Endgültig zurück im Kalten Krieg

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Die Stationierung von US-Langstreckenwaffen hat Deutschland überrascht. Widerstand gibt es nicht. Warum die Entscheidung vor allem den USA nützt.

Mit wenigen Zeilen einer "gemeinsamen Erklärung der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland zur Stationierung weitreichender Waffensysteme in Deutschland" wird der nach der Aufkündigung seitens der USA im Jahre 2019 der tatsächliche Abschied vom Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrag (INF) aus dem Jahre 1987 besiegelt. Dieser Vertrag hatte Ost und West von atomarer Aufrüstung abgehalten.

Die Erklärung lautet:

Die Vereinigten Staaten von Amerika werden, beginnend 2026, als Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter Stationierung, zeitweilig weitreichende Waffensysteme ihrer "Multi-Domain Task Force" in Deutschland stationieren. Diese konventionellen Einheiten werden bei voller Entwicklung SM-6, Tomahawks und derzeit in Entwicklung befindliche hypersonischen Waffen umfassen. Diese werden über deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen.

Die Beübung dieser fortgeschrittenen Fähigkeiten verdeutlicht die Verpflichtung der Vereinigten Staaten von Amerika zur NATO sowie ihren Beitrag zur integrierten europäischen Abschreckung.

Olaf Scholz erklärte zwar, dass diese Entscheidung lange vorbereitet worden sei, eine politische oder gar öffentliche Debatte gab es über diese – laut Kanzler – "sehr gute Entscheidung" nicht.

Aus einer Ausarbeitung des der Wissenschaftlichen Dienste des US-Kongresses vom 16. April 2024 – hier am 10. Juli aktualisiert und erweitert – geht hervor, dass die zitierte US-deutsche Vereinbarung und die dort genannte "Multi-Domain Task Force" (MDTF) der US-Armee das "organisatorische Herzstück" ("organizational centerpiece") für die "nationale Sicherheit der USA" sein soll.

Am 13. April 2021 hatte die US-Armee bekannt gegeben, dass sie ihre zweite MTDF in Deutschland stationieren wird, und zwar in der Clay-Kaserne in Wiesbaden, zunächst als Hauptquartier.

Diese Entscheidung wurde dann im Dezember 2023 modifiziert und Anfang 2024 sogar schon veröffentlicht.

Daraus ergibt sich, dass die "Stationierung, zeitweilig weitreichender Waffensysteme ihrer US-Multi-Domain Task Force" in erster Linie der nationalen Sicherheit der USA und nicht etwa der Sicherheit Deutschlands oder Europas vor der russischen Bedrohung dienen soll.

Entscheidung zur neuen US-Einheit in Deutschland schon 2021

Weiter zeigt dieses Dokument, dass die Entscheidung zur Stationierung der MDTF schon 2021 einseitig vonseiten der USA – also lange vor dem Ukraine-Krieg – getroffen und sogar vor "gemeinsamen Erklärung der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland zur Stationierung weitreichender Waffensysteme in Deutschland" der veröffentlicht wurde.

Aufbau der MDTF – immer auch mit Hyperschallwaffen. (Bild via CRS)

Das belegt, dass dem Bundeskanzler eine von den USA im Grunde längst beschlossene Entscheidung vorgelegt wurde und der deutschen Seite eine "gemeinsame Erklärung" abgenötigt wurde. Die Ausarbeitung der wissenschaftlichen Dienste des US-Kongresses jedenfalls zeigt, dass die Bewaffnung auch mit den noch zu entwickeln Hyperschallwaffen bei den MDTF grundsätzlich vorgesehen ist.

Von einer "Gemeinsamkeit", bei der die deutsche Seite eine Mitsprachemöglichkeit gehabt hätte, kann keine Rede sein. Diese Erklärung ist ein Beleg für die Abhängigkeit, um nicht zu sagen Unterwürfigkeit der deutschen Regierung gegenüber den USA. Das erklärt wohl auch die Einsilbigkeit der Stellungnahme von Olaf Scholz.

Im Gegensatz zu Helmut Schmidt, der dem damaligen Präsidenten Jimmy Carter wenigstens einen Doppelbeschluss, also ein Verhandlungsangebot an die Sowjetunion – nämlich SS-20 Raketen gegen Pershing II – abrang, hat sich Scholz über Nacht den USA widerspruchslos gefügt. Deutschland dient als Schlachtfeld der Vorwärtsverteidigung der USA.

Kritik von den Grünen

Zu Recht beklagt die sicherheitspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Sara Nanni, eine fehlende Erklärung zu dieser Entscheidung und es gebe keine Antwort darauf, auf welche Bedrohungslage der NATO mit dieser geplanten Stationierung reagiert werden soll. Scholz bleibt einmal mehr eine argumentative Begründung für seine Entscheidungen schuldig.

Scholz wollte wohl eine neue Friedensbewegung wie vor und nach dem Nato-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979 verhindern und im Windschatten des Krieges in der Ukraine die Bevölkerung vor vollendete Tatsachen stellen.

Damals hat US-Präsident Ronald Reagan mit Unterstützung des deutschen Kanzlers Helmut Schmidt 198 Mittelstreckenraketen vom Typ "Pershing II" und 464 "Gryphon"-Marschflugkörper in Westeuropa stationieren lassen. Gut 60 einer speziellen Version BGM-109-G Gryphon GLCM mit einer Reichweite von etwa 1.700 Kilometern wurden damals in Rheinland-Pfalz stationiert.

Im Unterschied zu heute wurde damals die Stationierung von atomwaffenfähigen ballistischer Langstreckenwaffen wenigstens mit einem Verhandlungsangebot vorwiegend vonseiten Helmut Schmidts verbunden, dass die damalige Sowjetunion auf die Stationierung von SS-20-Mittelstreckenraketen verzichten oder diese abziehen solle.

Etwa knapp 3.000 dieser Systeme wurden dann 1987 durch den INF-Abrüstungsvertrag abgezogen. Zum ersten Mal werde eine Waffenkategorie abgeschafft, feierte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl diesen Abzug. Das waren noch Zeiten!

Jetzt erklären die USA und Deutschland den Kalten Krieg ohne Forderungen nach einer Abrüstung auch vonseiten Russlands. Mit dem eskalierenden Effekt, dass die geplanten Raketen nicht nur gleichfalls Atombomben tragen können, sondern erheblich schneller, treffgenauer, schwieriger abwehrbar und teilweise deutlich weitreichender in Russland einschlagen können. Die "Pershing II" war eine Rakete mit ballistischer Flugkurve. Sie war weitaus weniger zielgenau und selbst mit damaligen Mitteln leichter abzufangen.

Die Rolle der "Tomahawk"-Marschflugkörper

Der zu stationierende Marschflugkörper "Tomahawk", denn die USA schon in zahlreichen Kriegen eingesetzt haben, ähnelt eher einem unbemannten Flugzeug, hat ein Strahltriebwerk und kann in geringer Höhe bis zum Ural fliegen, er kann nuklear bewaffnet werden, hat Navigationsfähigkeiten und eine hohe Zielgenauigkeit und kann Sprengköpfe bis zu 150 Kilotonnen TNT-Äquivalent transportieren, das entspricht dem Zehnfachen der Hiroshima-Bombe. Durch seine Tiefflugeigenschaft ist diese Waffe kaum abzuwehren.

Damit aber nicht genug: Geplant ist auch die Stationierung einer mit einem ersten Testflug im Juni dieses Jahres noch im Entwicklungsstadium befindliche, mit Reichweiten von bis zu mehreren Tausend Kilometern Boden-Luft-Rakete vom Typ SM-6. Es ist eine von den Rüstungskonzernen Lockheed Martin und Northrop Grumman entwickelte Hyperschallwaffe mit mehr als fünffacher Schallgeschwindigkeit. Sie ist extrem schwer zu lokalisieren und lässt kaum Reaktionszeit für eine Abwehr.

Die Zeitspanne für einen Atomkrieg ist also damit auf ein Minimum verkürzt. Diese Erstschlagfähigkeit – wie sie selbst von den USA eingestuft wird – hat weniger mit Abschreckung zu tun, als dass damit die Gefahr heraufbeschworen wird, dass, ein bedrohter Atomstaat wie Russland geradezu zu einem Erstschlag angestachelt wird.

Wie viele dieser Waffen stationiert werden sollen, darüber gibt es bisher keine Angaben. Eine einzige Rakete dieser Art soll angeblich 41 Millionen Dollar kosten. Man würde doch gerne wissen, welchen Anteil der Stationierungskosten die Bundesrepublik tragen wird. Dem Verteidigungsminister fällt dazu auch nur ein, dass Deutschland selbst in derartige Waffen investieren müsse.

Im Gegensatz zur Stationierung von Raketen nach dem NATO-Doppelbeschluss in mehreren Ländern Europas ist die Bundesrepublik nach der Entscheidung von Washington das alleinige Land, in dem diese neuen Waffen platziert werden sollen.

Scholz begründet das damit, dass "Deutschland…das größte Land in Europa innerhalb des NATO-Bündnisses" sei und daraus eine besondere Verantwortung erwachse. Dass damit unser Land ins Zentrum von militärstrategischen Überlegungen Russlands rückt und laut Vizeaußenminister Sergej Rjabkow an einer "Militärischen Antwort" arbeite, scheint Scholz nicht besonders zu beeindrucken.

Eine Verbesserung der Sicherheitslage gegenüber Russland ist diese Entscheidung nach solchen Ankündigungen sicherlich nicht, zumal wenn zeitgleich auch noch das Einsatzzentrum zur Koordinierung von Waffenlieferungen und Ausbildung ukrainischer Soldaten in Wiesbaden entstehen soll. Die politische und militärische Aufrüstungsspirale dreht sich immer schneller. Das Risiko, dass eine der beiden Seiten den kühlen Kopf verliert, wird immer größer.

Beschönigend wird in der Erklärung von einer "Verpflichtung der Vereinigten Staaten von Amerika zur NATO sowie ihren Beitrag zur integrierten europäischen Abschreckung" geredet, dabei ist ausschließlich Deutschland von dieser Entscheidung betroffen. Hat die Bundesregierung ein Mitspracherecht für den Einsatz solcher Waffen? Gerät Deutschland in Sicherheitsfragen nicht eher in eine (weitere) Abhängigkeit von den USA? Muss man nicht sogar davon sprechen, dass die USA Deutschland als Faustpfand nehmen?

Dass es gegen diese Entscheidung von Washington keinen Aufschrei in den Medien und bisher auch nicht in der Öffentlichkeit gibt, zeigt wie weit sich die Kriegsstimmung in Deutschland gegenüber anfangs der 80-er Jahre schon durchgesetzt hat. Am 10. Oktober 1981 kamen im Bonner Hofgarten 350.000 zu einer Friedensdemonstration zusammen, im Juni 1982 war es eine halbe Million und im "Heißen Herbst" gingen etwa 1,3 Millionen Menschen gegen die Aufrüstung auf die Straße. Damals waren die Grünen und Intellektuelle an vorderster Front der Friedensbewegung.

Heute schweigt sich Baerbock aus und Habeck bezeichnet die Stationierung als notwendig. Und natürlich stimmen Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Vertreter der CDU in das Kriegsgeheul ein. Aus der SPD hört man bislang ausschließlich von Ralf Stegner zaghafte Kritik. Auch Dietmar Bartsch von der Linken sieht in der Raketenstationierung nur eine Verlängerung des Krieges. Das BSW wird mit seiner Ablehnung bald die Zustimmungswerte der CDU erreichen.

Wo bleiben eigentlich die Kirchen, die vor über 40 Jahren eine treibende Kraft für den Frieden waren?

Eine frühere Version dieses Textes erschien im Blog der Republik