Anklagen im Nahost-Konflikt: Die Weltunordnung steht vor Gericht
Bezeichnende Reaktionen im Westen auf Anklage gegen Hamas und Israels Führung. Doch dem IStGH-Chefankläger gebührt Respekt. Ein Telepolis-Leitartikel.
Es gibt einen Satz in der Erklärung des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, der einem den Atem stocken lässt – vor allem, wenn man sich mit den Ereignissen des 7. Oktober 2023 schon näher beschäftigt hat. In Gesprächen mit Überlebenden habe er erfahren, schreibt der schottische Völkerrechtler, "wie die Liebe einer Familie, die tiefsten Bindungen zwischen Eltern und Kindern, durch kalkulierte Grausamkeit und extreme Gefühllosigkeit in unermessliches Leid pervertiert wurden".
In dieser Aussage wird die ganze Dimension des Verbrechens der Hamas und die Selbstentmenschlichung der islamistischen Täter deutlich. Zugleich bricht die Formulierung mit dem sachlich-protokollarischen Ton, in dem zuvor die völkerrechtlichen Verbrechen beschrieben werden. Es ist eine Passage, die zutiefst empathisch ist und zugleich das Entsetzen über die Eskalation im Nahen Osten in Worte zu fassen versucht.
In Israel und bei seinen westlichen Verbündeten, allen voran den USA und Deutschland, ist dies nicht angekommen, man muss von bewusstem Ignorieren ausgehen. Stattdessen brach hierzulande in Politik und Medien ein Sturm der Entrüstung aus.
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Der Grund: Khan und sein Team haben das getan, was man von ihnen erwartet. Sie haben auf der Grundlage des Römischen Statuts ermittelt und die Strafverfolgung mutmaßlicher Menschenrechtsverbrecher im Nahost-Konflikt in die Wege geleitet.
Menschenrechtsverbrechen wurden nicht nur am 7. Oktober auf israelischem Staatsgebiet von Milizionären der Hamas und anderer islamistischer Gruppen begangen. Sie finden, wie die Erklärung des Chefanklägers zutreffend ausführt, seit dem 8. Oktober auch auf palästinensischem Boden statt.
Dass dies von Politikern und Medien westlicher Staaten seit Anfang der Woche geleugnet wird, zeugt von mehr als einer Echokammer.
Es ist, wenn man die Bilder der totalen Zerstörung im Gazastreifen sieht und die Nachrichten von Massenvertreibungen, Hunger und Tod liest, ein fast psychopathologisches Massenphänomen: die Verdrängung eines Verbrechens, das man nicht sehen will, weil es nicht sein darf.
Aus Gründen der Staatsräson, aus geopolitischen Interessen, aus Selbstschutz.
Die Taten der Netanjahu-Regierung und der Armee werden wahrgenommen
Im großen Rest der Welt wird jedoch wahrgenommen, was nicht der israelische Staat, nicht die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, sondern die in Teilen rechtsradikale Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auf die Verbrechen des 7. Oktober 2023 hat folgen lassen.
Ein offener und bewusster Krieg gegen die Zivilbevölkerung, aus dem auch kein Hehl gemacht wird, vor allem nicht von dem nun Mitangeklagten Yoaw Galant. Zitat: "Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln entsprechend."
Man kann inzwischen fast täglich beobachten, wie sich westliche Politiker und Medien immer tiefer in die Widersprüche ihrer eigenen Geopolitik und Weltsicht verstricken. Da wird wochen- und monatelang gefordert, man dürfe nicht über die Verbrechen der israelischen Armee in Gaza sprechen, ohne zuerst die Verbrechen vom 7. Oktober vergangenen Jahres zu erwähnen.
Jetzt macht der Chefankläger des IStGH genau das und wird dafür gescholten. Er dürfe nicht die Verbrechen der Hamas und die der israelischen Armee in einem Atemzug nennen, heißt es.
Doch eine solche geforderte Abstufung gibt es im Recht nicht. In einer funktionalen Rechtsordnung, ob national oder international, ist der Verdächtige ein Verdächtiger, der Täter ein Täter. Es gibt keinen guten und keinen schlechten Verdächtigen. Es gibt keinen guten oder schlechten Täter. Es gibt keine terroristischen Völkermörder und es gibt keine rechtsstaatlichen Völkermörder. Denn ein Völkermörder ist ein Völkermörder.
Khan und sein Team wissen das. Sie widersetzen sich – und dafür gebührt ihnen Respekt – einer eingefahrenen Haltung westlicher Staaten, die es in unser zu Ende gehenden postkolonialen Weltordnung lange gewohnt waren, Täter, Richter und Henker zugleich zu sein. Dass dies vorbei ist, zeigt unter anderem die Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof.
Kahn und sein Team standen vor der Wahl, Anwälte der Weltunordnung oder Akteure der völkerrechtlichen Weltneuordnung zu sein. Sie entschieden sich für Letzteres, mit allen damit verbundenen Risiken.
Drohungen republikanischer Senatoren
Zwölf republikanische US-Senatoren, darunter prominente Namen wie Tom Cotton, Marco Rubio und Ted Cruz, haben Khan kürzlich davor gewarnt, gegen die israelische Regierung vorzugehen. Hintergrund der Drohung waren da schon die Ermittlungen gegen den israelischen Premier und andere israelische Politiker.
In einem Brief, über den auch Telepolis berichtet hatte, drohten die Senatoren ihrerseits mit "harten Sanktionen", sollten internationale Haftbefehle gegen Netanyahu und andere mutmaßliche Verantwortliche für Völkerrechtsverletzungen erlassen werden.
Sie betonen, dass jeder Versuch des IStGH, diese Personen für ihre Taten im Gazastreifen zur Rechenschaft zu ziehen, als Bedrohung der Souveränität Israels und der Vereinigten Staaten angesehen werde. Die Senatoren stellten sogar Maßnahmen gegen Khan, seine Mitarbeiter und deren Familien in Aussicht.
Ägypten unterstützt IGH-Verfahren
Unterdessen hat Ägypten angekündigt, im parallel laufenden Verfahren Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof zugunsten der Anklage zu intervenieren. Das geht aus einer Erklärung des ägyptischen Außenministeriums hervor. Die Entscheidung folgt auf die Eskalation der israelischen Operationen in Gaza und deren Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung.
Hintergrund der Ankündigung sind die zunehmenden Spannungen zwischen Ägypten und Israel. Insbesondere die israelischen Militäraktionen in der Grenzstadt Rafah stellen langjährige Abkommen und die Sicherheitszusammenarbeit auf die Probe.
Das ägyptische Außenministerium erklärte: "Die Ankündigung, in diesem Fall einzugreifen, erfolgt angesichts der Ausweitung des Ausmaßes und der Intensität der israelischen Verstöße gegen Zivilisten in Gaza." Details zu der geplanten Intervention wurden jedoch nicht genannt.
Es gibt auch Stimmen der Vernunft
Während sich die Auseinandersetzungen um den israelischen Krieg in Gaza politisch und juristisch zuspitzen, sind auch Stimmen der Vernunft zu vernehmen. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch begrüßte die Entscheidung des IStGH. Die Opfer schwerer Misshandlungen in Israel und Palästina stünden seit Jahrzehnten vor einer Mauer der Straflosigkeit, hieß es von dieser Seite.
Dieser erste Schritt des Chefanklägers des IStGH ebne den Weg dafür, dass sich die Verantwortlichen für die Gräueltaten der vergangenen Monate vor einem fairen Gericht für ihre Taten verantworten müssen.
Die Unterzeichnerstaaten des Römischen Statuts sollten bereit sein, die Unabhängigkeit des IStGH "entschlossen zu schützen", da der "feindselige Druck wahrscheinlich zunehmen" werde.
Südafrika begrüßt IStGH-Entscheidung
Auch das südafrikanische Präsidialamt hat die Entscheidung des IStGH-Chefanklägers begrüßt. Südafrika betonte, dass das Gesetz für alle gleichermaßen gelten müsse, um die internationale Rechtsstaatlichkeit aufrechtzuerhalten, die "Verantwortlichen für abscheuliche Verbrechen" zur Rechenschaft zu ziehen und die Rechte der Opfer zu schützen.
Telepolis hatte am Dienstag über kritische Töne in der liberalen israelischen Tageszeitung Haaretz berichtet. Dort hieß es, es sei der Regierung Netanjahu anzulasten, dass Israel und die Hamas nun in einem Atemzug genannt würden.
Die Chance des Internationalen Strafgerichtshofs
Die Realität ist niederschmetternder. Während die israelische Regierung trotz aller Gewalttaten in Gaza prinzipielle Unterstützung aus dem Westen erfährt, werden die islamistischen Milizen auf palästinensischer Seite in weiten Teilen des Globalen Südens, also in Staaten mit kolonialer Gewalterfahrung, gefeiert.
Beides ist zivilisatorisch verheerend.
Der Internationale Strafgerichtshof hat die Chance, Recht und Rechtsempfinden wiederherzustellen.