"Eine Atommacht ist praktisch von außen unbesiegbar"
Alexander Rahr, Ex-Berater der Gazprom-Spitze, der Pentagon-nahen Rand Corporation und der Bundesregierung, im Interview über Nord Stream, Putins Feindbilder und die Warnungen vor einem Atomkrieg.
Alexander Rahr ist Senior Fellow des Welttrends Institutes für Internationale Politik in Potsdam, das mit dem West-Institut in Polen kooperiert. Zuvor arbeitete Rahr zwei Jahrzehnte lang als Leiter des Russland-Ukraine-Zentralasien-Zentrums der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), die der SPD und dem Bundesaußenministerium nahesteht, und beriet ebenso lang die Bundesregierung.
Zuvor war er als Analyst für den Auslandssender der US-Regierung, Radio Liberty, und die pentagonnahe Rand Corporation tätig. Er beriet Hans-Dietrich Genscher in den Verhandlungen zur Freilassung des putinkritischen Unternehmers Michail Chordorkowski.
Ab 2012 war Rahr Unternehmensberater des Wintershall-Vorstandes (BASF), von 2015 bis zum 24. Februar 2022 war er als Berater des russischen Staatskonzerns Gazprom in Brüssel tätig. Im Jahr 2000 veröffentlichte er ein biografisches Buch über Wladimir Putin.
2003 erhielt Rahr das Bundesverdienstkreuz, in den letzten Jahren wurde ihm jedoch Nähe zum Putin-Regime vorgeworfen. Telepolis sprach mit ihm über aktuelle Entwicklungen und Perspektiven.
"Den konventionellen Krieg gegen die Ukraine mag Russland nicht gewinnen"
Einige Schätzungen gehen bereits jetzt von knapp 300.000 Toten aus. So wie die momentane Entwicklung verläuft, hat Russland seinen "Platz im Europäischen Haus", wie Gorbatschow es nannte, für immer verloren?
Alexander Rahr: Vor 300 Jahren hat Peter der Große das Fenster nach Europa aufgeschlagen, das Putin jetzt wieder zuschlägt. Russland will sich vom Westen lösen, eine eigenständige Zivilisation errichten. Die russischen Eliten sehen sich in der Avantgarde der Schaffung einer neuen gerechteren, multipolaren Welt - im Kampf gegen die liberale werte- und regelbasierte Ordnung des Westens. Putin will jetzt nichts anderes, als die liberale Weltordnung zerstören und mit dem Westen und China über eine neue Ordnung verhandeln.
Der Westen will davon nichts wissen. Im Gegenteil, er versucht alles, damit Russland den Krieg in der Ukraine verliert und von der Weltgemeinschaft, sowie der Weltwirtschaft abgeschnitten wird. Die künftige Sicherheitsarchitektur soll mit aller Macht gegen Russland gerichtet sein. Das folgende Bild wird heute an die Wand gemalt: Russland als Nordkorea, die Ukraine als Südkorea - auf Jahrzehnte durch einen eisernen Zaun voneinander getrennt.
Putins Drohungen mit Atomwaffen gelten in westlichen Sicherheitskreisen als reine Drohkulisse. Sollte er Atombomben einsetzen, wäre Russland Minuten später ebenso zerstört?
Alexander Rahr: Seit dem Kalten Krieg gilt: Eine Atommacht ist praktisch von außen unbesiegbar. Die UdSSR zerbrach bekanntlich von innen. Russland besitzt schreckliche Waffen, manche sind den westlichen überlegen. Russische Atom-U-Boote umfahren die Küsten von Amerika, die russischen Hyperschall-Raketen können von der westlichen Flugabwehr nicht erfasst werden, außerdem besitzt Russland eine Menge strategischer Raketen, bestückt mit atomaren Gefechtsköpfen.
Nicht zu sprechen von den Cyber- und biologischen Waffen. Den konventionellen Krieg gegen die Ukraine mag Russland nicht gewinnen - doch wenn feindliches Militär das Territorium der Krim oder Kaliningrads erreichen sollte, tritt die russische Militärdoktrin vom Atombombeneinsatz in Kraft. Westliche Regierungen müssen also genau abwägen, ob sie die Ukraine weiter mit Offensivwaffen ausstatten.
"Vielleicht wird durch Nord Stream irgendwann Wasserstoff transportiert"
Die Ukraine würde Gebietsverlusten nach momentan gültigen Aussagen der "show of force" wohl eher nicht zustimmen. Liefe die EU nicht auch Gefahr, dass nach der Ukraine Putin in Richtung Moldau, dem Baltikum und Polen vorrücken könnte?
Alexander Rahr: Ich denke, irgendwann werden das Kriegsgeschehen nicht mehr alleine Putin und Selenskyj bestimmen, sondern die Generäle auf beiden Seiten. Sie werden den Zeitpunkt entscheiden, nach dem es sich nicht mehr lohnen wird weiterzukämpfen. Sie werden vom wahren Interesse ihrer Länder geleitet werden.
Die EU wird keinen Einfluss auf den Kriegsverlauf nehmen können, sie ist in den Augen der Ukraine nur ein Waffenlieferant, den Kiew ständig versucht, doch noch in den Krieg mit hineinzuziehen. Anders verhält es sich mit den USA und China, den realen Weltmächten. Wenn die Amerikaner die Militärhilfe an die Ukraine drosseln, ist der Krieg vorbei. Dasselbe gilt für China, das Russland seine politische Unterstützung verweigern könnte, falls russische Politiker weiter mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen.
Sie meinen eine "Vielschichtigkeit" des Konflikts? War Russland denn wirklich kooperationsbereit?
Alexander Rahr: Putin hat in seiner Rede zur Nation davon gesprochen, dass Russland den Krieg nicht gegen die Ukraine, sondern den Westen führe. Der Westen ist der wahre Feind aus Sicht Putins. Ich denke, er kann dem Westen nicht verzeihen, dass dieser alle seine Kooperationsvorschläge jahrelang ignoriert und damit demonstriert hat, dass in den westlichen Augen Russland keine ernstzunehmende Macht mehr darstellt und dass man russische Interessen negieren kann.
Auf dieses westliche Verhalten ist Putin rasend vor Wut. Ihm geht es jetzt vor allem um eines: Zu beweisen, dass Russland immer noch Großmacht ist und wenn nicht aufgrund seiner Diplomatie, dann aufgrund seiner Militärstärke respektiert werden muss. Der zivilisatorische Konflikt wird sich dahingehend verschärfen, als im Westen jetzt der russische Kommunismus und Nationalismus immer stärker mit dem deutschen Nationalsozialismus gleichgesetzt wird.
Wenn Putin zum neuen Hitler ausgerufen wird und man in Deutschland anfängt, angesichts der Gräueltaten des Ukraine-Krieges, Nazi-Verbrechen zu relativieren, wird eine spätere Verständigung und Wiederaufnahme der Aussöhnungs- und Entspannungspolitik vollkommen unmöglich sein.
Die Nazi-Vergleiche kamen aber zuerst aus Russland. Von Russlands Außenminister Lawrow gab es auch sehr bedenkliche Äußerungen zur Shoah, über die man nicht nur in Israel entsetzt war. Sie arbeiteten als Berater für Gazprom. Wird es denn in naher oder ferner Zukunft wieder Gaslieferungen aus Russland geben? Sind Nord Stream I und II denn reparaturfähig? Und wer war für die Sprengungen verantwortlich?
Alexander Rahr: Bis zum Kriegsbeginn beriet ich Gazprom International in europäischen Angelegenheiten. Ich war niemals ein Lobbyist für Gazprom, immer nur Politikberater und - ich gebe zu - glühender Anhänger der Politik des Wandels durch Verflechtung. Ich glaubte daran, dass über den permanenten Austausch von westlicher Technologie gegen russische Rohstoffe eine Friedensordnung in Europa gedeihen konnte.
Das alles ist jetzt Makulatur. Ob es irgendwann wieder Gaslieferungen in größeren Mengen aus Russland geben wird, hängt nicht zuletzt von der Dauer, Brutalität und einer endlichen Friedenslösung im Ukraine-Krieg ab. Die Nord Stream Pipelines können, so sagen Fachleute, repariert werden. Vielleicht werden sie irgendwann einmal statt Erdgas Wasserstoff transportieren. Dass die Russen ihre eigene Pipeline gesprengt hätten, halte ich für abwegig.
"Wer kommt nach Putin, ist eine spannende Frage"
Der Generalbundesanwalt sagte ja kürzlich der Welt, es gäbe keine Beweise, die für Russland als Täter bei Nord Stream sprechen. Könnte es aber nicht doch Russland gewesen sein?
Alexander Rahr: Ich teile die Auffassung, dass der Investigativ-Report in der New York Times von Seymour Hersh den Tatsachen entspricht. Die USA haben mit der geheimen Sprengung der Nord Stream unmissverständlich klargemacht, dass eine Wiederaufnahme der Energiepartnerschaft zwischen Russland und Deutschland niemals mehr vonstattengehen kann. Ich denke, dass in den europäischen Hauptstädten das Signal aus Washington sehr wohl verstanden worden ist.
Nach außen hin hüllen sich die Regierungen aber in Schweigen, um ihre Beziehungen zu Washington nicht zu gefährden. Ich muss aber betonen, dass wir hier auf Spekulationen angewiesen sind. Warum allerdings seit einem Jahr die Untersuchungen dieses Attentates auf die europäische Versorgungssicherheit immer noch nicht abgeschlossen sind, bleibt ein Rätsel.
Wie lange wird Putin denn nach Ihrer Einschätzung noch im Amt bleiben und was oder wer kommt nach Putin?
Alexander Rahr: Falls Putin den Ukraine-Krieg mit einem russischen Erfolg beenden kann, wird er im nächsten Jahr zum fünften Mal bei den Präsidentschaftswahlen antreten. Aus heutiger Sicht hat der 70-Jährige in Russland keinen Konkurrenten zu fürchten. Die Führungselite ist ausschließlich auf ihn zentriert und von ihm abhängig. Putin kann auf breiteste Unterstützung in der Bevölkerung zählen, auch wenn der Krieg nicht überall gutgeheißen wird.
Inwieweit diese Loyalitäten Bestand haben werden, wenn mögliche Niederlagen im Ukraine-Krieg folgen, vermag niemand zu sagen. Einen Coup, wie seinerzeit gegen Nikolai II., Kerensky, Chruschtschow oder Gorbatschow schließe ich aus heutiger Sicht aus. Eine gewaltsame Absetzung Putins würde das bestehende Staatssystem kollabieren lassen, was die Führungseliten niemals zulassen werden.
Westlichen Politikern, die heute Erklärungen abgeben, sie würden unter keinen Umständen mit dem "Kriegsverbrecher" Putin verhandeln, rate ich zu mehr Realismus. Ein internationales Kriegstribunal, das die Europäer ins Spiel bringen, wird es nicht geben, solange die nicht-europäischen Mächte dagegen sind. Wer kommt nach Putin, ist eine spannende Frage. Ich denke, ein Mann der jüngeren Generation, der heute einen wichtigen Minister- oder Gouverneursposten innehat. Über die Anwärter können wir gerne spekulieren.