Eine andere Welt ist möglich

Meinen Michael Hardt und Antonio Negri in "Multitude" und haben damit beste Chancen, die neuen Don Quichotte und Sancho Pansa der Postmoderne zu werden

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Jeden Montag sind sie marschiert, mit erstaunlich viel Fleiß, Ausdauer und Geduld, die Gegner von Hartz IV und anderer Abspeckmaßnahmen, die den deutschen Wohlfahrtsstaat und seine bislang üppig gewährten Sozialleistungen auf ein Normalmaß zurückschneiden. Doch was repräsentierten diese Leute, die die Straße suchten, um ihrem Frust und Ärger Ausdruck zu verleihen? Stellten sie tatsächlich das Volk dar, wie sie skandierten? Waren die Demonstranten gar Teil oder Vorhut der "Multitude", jener kommenden Bewegung, die dem "Empire", jenem anonymen Konglomerat aus Kapital, Macht und globalen Institutionen, das Fürchten lehren will? Oder hatten wir es bloß mit einer Meute Verwöhnter, Enttäuschter und Zukurzgekommener zu tun, die glaubten, ein Anrecht auf soziale Rundumversorgung durch den Staat zu haben?

Plebs, Pöbel, Multitude

Die Antwort darauf fällt nicht leicht. Auch dann nicht, wenn man das neue Buch von Michael Hardt und Antonio Negri zu Rate zieht. Dort wird die Multitude nämlich vom Volk streng unterschieden. "Das Volk", so definieren sie, "ist eins". Setzt es sich auch aus diversen Klassen und Individuen zusammen, im Volk würden diese Differenzen schließlich doch zu einer Identität synthetisiert. Aber auch mit dem Mob, der Menge oder Meute hat die Multitude wenig gemein, weil die Individuen, die solche Haufen bilden, "zusammenhanglos" bleiben und "keine Gemeinsamkeiten" aufweisen. Obwohl sie unter Umständen "starke gesellschaftliche Wirkungen entfalten" könne, sei die Masse nicht in der Lage, eigenständig zu handeln. Um sozial bedeutsam und politisch etwas zu bewegen, bedürfe sie der Führung, sei es durch einen Volkstribunen, eine Partei oder eine andere Form der Organisation.

Eine Multitude besteht dagegen aus lauter Singularitäten, nicht weiter reduzierbaren Einheiten, die auch im gemeinsamen Handeln noch unterschiedlich bleiben und sich der Rückführung auf Gleichheit ebenso verweigern wie sich der Vereinheitlichung oder Manipulation durch größere Gemeinschaften oder Ideen widersetzen. Multitudes sind per definitionem heterogen und vielfältig, sie handeln allein auf der Grundlage dessen, was allen Singularitäten gemeinsam ist oder zumindest von allen geteilt wird. Beispielsweise die Sprache oder den Besitz von Genüssen, Fähigkeiten und Bedürfnissen; das Streben nach Freiheit oder einer besseren Zukunft oder die Neigung, sich Autoritäten zu widersetzen; aber auch die Art zu sprechen oder zu fluchen, zu essen oder zu furzen, zu lieben oder zu hassen.

Im Grunde zählen alle sechs Milliarden Menschen zur Multitude, Frauen und Kinder, Italiener und Tschetschenen, Baptisten und Islamisten, Unternehmer und Krankenschwestern. Da aber nicht jeder etwas gegen das Kapital, das US-Imperium oder die Weltbank hat, und etwa ein Fünftel aller Menschen direkt oder indirekt davon profitieren, dürfen sich zu ihr in erster Linie jene rechnen, die unter der Suprematie des globalen Kapitalismus arbeiten oder leiden, von ihm "ausgespuckt" oder an den Rand der Weltgesellschaft gedrängt werden: Tagelöhner und Frührentner, Almosenempfänger und Migranten, Schulabbrecher und Freaks, Psychopathen und sexuelle Abweichler.

Lebendiger Widerspruch

Vieles, was Hardt/Negri uns in "Multitude" auftischen, ist bekannt. Jargon und Vokabular ebenso wie die Feier der sozial Deklassierten. Das eine kennen wir aus der Chaostheorie oder der Selbstorganisationslehre, das andere aus der Wunschökonomie. Deleuze/Guattari haben Spinoza und Meister Eckhardt, Scholastik und Pantheismus seinerzeit virtuos auf die Psychoanalyse appliziert und den sozial verkannten Halbirren, Künstler und Schizo von der Couch der bürgerlichen Gesellschaft befreit. Bei den beiden Post-Marxisten geschieht das weit weniger virtuos, dafür spreizen sie "die Anormalen" und "Marginalisierten" zur geschichtsträchtigen Bewegung auf, die als neues gesellschaftliches Subjekt in der Lage sein soll, eine wahre "globale Demokratie" zu verwirklichen.

So wie der dritte Stand des Abbe Sièyes seinerzeit den historischen Widerspruch zum Ancien Régime darstellte mit der Folge, dass sich die Bourgeoisie an die Macht putschte, so stünde heute die Multitude im schärfsten Gegensatz zum globalen Empire. Sie verkörpere nicht nur den "lebendigen Widerspruch" zu ihm, in ihr, künde sich auch die "potenzielle Gestalt einer neuen globalen Gesellschaft" an.

Komplott der Überschüssigen

Erzeugt werde die Multitude durch den globalen Kapitalismus selbst. Einerseits, indem er immer mehr Menschen, die seinem Takt, Tempo oder Anforderungsprofil nicht mehr genügen, den Status des "Überflüssigen" und "Nutzlosen" aufbürde; andererseits, indem der globale Kapitalismus seine Produktionsweisen dramatisch ändere. Waren für den industriellen Kapitalismus Schwergüterproduktion, Taylorismus und stabile Langzeitbeschäftigung typisch, so sei seine neue Form von immateriellen Werten, vernetzten Strukturen und flexiblen, mobilen und prekären Arbeitsverhältnissen geprägt: flexibel, weil die Arbeitnehmer sich ständig neuen Aufgaben anpassen müssten; mobil, weil sie zu permanenten Orts- und Berufswechseln angehalten würden; prekär, weil es nur noch Zielvereinbarungen und Projektorientierungen gäbe, aber keine verlässlichen Arbeitsverträge.

Auch das ist nicht neu; und die Beobachtung, dass jede "Produktion immer einen Überschuss" erwirtschaft, der vom Kapital weder ökonomisiert noch assimiliert oder vollständig verzehrt werden kann, inspirierte bereits die Luxus-Philosophien Nietzsches, Batailles und Klossowskis. Auch sie fanden den Gedanken höchst spannend, dass aus dem "Kraft-Überschuss", den die kapitalistische Ökonomie zweifellos ausscheidet, irgendwann mal eine "Gegen-Bewegung" entstehen könnte, die ein "Komplott" anzettelt und eine stärkere Art oder einen höheren Typus von Mensch oder Menschheit aus ihrer Mitte heranbildet, der oder die die alte Werteordnung umkehrt und schließlich in den "Übermenschen" mündet.

Totengräber Kapitalismus

Jammern linke Aktivisten und Kader-Intellektuelle fast nur über die neuen Arbeitsstrukturen und Kommunikationsverhältnisse, entdecken die beiden Autoren in diesem Gestaltwandel des modernen Kapitalismus "ein enormes Potenzial für eine positive Veränderung der Gesellschaft".

Mit seiner Neigung, den Arbeitstag auszuweiten, die strikte Trennung von Arbeitszeit und Freizeit aufzuheben und die Produktion auf die Gewinnung und Verarbeitung neuer Daten, Bilder und Symbole umzustellen, schafft der moderne Kapitalismus neue soziale Lebensformen. Gleichzeitig zwingt ihn die immaterielle Werteproduktion dazu, alte Arbeitshierarchien zu schleifen und sie in Form sozialer Netzwerke zu organisieren. Weil diese aber auf Kommunikation, Kooperation und affektiven Beziehungen beruhen, werden über diese Sozialisierung der Arbeit genau jene Subjektivitäten geschaffen, die auf den "Kommunismus der Multitude" verweisen.

Höchst erstaunt dürften die Programmier-Sklaven und Netzwerk-Knechte bei Microsoft, SAP oder Oracle registrieren, dass sie durch ihr kollaboratives Tun das globale Empire aushebeln und an exponierter Stelle am baldigen Tod des modernen Kapitalismus mitwirken.

Schöpferisches Potential?

Vermutlich gilt auch hier, was Kritiker bereits damals an den Wunschökonomen moniert haben. So wenig wie die Schizo-Analytiker mit Spinnern, Hochstaplern und Irren praktisch zu tun gehabt haben, so wenig dürften Hardt/Negri jemals mit notorischen Schulschwänzern und Arbeitsverweigerern intensiveren Kontakt gepflegt haben. Sonst wären sie gewiss nicht auf die merkwürdige Idee gekommen, schöpferische Vermögen und Begabungen ausgerechnet bei solchen Subjekt-Gruppen zu vermuten.

Es mag ja sein, dass die Armen und Schwachen nicht nur Opfer sind und machtvoll handeln können. Seit Nietzsche wissen wir, dass Banker, Militärs, Industrielle, Kaufleute usw. nicht zugleich auch die Mächtigsten einer Gesellschaft sind. "Die Starken der Zukunft", so spekulierte der Philosoph kurz vor seinem endgültigen Zusammenbruch in Turin, ist "eine Rasse mit eigener Lebenssphäre, mit einem Überschuß von Kraft für Schönheit, Tapferkeit, Cultur [...]; eine bejahende Rasse, welche sich jeden großen Luxus gönnen darf [...], stark genug, um die Tyrannei des Tugend-Imperativs nicht nöthig zu haben, reich genug, um die Sparsamkeit und Pedanterie nicht nöthig zu haben, jenseits von gut und böse."

Und es mag auch sein, dass trotz PISA-Schock, Talentscouting und anderer fortgesetzter Maßnahmen zur Erschließung neuer Bildungsreserven das Talent der einen oder anderen Singularität unentdeckt bleibt. Man denke da an die HipHop-Szene, an Straßenfußballer in Sao Paulo oder an Garagenrocker aus Manchester und Umgebung. Ob aber aus dem, was Soziologen mittlerweile als "redundant population" bezeichnen, die Befreiung vom Parasiten "Empire" zu erwarten ist, scheint höchst spekulativ.

Wer jemals aus den Gettos und Favelas den Weg "nach oben" geschafft hat, der will nichts anderes als den Luxus und die Privilegien, die "das Empire" reichlich bietet, individuell genießen. Und wer jemals als Sozialarbeiter, Lehrer oder Psychiater vor Ort und von Berufswegen mit solchen Gruppen gearbeitet hat, wird wissen, dass in den Banlieues, den Downtowns oder Flüchtlingslagern auf Lampedusa statt "absolut positiver Lebenskräfte", die zum Bau eines "Gegen-Empire" befähigen, pure Tristesse herrscht.

Die üblichen Verdächtigen

Hardt/Negri wissen das auch, weswegen für die Multitude nur solche Singularitäten in Frage kommen, die den Neo-Liberalismus und die US-Hegemonie zum "gemeinsamen Gegner" haben. Gemeint ist damit vor allem jene bunte Schar von Globalisierungskritikern, die in Seattle und Prag, Davos und Genua Krawall geschlagen und die Vertreter des Empire (G8, IWF, WTO usw.) in Angst und Schrecken versetzt haben; gemeint sind damit alle Kriegsgegner, die am 15. Februar gegen den Irak-Feldzug auf die Straße gegangen sind, die Bücher von Michael Moore kaufen und sich gegen die Wiederwahl von George W. stemmen oder zum Weltsozialforum nach Porto Alegre oder Mumbai pilgern; und gemeint sind natürlich alle Zapatisten, Blogger und anderen schrulligen Netzaktivisten, die sich mit allen Unterdrückten dieser Welt solidarisieren und vom Chiapas, von Bagdad oder Grosny aus mit digitalen Waffen auf die "imperiale Souveränität" zielen.

Sie, und das ist vielleicht neu zum "Empire"-Buch, lokalisieren Hardt/Negri fast ausschließlich im Pentagon oder im Weißen Haus. Seit Nine-Eleven, so ihre aktualisierte Version, sind ihre Vertreter dabei, die Welt (Agamben lässt grüßen) in einen permanenten Ausnahmezustand zu versetzen.

Neues demokratisches Projekt

Wie simpel, mager und dürftig die Beschreibung der Weltgesellschaft, die geopolitischen Analysen und das analytische Potential für Soziologen auch ausfallen - auffallend ist, dass Hardt/Negri die funktionelle Differenzierung der Weltgesellschaft in Wirtschaft, Politik, Recht usw. einkassieren und im unterschiedslosen System der "Biomacht" aufgehen lassen.

Auffallend ist auch, dass sie wenig Vertrauen in globale Institutionen setzen, Elend, Armut, Ungleichheit oder Hunger der Welt beenden zu können. Und auffallend ist schließlich, dass sie mit der linkssozialistischen Tradition (Sowjetkommunismus, Sozialdemokratie) brechen und sich von lieb gewordenen Begriffen wie Frieden und Freiheit, Wohlfahrtsstaat und Menschenrechten intellektuell verabschieden. Seitdem diese Werte für nationale Interessen und imperialistische Ziele missbraucht werden, halten sie diese für vollkommen diskreditiert.

Und weil sie sich weder von einer durch das Recht "gefesselten Weltmacht" noch von einer revitalisierten und runderneuerten UN die Lösung der Weltprobleme erwarten, schlagen Hardt/Negri ein völlig anderes Projekt vor, eines, das die Sehnsucht der Menschen nach einer "Herrschaft aller durch alle" ernst nimmt, ihnen "freie Ausdrucksmöglichkeit" ermöglicht und ein "Leben im Gemeinsamen" garantiert. Damit diese Vision einer "möglichen anderen Welt" auch wahr wird, fordern sie die Erfindung neuer Praktiken, Waffen und Konzepte sowie die Entwicklung einer "neuen Wissenschaft der Gesellschaft und der Politik", die die imperiale Souveränität zerstört und an deren Stelle neue institutionelle Strukturen schafft, die echte Freiheit und Gleichheit realisieren.

All das bleibt vage und dunkel. Was Wunder, dass es im Buch von guten Absichten, Erwartungshaltungen und Glaubensbekenntnissen nur so wimmelt, die Suche nach konkreten Aktionsformen jedoch äußerst bescheiden ausfällt. Außer Copyleft und Creative Commons; außer der Vereinnahmung von Lebensschützern, Genfood-Gegnern und Indymedia-Aktivisten für das Multitude-Projekt; und außer der Stilisierung illegaler Einwanderung und Queer-Politik, karnevalesker Raves und provozierender Märsche von Lesben und Schwulen nach Altötting zu wirksamen Umsturzformen, fällt den beiden Autoren dazu nichts Gescheites ein. Es bleibt der Eindruck, dass die Autoren zwar die Übel in treffenden Bildern geschildert und das Elend der Welt erkannt haben, dafür aber keine wirklichen Lösungen parat haben.

Politischer Klimawechsel

Bei Lichte besehen stimmt nämlich nicht einmal der von Hartd/Negri erklärte Wille der Massen nach mehr Freiheit und Demokratie. Das mag vielleicht für den kurzen Sommer der Maueröffnung gegolten haben, als eine "Welle der Demokratisierung" (Sam Huntington) über den Erdball schwappte und eine Vielzahl von Staaten sich auf das Abenteuer der Demokratie einließen.

Spätestens seit dem elften September, als die Gefahr, die "schwache Staaten", Proliferation und Terrorismus für die "freie Welt" darstellen, konkret wurde, und sich dieses Sicherheitsdenken in den Präventivkriegen in Afghanistan und im Irak Ausdruck verschaffte, ist die Perspektive eine völlig andere geworden. Die von den Autoren proklamierte Sehnsucht der Multitudes nach Freiheit und Demokratie, ist von dem Verlangen nach Frieden, Sicherheit und Ordnung abgelöst worden. Nicht die fliehenden Kräfte, also Selbstorganisation oder Selbstregierung, stehen auf der politischen Agenda der Weltgesellschaft, sondern die haltenden Mächte, der Wunsch nach einem "starken Staat", der Schutz und Sicherheit bietet.

Sieht man sich die aktuellen Ereignisse im Greater Middle East, in Zentral- oder Südostasien und in Afrika an, dann ist vom weltweiten Siegeszug der Demokratie nur wenig zu erkennen. Im Gegenteil: Überall, wo freie Wahlen stattgefunden haben, ob in Weißrussland oder in Kasachstan, in Algerien oder in Venezuela, haben sich neue Autokratien oder Diktaturen entwickelt. Und auch in etlichen Staaten, die als Demokratie gehandelt werden, wie Ägypten, Indien oder Pakistan, dient Demokratie vielfach nur als Deckmantel, um Machtinteressen bestimmter Cliquen, Ethnien oder Religionsgemeinschaften zu verschleiern.

Fareed Zakaria hat zu Recht dafür vor einiger Zeit den Begriff der "illiberalen Demokratie" geprägt. Sie entsteht dort, wo Rechtsstaatlichkeit, Verfassungsliberalismus und stabile Institutionen fehlen bzw. sich historisch nicht hinreichend verankert haben. Nur Länder, wo unabhängige Richter Recht sprechen und ordentlich Steuern abgeführt werden, sind langfristig überhaupt in der Lage, eine Demokratie zu sichern. Und sie entsteht zunehmend auch dort, wo Lobbyisten und Förderalismus, Dialog und Konsens, Bürgerbeteiligung und Volksabstimmung den politischen Entscheidungsfluss hemmen.

Allheilmittel Demokratie?

Es könnte also gut sein, dass für Staaten, in denen diese institutionellen Vorkehrungen fehlen und das Pro-Kopf-Einkommen bei ein paar lumpigen Hundert Dollar liegt, Demokratie die falsche Staats- und Regierungsform ist. Per Wunsch wie bei Hardt/Negri oder per Dekret wie bei den Bushies lässt sie sich bestimmt nicht einführen. Man sieht das an den riesigen Problemen, die die Befreier im Irak, in Afghanistan oder im Kosovo haben. Demokratie ist weder Exportartikel noch Exportschlager, der einfach von einer Gesellschaft oder Kultur in die andere Gesellschaft oder Kultur transferiert werden kann. Deutschland und Japan, das die Neocons gern als Beispiele für eine gelungene Demokratisierung anführen, liefern ein höchst schiefes Bild, weil die Reeducation in diesen Ländern auf intakte Institutionen traf.

Das Scheitern der jüngsten Feldzüge auf dem Balkan, am Hindukusch und im Zweistromland überrascht daher nicht. Auf Demokratie zu setzen, ist hier wie in anderen vergleichbaren Fällen nicht die Lösung, sondern längst Teil des Problems. Statt alle Energie auf die rasche Abhaltung freier Wahlen zu setzen, hätten die Besatzer vorhandene Ressourcen, materielle wie menschliche, konsequent nutzen sollen.

Vielleicht hätten sie doch auf Sam Huntington hören sollen, der die "Demokratie" und ihre universellen Werte für ein typisch westliches Produkt hält, das für den Rest der Welt höchst untauglich ist. Um derartige Probleme dort in den Griff zu bekommen, braucht es Vertrags- und Rechtssicherheit, und nicht Selbstbestimmung und Partizipation. Freiheiten behindern eher den Staatsaufbau und unterhöhlen die eigenen, hehren Ziele.

Unterschiedliche Medizin

Der Affekt, den die beiden Post-Marxisten gegen den globalen Institutionalismus und die staatliche Souveränität überhaupt hegen, ist wirklichkeitsfremd, politisch naiv und zeugt von realpolitischer Unwissenheit. Hardt und Negri scheinen sich gedanklich noch in den 1980er und 1990er Jahren aufzuhalten, als angesichts offener Grenzen und der Mobilität von Waren, Kapital und Information fast alle Beobachter vom Niedergang des Staates überzeugt waren. Um sein Überleben zu sichern, sollte der Staat auf die Regulierungsfähigkeit der Märkte vertrauen, sich aus dem Wirtschafsleben zurückziehen und sich auf sein Kerngeschäft (Landesverteidigung, Ausbildung, Infrastruktur) konzentrieren. Im "Washingtoner Beschluss" sind diese Ansichten beurkundet, dem Vertreter der reichen als auch der armen Länder zustimmten.

Was sich für manche als Segen erwies, endete für andere im Desaster. Sie standen nach der Liberalisierung ihrer Wirtschaft noch schlechter da als vorher. Offenbar hatten die Vertreter, worauf Francis Fukuyama in seinem glänzend geschriebenen und schlüssig vorgetragenen Essay zum "Staatenbau" aufmerksam macht, die unterschiedlichen Formen, die Staatlichkeit annehmen kann, schlichtweg übersehen.

Nicht jede Medizin, die ein Arzt verordnet, wirkt gleich oder ist für alle gleichermaßen geeignet. Wie man heute vielfach beobachten kann, bringt Wirtschaftsliberalisierung nur dort die erhofften Impulse, wo der Staat sich auf die Macht und Stärke seiner Institutionen verlassen kann. Dort, wo der Staat "schwach" ist und Institutionen fehlen, führt sie eher ins Elend. Selbst Milton Friedman, oberster Chicago-Boy, gibt mittlerweile zu, dass "Rechtsstaatlichkeit womöglich wichtiger ist als Privatisierung".

Starke Staaten

An den unterschiedlichen Erfahrungen, die China und Russland mit der Einführung der Marktwirtschaft gemacht haben, lässt sich das verdeutlichen. Halten die chinesischen Führer die politischen Zügel fest in der Hand und geben der Liberalisierung der Märkte Vorzug vor jeder politischen Demokratisierung, meinten Gorbatschow und Jelzin Glasnost vor der Perestroijka einführen zu können.

Das traurige Ergebnis dieser überstürzten Demokratisierung ist vor Ort zu beobachten. Während Korruption und Amtsmissbrauch, Selbstbedienung und Russenmafia den Staat unterminieren oder ausplündern, herrscht unter der Bevölkerung Lethargie, Elend und soziale Armut. Vladimir Putin scheint diesen Fehler jetzt, unter dem Eindruck von Terror nationalistisch gesinnter Separatisten, mit Hilfe alter KGB-Seilschaften korrigieren zu wollen. Mit dem Aufbau eines "starken Staates" will er die wachsenden terroristischen Überfälle wie auch die grassierende Korruption und den Machtmissbrauch in den staatlichen föderalen wie regionalen Diensten in den Griff kriegen.

Die Entrüstung unserer politische Moralisten war zu erwarten. Von Staatscoup und kalten Staatsstreich, ist seither die Rede, vom "Bruch euroatlantischer Werte" und von der Pflicht des Westens, Putin endlich die rote Karte zu zeigen. Den Vogel schießt wieder mal André Glucksmann ab, der Gralshüter der Moral, der das Selbstverständnis des Westens auf dem Spiel sieht.

Gleiches gilt auch für die ostasiatischen Staaten. Singapur und Taiwan, Südkorea und Malaysia sind wirtschaftlich deswegen so erfolgreich, weil sie Institutionen nicht einfach von außen importiert haben, sondern auf die Bedürfnisse ihrer Kultur zugeschnitten und für die Funktionalität ihrer Gesellschaften modifiziert haben. Und sie sind auch deswegen erfolgreich, weil ein "starker Staat" Partizipation einschränkt und politische Entscheidungen auch gegen den Willen seiner Bürger durchsetzen kann. Fukuyama dazu:

Reformen werden besser von autoritären Regimen angegangen, die die gesellschaftlichen Forderungen unterdrücken können, oder von einer technokratischen Elite, die gewissermaßen isoliert oder vom politischen Druck abgeschottet ist.

Auslaufmodell Demokratie?

Könnte Deutschland, aber auch andere EU-Staaten, von den Tigerstaaten Ostasiens lernen, wie sich der Umbau der sozialen Sicherheitssysteme politisch durchsetzen und den weltgesellschaftlichen Realitäten anpassen lässt? Auch und vor allem gegen den Willen der eigenen Bevölkerung? Ist der Siegeszug, den die Demokratie westlicher Prägung nach Ende des Kalten Krieges genommen hat und nehmen sollte, also ein Rohrkrepierer? Haben wir es gar mit einem Auslaufmodell zu tun?

Den einen oder anderen politischen Romantiker und moralisch Bewegten wird bei diesen Worten sicher mulmig zumute werden und auf seinem Stuhl höchst nervös hin und her rutschen. Doch kann man ihn beruhigen. Vorerst zumindest. Entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg eines Landes ist laut Fukuyama nämlich nicht der Autoritarismus, sondern die Stärke staatlicher Institutionen sowie die Qualität der Führung und ihrer Berater. Jedoch beweist der wirtschaftliche Aufstieg Ostasiens und der einiger südamerikanischer Länder, dass der innere Zusammenhang zwischen Demokratie und Entwicklung keineswegs zwingend ist. Demokratie und Freiheit können die Entwicklung von Staaten auch eher hindern als fördern, eine Beobachtung, die auch schon Carl Schmitt gemacht hat. Es verwundert daher nicht, dass Ostasien und Südamerika in "Multitude" weder geografisch noch politisch vorkommen, dafür aber vor allem jene Regionen südlich der Sahara, die an Armut und Hunger leiden, keine verlässlichen und stabilen Institutionen besitzen und für "neopatrimonale" Unterwanderung anfällig sind.

Institutionen stärken

An Fukuyama und Zakaria wird deutlich, dass "Nation-Building" nicht die Fratze ist, hinter der "Biomacht und Sicherheit deutlich" werden, wie Hardt/Negri glauben. Erst die Existenz von Rechtsstaatlichkeit und Steuergesetzen, einer funktionierenden öffentlichen Verwaltung und eines leistungsfähigen Bildungssystems stellt sicher, dass die Wirtschaft eines Landes florieren kann. An "schwachen" oder "gescheiterten" Staaten" wird deutlich, was instabile oder demontierte Institutionen für die dort lebende Multitude bedeuten oder anrichten.

Soziale Netzwerke, in denen sie sich organisieren, können die Handlungssicherheit, die sie dem "Mängelwesen" Mensch (Arnold Gehlen) geben, nicht vollständig ersetzen. Zwar "entlasten" sie die Akteure auch von Handlungsdruck, reduzieren Komplexität und stimmen (je nachdem) Motive, Eigeninteressen und Ziele aufeinander ab. Doch die normative Verbindlichkeit, die staatliche Institutionen auf alle Beteiligten ausüben; den sozialen Zusammenhalt und die soziale Ordnung, die sie erzwingen; die Rechtssicherheit, Vertragstreue und Sanktionsgewalt, die sie garantieren, können soziale Netzwerke nicht leisten. Abgesehen davon, dass sie für die komplexen Aufgaben und Herausforderungen, die der moderne Staat heute meistern muss, völlig ungeeignet sind.

Selbstregierung ist ein schöner Traum, der höchstens für Individuen in Frage kommt, die aus ihrem Leben ein Kunstwerk machen möchten (Michel Foucault). Das auf das internationale Staatensystem zu übertragen, dürfte erhebliche Schwierigkeiten machen. Vor allem dann, wenn man sich am sozialen Elend stößt und es bekämpfen will. Die Übel, die das Empire verursacht, löst man, wenn überhaupt, nicht mit Global Governance, sondern mit der Stärkung globaler Institutionen, mit nicht weniger, sondern mehr Staat und (vielleicht) etwas weniger Demokratie.

Michael Hardt und Antonio Negri, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt: Campus 2004, 432 S., 34,90 Euro.

Francis Fukuyama, Staaten bauen. Die neue Herausforderung internationaler Politik, Berlin: Propyläen 2004, 192 S.

Fareed Zakaria, The Future of Freedom. Illiberal Democracy at Home and Abroad, New York: W.W. Norton & Company, 286 Seiten, 24,95 US-Dollar