Dialektik der Einsamkeit: Anmerkungen zu Explosion in Ratinger Hochhaus

Etwas treibt in solchen Fällen auf eine Katastrophe zu. Erkennbar, wie Gewitterwolken. Symbolbild: Joachim Nusch

57-jähriger Mann schottet sich in Wohnung ab – zuletzt mit seiner toten Mutter. Als Polizei und Feuerwehr anrücken, verletzt er die Einsatzkräfte schwer. Was steckt hinter solchen Taten?

Die Bedingungen tun nichts, aber die Tat wäre ohne sie nicht möglich


Peter Brückner

Ein scheinbarer Routineeinsatz von Polizei und Feuerwehr endete am Donnerstag in einer Katastrophe. Ein 57-jähriger Mann hatte sich in seiner Hochhauswohnung in Ratingen bei Düsseldorf verbarrikadiert und übergoss die Einsatzkräfte, als sie schließlich gewaltsam in die Wohnung eindringen wollten, mit einer brennbaren Flüssigkeit.

Eine Polizistin und ein männlicher Kollege erlitten so schwere Verbrennungen, dass sie auch Tage nach den Ereignissen noch in Lebensgefahr schweben. Insgesamt fünf Einsatzkräfte liegen derzeit im künstlichen Koma, darüber hinaus wurden etliche andere mehr oder weniger schwer verletzt. Haftbefehl wurde wegen versuchten Mordes in neun Fällen erlassen.

In der Wohnung stießen die Einsatzkräfte später auf die Leiche der Mutter des Mannes, mit der er zusammen gelebt hatte. Sie sei bereits vor ungefähr zwei Wochen gestorben, hieß es. Der Mann hatte den Kontakt zur Außenwelt abgebrochen und sich vollkommen zurückgezogen.

Aufmerksam wurden Nachbarn, weil sein Briefkasten überquoll. Außerdem lag gegen den Mann ein sogenannter Erzwingungshaftbefehl wegen nicht gezahlter Schulden vor. Die Polizei hatte kurz vor der Tat vergeblich versucht, den Haftbefehl zu vollstrecken. Der Mann musste also damit rechnen, dass die Beamten wiederkämen, und hatte entsprechende Vorkehrungen getroffen.

Der Mann soll der Prepper-Szene nahe gestanden haben – Leuten also, die sich auf zukünftige Katastrophen vorbereiten. Auch vom Milieu der "Querdenker" und Corona-Leugner ist die Rede.

Aus der Welt gefallene Männer

Ich kenne ähnliche Verläufe aus meiner Arbeit im Gefängnis. Immer wieder sind mir dort ältere Männer begegnet, die sich in eine Position abseitiger Starrheit begeben hatten, die fast immer wahnhafte Züge trug. Irgendwelche finsteren Mächte hatten sich gegen sie verschworen und trachteten ihnen nach dem Leben. Das berechtigte sie in ihren Augen zu massiver Gegenwehr.

Meist legten sie in ihrer Wohnung ein größeres Waffendepot an. Stets waren sie in ihrer Wahrnehmung die Angegriffenen, die schließlich in Notwehr zurückschlugen. Nach dem regulären oder durch Kündigung herbeigeführten Ende ihrer Berufstätigkeit hatten sie ihre oft ohnehin schon prekäre Gesellschaftlichkeit vollends eingebüßt und drohten, wie man früher sagte, aus der Welt zu fallen.

Wenn ihr Sturz nicht von irgendwem oder irgendetwas aufgefangen wurde, geschah das auch. Um sich unangenehme Wahrheiten und unerträgliche Erkenntnisse zu ersparen, hatten sie sich in einen Kokon aus Illusionsbildungen und Verleugnungen eingesponnen und sich gegen eine zunehmend unverständliche Welt abgeschottet. Sie bauten ihre Wohnungen zu Festungen aus und verbarrikadierten sich gegen die feindliche Welt da draußen.

Das eigentliche Thema dahinter ist Einsamkeit, die bei diesen Männern oftmals anomische Züge annahm. Da war irgendwann niemand mehr und keiner und nichts. Sie brüteten über ihren akkumulierten Unglücksvorräten, paranoide Gedanken rotierten in ihren Köpfen. Solche inneren Vorräte an Unglückserfahrunen sind am explosivsten, wenn ihnen menschliche Berührungsfläche und Korrektur durch andere fehlt.

Es droht eine radikale Entmischung libidinöser und aggressiver Regungen. Eine Barriere der Verachtung trennt das Subjekt von der immer weiter wegrückenden Welt, auf die mehr und mehr ein unerträglicher Hass projiziert wird. Immer wieder macht ein solcher Mensch in der Folge Erfahrungen, die seine Weltsicht stützen.

Etwas treibt erkennbar auf eine Katastrophe zu

Er stößt – wie erwartet und heraufbeschworen – auf Ablehnung. Eine verhängnisvolle Spirale, aus der oft kein Ausstieg gelingt. Etwas treibt erkennbar auf eine Katastrophe zu. Wenn die dann eintritt, will meist niemand etwas gewusst und gesehen haben. In diesem Land, in dem immer mehr Menschen einer rapiden Entgesellschaftung und Vereinsamung unterliegen, sind solche Prozesse millionenfach im Gang. Glücklicherweise enden sie nicht immer in einer tödlichen Katastrophe.

Oft verteilt sich das Unglück in kleiner Münze über Jahre. Irgendwann stößt man nach Wochen auf die Leiche eines vereinsamten Menschen, dessen Tod niemand bemerkt hat. Erst wenn es wärmer wird und zu riechen anfängt, alarmieren die Nachbarn die Polizei.

Erste Meldungen im Fall Ratingen weckten derlei Erinnerungen: In dem Hochhaus stieß man nach der Explosion auf eine zweite tote Person – einen älteren Mann, der im selben Haus gelebt hatte. Nach Informationen des Spiegel war er pflegebedürftig gewesen und hatte durch den mehrstündigen Einsatz nicht mehr versorgt werden können.

Vielleicht empfiehlt es sich aber, in allen Hochhäusern mal nachzuschauen, ob alle Mieter noch am Leben sind. Oder besser noch: Vorher bereits durch lebendige Nachbarschaftsverhältnisse dafür sorgen, dass niemand gegen seinen Willen vereinsamt und aus der Welt fällt.

Von Kodokushis und Hikikomoris

In Japan, wo diese Prozesse offenbar weiter fortgeschritten sind, existiert bereits ein Begriff für das Phänomen der lange nicht bemerkten Todesfälle: Kodokushi. Die Kodokushi weisen eine gewisse Nähe zu den Hikikomori auf. So werden seit einiger Zeit Japaner und Japanerinnen genannt, die sich von der Außenwelt abschotten und in ihre Wohnungen zurückziehen. Insgesamt wird die Zahl derer, die sich aus der Gesellschaft zurückziehen und sich zu Hause einschließen, auf mehr als eine Million geschätzt.

Andere Experten sprechen von zwei Millionen oder gar mehr Hikikomori. Kodokushi ist, wenn man so will, Hikikomori mit tödlichen Ausgang. Die japanisch-österreichische Schriftstellerin Milena Michiko Flašar hat einen eindrucksvollen Roman über dieses Phänomen geschrieben.

Aus der Perspektive einer jungen Frau, die in einer Putzkolonne arbeitet, die nach solchen Fällen zum Einsatz kommt, beschreibt sie die Dialektik der Einsamkeit und die Kälte gewaltförmiger Alltagsverhältnisse, die im spätkapitalistischen Gesellschaften endemisch zu werden drohen.

Wohin fällt einer oder eine, wenn er oder sie von der Teilhabe am gesellschaftlichen Wesen ausgeschlossen wird? Der Roman heißt "Oben Erde, unten Himmel" und ist im Berliner Wagenbach-Verlag erschienen. Kodokushi gehört zu den Phänomenen, die erst in einer solidarischen, egalitären Gesellschaft mit Freundlichkeit als vorherrschendem Kommunikationsstil aufgehoben wären, einer Gesellschaft, deren Zusammenhang nicht durch Warenverhältnisse und Geld gebildet würde – und in der der Mensch dem Mitmenschen kein Wolf mehr wäre.

Götz Eisenberg ist ein deutscher Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete als Gefängnispsychologe und ist Autor zahlreicher Bücher. Eisenbergs Durchhalteprosa erscheint seit Anfang 2023 unter neuer Adresse: durchhalteprosa.de