - leider vergeblich. Trotzdem ist es seiner Kommission gelungen, Material zu sammeln, das auf Widersprüche zur offiziellen Lesart verweist. Doch als dann der Vize-Vorsitzende der Kommission, Sergej Juschenkow, ermordet wurde, entschloss man sich, weitere Ergebnisse zurückzuhalten. Ende April 2003 erklärte der Generalstaatsanwalt dann, dass die Ermittlungen abgeschlossen seien. Offizielles Ergebnis: Tschetschenische Rebellen haben die Anschläge bestellt und bezahlt.
Überzeugend aufgeklärt sind die Ereignisse bis heute nicht. Doch auch unter solchen Umständen gelingt in Russland die Urteilsfindung: Anfang Februar hat das Moskauer Stadtgericht Adam Dekuschjew und Jusuf Krimschamchalow beides interessanterweise keine Tschetschenen) zu lebenslanger Haft verurteilt. Ob sie tatsächlich die Täter sind, bleibt zweifelhaft. Denn verhandelt wurde im Geheimen, allein die Urteilsverkündung fand unter den Augen der Öffentlichkeit statt. In einer Pressekonferenz bezeichnete Menschenrechtler Kowaljow, den Prozess als "politischen Schwindel". Walentin Gefter, der Direktor des Instituts für Menschenrechte, beschuldigte die Staatsanwaltschaft, alle wichtigen Beweismittel, die gegen die Version von den tschetschenischen Terroranschlägen sprächen, beiseite geschoben zu haben. Doch die Sache ist damit noch nicht erledigt, denn die Anwälte der beiden Verurteilten legen Berufung ein. Die Gerüchteküche wird damit noch lange Zeit Nahrung haben.