Eine "bessere Weltordnung": Friedliche Kampfansage an die Supermacht USA

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Wenn sich die frommen Wünsche von US-Politologen mit dem Urteil des Staatsfeinds Putin decken, muss man die Frage stellen, wem eine neue Weltordnung eigentlich dient? Teil 2.

Der neue kalte Krieg, von dem Michael Hudson spricht (siehe Teil 1: Unipolar, Bipolar, Multipolar? Die (schöne) neue Weltordnung), ist längst Realität.

Dafür muss man sich nicht auf die Chip-Sanktionen der USA fokussieren, die "das Potenzial haben, Chinas Halbleiterbranche abzuschlachten", wie es auf heise.de heißt.

Die Kontinuität der Regierung in den USA, das "playbook" von Clinton bis Biden, beschränkt sich nicht auf die Mauer zu Mexiko. Schon Obama hat bekanntlich einen Handelskrieg gegen eine protektionistische Volksrepublik vom Zaun gebrochen.

Aus dem letzten Kalten Krieg sind die Vereinigten Staaten und ihr politisches System als Sieger hervorgegangen – sofern man bei einem Krieg überhaupt von Siegern sprechen kann. Doch anders als der Politologe Francis Fukuyama behauptete und es noch heute in den Universitäten als Ursprung der sogenannten Postmoderne beschworen wird, ist damit nicht das "Ende der Geschichte" eingetreten.

Vielmehr macht das totalitäre China den oligarchisch-demokratischen USA als Weltmacht Konkurrenz und begehrt (gemeinsam mit den Brics-Staaten) gegen den globalen Hegemon auf. Ob man allerdings wirklich von einem Kampf der Systeme sprechen kann, soll später thematisiert werden.

Jedenfalls mehren sich die Stimmen derer, die den USA die Schuld an der Konfrontation zuweisen, wenn auch nur verklausuliert.

Annäherung auf Augenhöhe

So veröffentlichte das Politmagazin Foreign Affairs Anfang September 2022 einen Artikel mit dem Namen "How to Build a Better Order", in dem sich die U.S.-China Trade Policy Working Group, ein transpazifischer Think Tank unter Ko-Vorsitz des Foreign-Affairs-Autor Dani Rodrik, für eine friedliche Koexistenz ausspricht – und zwar eine auf Augenhöhe, wohlgemerkt.

[…] keines der beiden Länder [kann] die realistische Hoffnung hegen, das andere zu erobern oder es zu zwingen, sein politisches System zu ändern. Die gegenseitige Koexistenz ist die einzige realistische Möglichkeit.

Dani Rodrik und Stephen M. Walt

Den Neocons in der Tradition von Zbigniew Brzezinski ("Die einzige Weltmacht") dürfte eine solche Sicht bitter aufstoßen. Und damit noch nicht genug, denn die Bemühungen um eine friedliche Koexistenz, so der Artikel weiter, seien weniger an China gescheitert als an den Vereinigten Staaten:

Bislang ist es den Vereinigten Staaten nicht gelungen, eine China-Politik zu formulieren, die darauf abzielt, lebenswichtige Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen der USA zu schützen, ohne gleichzeitig die Vormachtstellung der USA durch Unterminierung der chinesischen Wirtschaft wiederherzustellen.

Weit davon entfernt, China in einem multipolaren [!] System mit flexiblen Regeln unterzubringen, zielt der derzeitige Ansatz darauf ab, China einzudämmen, seine relative Macht zu verringern und seine strategischen Optionen einzuschränken.

Dani Rodrik und Stephen M. Walt

Die durchaus brisanten und nicht immer impliziten Anschuldigungen gegen die USA kleidet die Trade Policy Working Group in das Gewand eines konstruktiven "four-part framework", auf das sich künftige Handlungen der Großmächten stützen sollen. Es lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:

1. Handlungen, die "verboten" [prohibited] sind: = Gefährdung der territorialen Integrität, militärische Angriffe, Folter, "Handelskolonialismus", Monopolismus, Währungsmanipulation

2. Handlungen, die durch Anpassung zum Erfolg für beide Parteien führen: = Gegenseitige Zusicherungen: Etwa Handelsnormen, Waffenkontrolle usw., aber auch Verzicht auf Provokationen (Spionage, Cyber-Angriffe)

3. Handlungen zur Wahrung der nationalen Souveränität: = Beispielsweise Bildung und Verkehr, aber auch: Ölpreise = Sanktionen erlaubt, aber "angemessen" und "nicht, [nur] um einen Rivalen zu schädigen oder zu strafen" sowie unter Abwägung eines Schadens für Drittstaaten

4. Handlungen, die eine multilaterale Beteiligung erfordern: = Multilaterale Verträge in den Bereichen Klima, "pandemic preparedness" und Nuklearwaffen, nach dem Vorbild des Atomwaffensperrvertrags.

Unschwer zu erkennen, dass sich die vier Punkte auf vergangene und andauernde Zwistigkeiten zwischen den USA und China beziehen. Nicht so recht zu erkennen ist ein Unterschied zu der Weltordnung, die die Vereinten Nationen (UN) vorgeben. Ein Novum wäre allein die Verbindlichkeit.

Zerfall der alten "Neuen Weltordnung"

Ein Novum innerhalb des Diskurses ist es aber auch, die Dinge so beim Namen zu nennen. Denn das geforderte "meta-regime" (das in Ermangelung geeigneterer Kontrollinstanzen – vorerst? – mit den UN gleichgesetzt werden muss) solle vor allem deshalb gestärkt werden, weil sich die regelbasierte internationale Ordnung (wörtlich "rules-based order") seit den 1990er-Jahren im "Zerfall" befinde.

Das ist dieselbe "regelbasierte Ordnung", an der Emmanuel Macron festhalten möchte (siehe Teil 1). Dieselbe Ordnung, auf die Annalena Baerbock und Roderich Kiesewetter schwören, und vor ihnen schon Angela Merkel.

Dieselbe Ordnung, von der der renommierte Soziologe Wolfgang Streeck gegenüber Cicero erklärte, sie sei schlichtweg eine Chiffre für die (neoliberale) Neue Weltordnung unter Vorherrschaft der USA.

Falls Sie als geneigter Leser jetzt noch Luft haben für in der West-Öffentlichkeit weitaus anstößigere Inhalte: In seiner Rede bei der Tagung des Waldai-Clubs, die am 27. Oktober unter dem Titel "Frieden nach der Hegemonie: Gerechtigkeit und Sicherheit für alle" stattfand, beschreibt der russische Präsident die derzeitige Lage der Welt ganz ähnlich:

Das westliche Modell der Globalisierung, das im Kern neokolonial ist, basierte ebenfalls auf der Vereinheitlichung, auf dem finanziellen und technologischen Monopol, auf der Auslöschung aller und jeglicher Unterschiede. Das Ziel war klar: die bedingungslose Vorherrschaft des Westens in der Weltwirtschaft und -politik zu stärken […] und zwar unter dem Deckmantel der sogenannten neuen globalen Interdependenz.

Wladimir Putin, Rede Waldai-Club, 27. Oktober 2022 (eigene Übersetzung aus dem englischen Transkript)

Auch Vladimir Putin stellt einer unipolaren regelbasierten Ordnung eine multipolare Ordnung mit mehreren souveränen Macht-Drehpunkten entgegen:

Ich bin davon überzeugt, dass echte Demokratie in einer multipolaren Welt zuallererst die Möglichkeit jedes Volkes, ich möchte das betonen, jeder Gesellschaft, jeder Zivilisation voraussetzt, ihren eigenen Weg, ihr eigenes soziales und politisches System zu wählen.

Wladimir Putin

Um dem Vorwurf vorzubeugen, hier werde der russischen Propaganda der rote Teppich ausgerollt, wenden wir uns dem Kreml wieder ab und ein letztes Mal dem US-Diskurs zu. Und zwar vor dem Hintergrund der Frage, ob die Globale Gemeinschaft wirklich nach einer multipolaren Welt strebt, oder ob die Weltherrschaft sich hier nur einen neuen Anstrich verpasst.

Dabei treten erstaunliche Parallelen zu den (tatsächlichen oder vermeintlichen) Propagandisten zu Tage.

Wer hat Angst vor der neuen Weltordnung?

Man hält es kaum für möglich, aber auch im Atlantik-Brücke-Artikel "In Search of A New World Order" (siehe Teil 1) von Michael Hüther und Sigmar Gabriel findet sich ein Affront gegen den transatlantischen Partner. Zwar nicht ganz so deutlich wie beim "better order"-Artikel von Foreign Affairs, aber ganz sicher nicht ohne Sprengkraft:

Es ist immer noch unklar, wie die neue Weltordnung aussehen kann oder sollte. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Ian Bremmer hat den Begriff "G-Zero" geprägt, um eine Welt nach der Pax Americana zu beschreiben, in der es keine klare Führung und keinen "Hegemon" oder Hüter der internationalen Ordnung gibt: Eine unbeständige Welt mit mehreren Drehpunktstaaten.

Michael Hüther und Sigmar Gabriel

Ian Bremmer, in den Medien gefragter Experte und Gründer des renommierten Beratungsunternehmens Eurasia Group, das seit 2001 jährlich den Global Political Risk Index (GPRI) als Investitionsmarker für die Wall Street herausgibt, spricht schon seit 2018 von einer "geopolitischen Rezession", die die Vorherrschaft der USA auf dem Globus beendet.

In einem Interview mit Radio Davos, dem Sender, der das jährliche Treffen des Weltwirtschaftsforums (WEF) begleitet, spricht sich Bremmer bezeichnenderweise nicht für eine multipolare Ordnung souveräner Nationalstaaten aus, sondern für globale Institutionen, die gerade angesichts der Erfahrungen in der Corona-Krise gestärkt werden müssten:

Wenn die Leute heute sagen: "Unsere Institutionen [die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden, =UN, Nato] sind kaputt. Wir wollen diese Institutionen einfach nicht. Wir wollen diese Global Governance einfach nicht. Wir sollten es selbst tun." Nein. Nein, Sie werden nicht auf eigenen Beinen stehen können. Sie brauchen eine globale Architektur, aber Sie müssen diese Institutionen wieder aufbauen. Und an diesem Punkt stehen wir heute in der Welt.

Ian Bremmer

Hier wird der Diskurs um die neue Weltordnung sehr interessant. Denn diese Einschätzung deckt sich auch mit der etwa Jeffrey Sachs’, der zuletzt Aufsehen erregte, als er in Bezug auf die Sabotage der Nordstream-Pipelines offen die USA verdächtigte.

Seine anschließenden, auch auf Telepolis veröffentlichten Ausführungen klangen ebenfalls wie ein Aufbegehren gegen den Hegemon – oder zumindest dessen Falken an der Spitze. Sachs und Dani Rodrik, Mitautor des "better order"-Artikels, kennen sich übrigens vom Briefe schreiben an Angela Merkel.

Als aktiver UN-Funktionär, ehemaliger Berater dreier UN-Generalsekretäre sowie von Währungsfonds und Weltbank spricht sich auch Sachs für eine Institution nach dem Prinzip des "global government" aus. Zu bedenken gilt es dabei, dass die UN nicht im luftleeren Raum existieren: Die größten Geldgeber sind immerhin – unter den privaten – die Bill & Melinda Gates Stiftung – und unter den Mitgliedsländern – die USA (Stand: 2020).

Die Vorstellung einer globalen Institution mit föderalen Strukturen, die sich für globale Gerechtigkeit einsetzt, lässt sich in jedem Fall gut verkaufen. Globale Probleme müssen eben global angegangen werden, natürlich. Wer sollte da widersprechen?

Nicht mal Putin und Xi Jinping tun das. Ganz im Gegenteil. Die sprachen sich im Februar 2022 "für eine universalistische und offene Weltordnung mit den Vereinten Nationen im Zentrum" aus. Die gemeinsame Verpflichtung auf die Vereinten Nationen als Zentrum der Macht erklärt auch, warum die Ziele der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung global so einheitlich verfolgt werden.

Zweifel an den hehren Zielen

Die Herausforderungen, welche den Staaten der Vereinten Nationen begegnen, verlangen zunehmend nach einer Auflösung der nationalstaatlichen Souveränität im engeren Sinne.

Dabei klingen die Argumente immer plausibel: Keinem Staat möchte man zugestehen, in Bezug auf den Klimawandel oder eine weltweite Pandemie nach eigenem Ermessen verfahren zu dürfen, von Umgang mit Nuklearwaffen ganz zu schweigen.

Gleichzeitig sorgt die technologische Entwicklung dafür, dass sich die Zivilisationen der Welt zunehmend einander angleichen – und zwar unabhängig davon, ob es sich um totalitäre oder oligarchisch-demokratische Staaten handelt.

Dass die USA entgegen öffentlicher Bekundungen den chinesischen Gesellschaftsentwurf nicht vollständig ablehnen, sondern darin einen technologischen Vorsprung sehen, den es einzuholen gilt, verdeutlichte 2019 ein nach dem Freedom of Information Act (FOIA) freigeklagtes Dokument des National Security Council on Artificial Intelligence (NSCAI). Darauf aufmerksam gemacht hatte das Portal The Last American Vagabond. Im Dokument heißt es:

In der amerikanischen und europäischen Presse und Politik wird KI als etwas Gefürchtetes dargestellt, das die Privatsphäre untergräbt und Arbeitsplätze stiehlt. Im Gegensatz dazu sieht China die KI sowohl als Instrument zur Lösung der großen makroökonomischen Herausforderungen, um sein Wirtschaftswunder aufrechtzuerhalten, als auch als Chance, die technologische Führung auf der Weltbühne zu übernehmen. [...]Die Massenüberwachung ist eine hervorragende Anwendung ["killer app"] für Deep Learning.

Chinese Tech Landscape Overview

Smart Cities, biometrische Datenbanken, digitale Identitäten und digitales Zentralbankgeld – denen zivilgesellschaftliche Akteure aufgrund des inhärenten Potenzials zur Bevölkerungskontrolle meist skeptisch gegenüberstehen – werden rund um den Globus vorangebracht, meistens mit der Zielvorgabe 2030.

Das heißt selbstverständlich nicht, dass eine technologische Entwicklung in Einklang mit den nominell durchaus erstrebenswerten Zielen der Agenda 2030 nicht erstrebenswert ist. Dennoch sollte man sich nicht von diesen hehren Zielformulierungen alleine blenden lassen und die Spekulation im Emissionshandel oder die Beteiligung von Investmentbankern an der Erreichung von Klima-Zielen kritisch hinterfragen.

Wie das Portal unlimited hangout herausgearbeitet hat, strebt etwa die mit solchen Investmentbankern üppig besetzte Glasgow Financial Alliance for Net Zero (GFANZ) laut ihres "progress reports" nach

"eine[r] deutliche[n] Steigerung des privaten Kapitalflusses in die Schwellen- und Entwicklungsländer zur Deckung ihres Transformationsbedarfs durch Investitionen des Privatsektors und öffentlich-private Zusammenarbeit".

Um am Ende dieses Textes noch einmal zum Anfang des Ausflugs in die Welt der Weltordnungen zurückzukommen, dazu ein abschließendes (Klima-)Zitat des ehemaligen Investmentbankers Emmanuel Macron, frisch vom APEC-Gipfel im November:

Was wir jetzt tun müssen, ist genau das: gemeinsam mit dem Privatsektor handeln, um diese Herausforderungen gemeinsam zu lösen, globale Regeln aufzustellen, regionale Organisationen zu binden und die Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor zu fördern, um diese gemeinsamen Probleme zu lösen.

Emmanuel Macron

Man muss hoffen, dass auch diejenigen Probleme gelöst werden, die durch einen entfesselten Kapitalismus (nicht: Marktwirtschaft!) erst geschaffen wurden.