Einsamkeit: Vom individuellen Leid zum kollektiven Problem

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Wie fehlende soziale Bindungen zu Gewalt führen kann. Psychologische Hintergründe und Konsequenzen. Ein Essay über die Einsamkeit. (Teil 1)

Als er anfing zu sterben, verließ er die Wohnung, dritter Hinterhof, zweiter Stock, verschloss die Tür mit dem einzigen Schlüssel und warf ihn durch die Briefklappe in den Flur.

Christoph Meckel

Seit am 7. April 2019 in Münster ein Mann mit einem Kleinbus in ein Straßencafé gerast ist und zwei Menschen und sich selbst getötet und über zwanzig andere zum Teil schwer verletzt hat, herrscht die nach solchen Taten übliche Ratlosigkeit.

Wenn der Mann Muslim gewesen wäre oder mindestens einen Migrationshintergrund besäße, wäre die Sache klar und man würde sagen: "Aha, das ist es also!" Die Tat von Münster wäre dann die Verlängerung der Taten von Nizza und dem Berliner Weihnachtsmarkt. Da der Täter aber nichts davon zu bieten hat, sondern ein 48-jähriger Deutscher und ein wohlhabender Designer gewesen ist, bedient man sich der inzwischen bei Fällen mit unklarer Motivlage üblichen Schablone vom "psychisch gestörten Einzeltäter".

Von der Tat schließt man auf irgendwelche im Täter ab ovo wirksamen pathologischen Kräfte, aus denen dann wiederum im Sinne eines Zirkelschlusses die Tat kausal hergeleitet wird. Die abweichenden Verhaltensweisen, die als Ursache und Ort der Entstehung des Verbrechens präsentiert werden, sind nur dessen psychologische und moralische Verdoppelung. Diese "Erklärung" mag unser Kausalitätsbedürfnis befriedigen, erklären tut sie in Wirklichkeit gar nichts.

Amok und Einsamkeit

Auch die Einsamkeit ist recht seltsam ... zuweilen voller Gefahren und Überraschungen wie ein Urwald. Ich kenne alle ihrer Spielarten. Die Langeweile, die man mit der genauen Lebensordnung vergeblich bekämpft. Dann die plötzlichen Ausbrüche. Auch die Einsamkeit ist geheimnisvoll wie der Dschungel.

Sándor Márai

Nachdem ich unlängst in der Stadtbibliothek gewesen bin und die dort ausliegenden Zeitungen vom Wochenbeginn durchgesehen habe, drängte sich mir der Eindruck auf: Der Mann war abgrundtief einsam - und gleichzeitig sehr wütend. In einer Abwandlung eines Satzes von Goethe könnte man sagen: "Die einsamen Menschen sind gefährlich!"

Bei Goethe sind es die "unglücklichen Menschen", aber das ist nur ein anderes Wort. Einsam, unglücklich und depressiv ist für die Mitwelt meist unproblematisch, einsam und aggressiv kann unangenehm werden und wird es gelegentlich.

Jens R. fühlte sich offenbar von seinen Eltern und aller Welt gedemütigt und verkannt und entwickelte einen ausufernden und vagabundierenden Hass gegen alles und jedes. Solche inneren Unglücksvorräte sind am explosivsten, wenn ihnen jede menschliche Berührung fehlt und sie ausschließlich in sich rotieren. Auf die Frage, was hätte passieren müssen, um seine Tat zu verhindern, hat ein überlebender US-amerikanischer Amokläufer gesagt: "Es hätte nur jemand mit mir reden müssen."

Was meine flüchtige Recherche zutage gefördert hat, ist lückenhaft und muss mit aller Vorsicht und stets im Konjunktiv formuliert werden. Ich stelle begrifflich gezügelte und von meinen Erfahrungen als Gefängnispsychologe genährte Spekulationen an.

Was psychologisch halbwegs stringent erscheint und auf der Ebene theoretischer Annahmen einen gewissen Grad von Wahrheit zu besitzen scheint, muss, um wirklich "wahr" zu werden, im Einzelfall auch "stimmen". Ich bin also nicht so vermessen zu behaupten: "So war es", sondern sage lediglich: "So oder so ähnlich könnte es gewesen sein."

Manche Menschen sterben in Einsamkeit lange vor dem Tod und entwickeln einen Hass auf alles, was ihnen lebendiger vorkommt - auf Formen von Geselligkeit und fröhlichen Beisammenseins, auf Menschen, die Freunde haben und sich mit ihnen in Cafés treffen. Schon das Lachen der anderen dringt schmerzhaft ans Ohr des Einsamen.

Was gibt es da zu lachen, wo er doch schon lang nichts mehr zu lachen hat? Sartre hat in seiner Flaubert-Biographie gezeigt, dass die Quelle des Neids das Gefühl der Nicht-Valorisierung, des Nicht-Geliebtseins ist. Der Schlechtgeliebte beneidet alle Welt; er kann es nicht ertragen, dass es glückliche Menschen gibt. Er neidet ihnen weniger ihren Besitz – der Münsteraner Amokfahrer hatte ausreichend Besitztümer –, sondern ihr Sein, das das Sein der Valorisierten ist.

Jedenfalls sieht es durch die getrübte Brille des Nicht-Valorisierten so aus. Aus Gründen, die sich ihm nicht erschließen, gelingt den anderen alles, sie bewegen sich wie selbstverständlich unter Menschen, alles gelingt ihnen und fliegt ihnen einfach so zu. Das Schlaraffenland der Valorisierten bleibt dem Menschen des Ressentiments auf immer verschlossen. Er kann sich anstrengen, soviel er will, er wird nie zu denen gehören, die glücklich sind. Und dafür beneidet und hasst er sie.

Der Amokläufer ist in der Regel vor der Tat einen sozialen Tod gestorben und verfügt über keine tragfähigen sozialen Bindungen mehr. Diese würden ihn an der Tatbegehung hindern. Er hat seine Gesellschaftlichkeit eingebüßt und kann sie nur noch wiederherstellen, indem er in seinen Abgang aus der Welt möglichst viele andere mit hineinreißt.

Der Schriftsteller Henning Boetius hat in seinem Roman "Phönix aus Asche" eine Erkenntnis über den Amoklauf versteckt, die uns vielleicht auch zu einem besseren Verständnis des Münsteraner Falls verhilft: "Es ist falsch, wenn der gesunde Menschenverstand behauptet, ein Amokläufer töte sich aus Schuldgefühlen. Seine Morde sind nicht die Ursache für seinen Selbstmord.

Es ist genau umgekehrt: Sein Selbstmord oder besser seine Selbstmordabsicht ist die Ursache für seine Morde." Amokläufer dieses Typus‘ bringen sich durch die Tötung anderer in eine Lage, die ihnen schließlich nichts anderes mehr übrig lässt, als endlich Hand an sich zu legen. Erst jetzt – hinter sich verbrannte Erde und Leichenberge, vor sich und um sich herum die Einsatzkommandos der Polizei, in sich wachsende Panik – schaffen sie es, sich die Pistole in den Mund zu stecken und abzudrücken.

Facetten der Einsamkeit

Ich setze mich in die Küche und lese Zeitung oder fülle das Futterhäuschen für die Eichhörnchen wieder auf. Ich bin Rentner. Ich warte auf den Tod oder auf die Rückkehr meiner Frau – wer immer zuerst kommt

Richard Ford

Zeitungsmeldungen lassen uns gelegentlich aufschrecken. Eine alte Frau lag monatelang tot in ihrer Wohnung. Erst als es im Treppenhaus unangenehm roch, wurde man auf sie aufmerksam. Ein Obdachloser ist auf einer Parkbank erfroren.

Ein alter Mann stirbt im Foyer einer Essener Bank zwischen Geldautomaten, nachdem mehrere sogenannte Mitmenschen über den Sterbenden hinweggestiegen waren. So geschehen im Oktober 2016.

Im Februar 2008 wurde gemeldet, dass sich ein 58 Jahre alter Mann auf einem Hochsitz zu Tode gehungert hat. Es habe sich um einen früheren Außendienstler gehandelt, der schon länger erwerbslos gewesen sei. In meinem Nachbarhaus trat jahrelang gegen Abend ein alter Mann auf den Balkon und zerschnitt fein säuberlich eine Tomate.

Ein anderer sammelt in einer endlosen Sisyphusarbeit in der Fußgängerzone herumliegende Papierschnipsel und Abfälle auf und trägt sie zu einem Abfallbehälter. Durch kleine bizarre Rituale und Inszenierungen wird der Versuch unternommen, nach privatem, von niemand geteiltem und deswegen als verrückt erscheinendem Schema ein Stück Kontrolle über die eigenen Daseinsbedingungen zurückzugewinnen und die Angst zu bannen, die aus der Einsamkeit aufsteigt.

Eine Frau erzählte mir einmal, dass sie sich gelegentlich so einsam fühle, dass sie sich im Zug schlafend stelle, damit der Schaffner sie an der Schulter berühre. Seit Jahren geht ein älterer Mann schimpfend und brüllend durch die Stadt.

Was seinen Zorn entfesselt und wer der Adressat seiner Beschimpfungen ist, bleibt mir verborgen. Der Mann kann den Abgrund, der ihn von der Welt und den anderen trennt, nur noch brüllend und schimpfend überbrücken.

Der konkrete Anlass ist längst verblasst, der Adressat abhandengekommen. Schimpfen ist zu seinem Weltverhältnis geworden. Wie weit bin ich von ihm noch entfernt? Oder, anders gefragt: Droht mir das auch?

Schon jetzt habe ich eine spezifische Variante des Tourette-Syndroms hervorgebracht und denke oder sage angesichts jedes zweiten Passanten, der sich über sein Smartphone beugt: "Was für ein Vollpfosten, was für ein Idiot!" Noch sage ich es, wenn ich es denn nicht bloß denke, so leise, dass es niemand hören kann.

Zum Vollbild psychiatrischer Erkrankungen gehört es, dass das Krankheitsgeschehen sich der Kontrolle durch den Kranken entzieht. Noch habe ich es leidlich unter Kontrolle, aber wer weiß, wie lang das so bleibt.

Digitale Verlassenheit

Dass das Glück nur im Konjunktiv vorstellbar ist, potenziert die Einsamkeit."

Edgar Selge

Neben diesen archaischen Formen der Einsamkeit existieren neue, die mit der Digitalisierung einhergehen. Vor vielleicht fünf Jahren sah ich in einem Strandcafé an der niederländischen Nordseeküste eine junge Frau sitzen, die ihr Baby stillte.

Die Mutter blickte, während das Kind an ihrer Brust lag und trank, auf die Anzeige ihres Handys, das sie in ihrer freien rechten Hand hielt. In bestimmten großstädtischen Arealen wird das wahrscheinlich längst ein alltäglicher Vorgang sein, mich traf dieser Anblick wie ein Schock.

Wenn man weiß, welche Bedeutung die allererste Kommunikation zwischen Mutter und Kind hat und dass diese vorwiegend über den Augenkontakt und den Blick beim Stillen vermittelt ist, kann einem angst und bange werden. Das Kind im Strandcafé erblickt beim Trinken nicht mehr den "Glanz im Mutterauge" (Heinz Kohut), der es valorisiert und in die Welt lockt, sondern unruhig flackernde Augen, deren Blick von etwas anderem angezogen wird.

Der nach Spiegelung suchende Blick des Kindes geht ins Leere. Es befindet sich auf dem Arm der Mutter, ist aber dennoch bereits in der archaischen Zeit des Stillens einsam.

Dazu passt eine Beobachtung, die Salman Ansari unlängst in der FAZ beschrieben hat: "Neulich in der S-Bahn fiel mir eine junge Mutter auf, die ihr Baby mit einer Milchflasche fütterte. Das Baby war unruhig und unterbrach immer wieder das Nuckeln. Daraufhin hielt die Mutter dem Säugling ein Smartphone vors Gesicht und spielte ihm ein Video vor. Das Baby saugte begierig die Milch ein, während sich seine Pupillen hin und her bewegten."

In der Stadt sehe ich ein junges Elternpaar. Er telefoniert, sie wischt auf ihrem Smartphone herum. Das vielleicht vierjährige Kind trottet zwischen ihnen verloren vor sich hin. Merken sie nicht, welche Missachtung sie ihrem Kind entgegenbringen? Und wie einsam es zwischen ihnen ist?

In der Süddeutschen Zeitung vom 3./4. März 2019 wird der Kommunikationswissenschaftler Joachim Höflich mit dem Satz zitiert: "Wir haben noch nie so viel kommuniziert wie heute und noch nie so wenig miteinander gesprochen." Man arbeitet fieberhaft an der Entwicklung von Kommunikationsmitteln für Menschen, die sich nichts mehr zu sagen haben. 63 Milliarden Whatsapp-Nachrichten pro Tag und mehr Einsamkeit als je zuvor. Manchmal möchte ich den Leuten, die ihre Smartphones vor sich hertragen, zurufen: "Eure digitalen Freundschaften werden euch nichts nützen, wenn’s ans Sterben geht! Das Gerät könnt ihr nicht mitnehmen!"

Bemerkt denn niemand die traurigen Augen vieler Kinder, die Stumpfheit ihrer Gesichter, den Umschlag von Enttäuschung in Bösartigkeit? Resultate von Erniedrigung, Vereinsamung, seelischer Grausamkeit, die ihre Erfahrungen prägen.

Im Juli 2015 wurde in Darmstadt-Kranichstein ein elfjähriges Mädchen von einem Zug überrollt. Das Kind hatte sich offenbar selbst auf die Gleise gelegt. Darauf weisen Aussagen von Zeugen hin. Das Kind soll ein Opfer von Mobbingattacken gewesen sein. "Das Mädchen wurde in der Schule gehänselt. Wir wissen, dass sie es sehr schwer hatte", sagte eine Polizeisprecherin.

Auf einem Spaziergang begegnet mir eine heutige Kleinfamilie. Vater und Mutter – beide so um die dreißig Jahre alt – stecken ihre Köpfe zusammen und schauen auf die Displays ihrer Smartphones. Das Kind – ein etwa vierjähriger Junge – geht verloren hinterher. Plötzlich erwacht das Kind aus seiner Lethargie und ruft: "Schau mal, Papa, was ich gefunden habe!" "Was hast du denn nun schon wieder gefunden?", reagiert der Vater genervt. Ohne den Fund des Sohnes wirklich in Augenschein zu nehmen, sagt er über die Schulter: "Ja, das ist toll." Die Eltern wenden sich erneut den Smartphones zu, das Kind bleibt einsam zurück.

Gerade geht unter meinem Balkon eine junge Mutter mit ihrem vielleicht fünfjährigen Sohn vorüber. Er trottet ein paar Meter hinter ihr her, hat die Kapuze seines Sweatshirts hochgezogen und starrt auf sein Smartphone. So sehen heutige Sonntagspaziergänge aus. Trostlos. Wer hat ihm das Gerät gegeben? Und warum? Ist das Gedankenlosigkeit, geschieht es, um Konflikte zu vermeiden? Sehen Eltern darin eine Art von Frühförderung und Einführung in die digitale Welt?

Manchmal denke ich, dass wir es mit einer zeitgenössischen Form der Kindsaussetzung zu tun haben. Man hält sich die Kinder vom Hals und stattet sie gleichzeitig mit einer elektronischen Fußfessel aus, die sie unter Kontrolle hält. Allerdings werden wir als Folge der Praktiken der digitalen Kindsaussetzung und einer allgemeinen erzieherischen Verwahrlosung in Zukunft immer öfter damit rechnen müssen, dass ein stiller, unauffälliger Junge eines Tages sein Smartphone gegen eine im Darknet erworbene Pistole vertauscht, einen schwarzen Kampfanzug anzieht und sich vor aller Öffentlichkeit rächt für seine Einsamkeit und Nichtbeachtung.

Einsamkeit und Fremdenhass

Einsamkeit kann auch eine verschwiegene Quelle fremdenfeindlicher Ressentiments sein. Ein ausländischer Gefangener hat einmal in einer Gruppensitzung gesagt: "Hier in Deutschland lebt jeder für sich allein in seiner Wohnung – wie eine Eule."

Der Einheimische sitzt einsam und verbittert in seiner Wohnschachtel und schaut vom Fenster aus auf den Hinterhof, wo die ausländischen Nachbarn gemeinsam essen, trinken, singen, tanzen und lachen. Alle Generationen treffen sich unter freiem Himmel.

Statt hinunterzugehen und Anschluss zu suchen, schimpft der Deutsche auf den Lärm und die "asoziale Lebensweise" der Ausländer. Es gibt nichts Einsameres als ein Liebeswunsch, auf den niemand antwortet und der ins Leere geht. Ohne Berührung droht ein Mensch seelisch und schließlich körperlich zu verdorren.

Der Neid auf die Migranten speist sich aus dem Umstand, dass sie sich solidarische Lebens- und Arbeitsformen bewahrt haben, die sie in ihren Gärten und Innenhöfen aufleben lassen, während bei der alteingesessenen Bevölkerung die sogenannten Wohltaten der Moderne dazu geführt haben, dass die Werte des Zusammenhalts, der gegenseitigen Hilfe und des Mitgefühls erodiert sind.

Der Konsumgeist hat ein Übriges getan, die zwischenmenschlichen Beziehungen unterhöhlt und einen asozialen Individualismus hervorgebracht. In Krisenzeiten, in denen die Versorgungsnetze Risse bekommen und man eigentlich aufeinander angewiesen wäre, stehen viele Einheimische ziemlich ratlos und verlassen da.

Ihre Not wird als individuelles Versagen gedeutet; die alten Solidaritäten und Möglichkeiten gemeinschaftlichen Handelns sind dahin. Voller Neid blicken sie auf die migrantische Parallelwelt, und ihre Sehnsucht schlägt unvermittelt um in fremdenfeindliche Ressentiments und Hass. Auch in diesem Feld kann Einsamkeit zur Quelle von Gewalt werden. Verleugnete Sehnsucht macht böse.

Götz Eisenberg betreibt seit einigen Jahren unter dem Titel "Durchhalteprosa" einen eigenen Blog.