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Endlich: Trauer wird als psychische Störung anerkannt

Bild: Tumisu / Pixabay

Zwölf Monate nach dem Verlust kann jetzt laut US-Psychiatern die Diagnose gestellt werden. Spezialisierte Psychotherapie und Medikamente sind in Vorbereitung

Wer meine Artikel über psychische Störungen und psychische Gesundheit der letzten Jahre mitverfolgt hat, der erinnert sich vielleicht noch: Im Zusammenhang mit depressiven Störungen war lange umstritten, ob und, wenn ja, ab wann Trauer als Störung angesehen werden soll. (Wer sein Wissen auffrischen und gleichzeitig der Telepolis-Redaktion etwas Gutes tun will, kann für ein paar Euro das eBook "Was sind psychische Störungen? [1]" erwerben.)

Ein Streitpunkt war, ob die Diagnosekriterien nicht natürliche Trauer medizinalisieren, also in den psychiatrisch-medizinischen Bereich verschieben. Zur Medizinalisierung beziehungsweise Medikalisierung gibt es auch eine reiche soziologische Forschung, unter anderem in der Tradition Michel Foucaults – doch wer liest heute noch Soziologen?

Als 2013 das weltweit einflussreiche Diagnosehandbuch DSM der US-Psychiater in seiner fünften Auflage erschien (DSM-5), kochte die Diskussion wieder hoch: Zum erbitterten Kritiker mutierte insbesondere Allen Frances [2], der als Psychiater noch die Vorgängerversion DSM-IV von 1994 federführend herausgegeben hatte.

2013 hatte Frances gerade sein neues Buch "Saving Normal" veröffentlicht und durfte ich ihn erst auf einer Konferenz in Berlin und später als Gast in unserer Forschungsgruppe in Groningen erleben. Neben der Kritik an zahlreichen finanziellen Verstrickungen der Psychiater, die das neue DSM-5 entwickelt hatten, mit der Pharmaindustrie, war ihm vor allem der Umgang mit Trauer in Dorn im Auge.

(Nebenbei: Genau quantifiziert haben das zwei kritische US-Forscher mit dem Ergebnis, dass in fast allen DSM-Arbeitsgruppen die Mehrheit der Psychiaterinnen und Psychiater finanzielle Verbindungen zur Pharmaindustrie hatte [3]. Allerdings war das beim DSM-IV unter Frances' Leitung auch schon so.)

Wer sein Buch nicht lesen will, findet hier seinen Aufruf, "Trauer vor den Medikamentenherstellern zu retten [4]", und hier einen kurzen YouTube-Clip mit ihm [5]. Frances berichtet darin auch vom Tod seiner eigenen Frau und dass er selbst die Kriterien für einige DSM-Störungen erfüllen würde.

Im Ergebnis, wohl auch in Reaktion auf die öffentliche Kritik, diskutierten die Psychiater das Thema ausführlich im Abschnitt über Depressionen (Major Depressive Disorder, MDD) des DSM-5. Im Endeffekt läuft es darauf hinaus, dass Trauer genau dann eine psychische Störung beziehungsweise eine Depression ist, wenn ein Arzt oder Therapeut das Ausmaß der Trauer nicht mehr für soziokulturell angemessen hält.

Neues DSM, neue Lösung

Jetzt, fast zehn Jahre später, erschien das DSM-5 in einer aufgefrischten Version. So einen Zwischenschritt bezeichnet man als "Textrevision", daher DSM-5-TR. Dieses wurde nun Ende März von der American Psychiatric Association, also den führenden US-Psychiatern vorgestellt [6].

Die größte Änderung betrifft genau diesen Punkt: Wie geht das Diagnosehandbuch und damit auch diejenigen, die es verwenden, mit dem Thema Trauer um? Die Frage wurde in den Medien auch ausdrücklich auf Todesfälle in der Coronapandemie bezogen.

Im DSM-5-TR gibt es nun genau eine neue psychische Störung, nämlich: Prolonged Grief Disorder (PGD), also in etwa: "Verlängerte-Trauer-Störung".

Damit ist die Frage, wie sich Trauer zu Depressionen verhält, eindeutig beigelegt. Und zwar in dem Sinne, dass eine psychologisch-psychiatrische Diagnose von PGD möglich ist, sobald einige Bedingungen gegeben sind.

Erstens soll der Todesfall mindestens zwölf, bei Kindern und Jugendlichen mindestens sechs Monate her sein. Charakteristisch für die Störung sei ein intensives Verlangen nach der verstorbenen Person oder eine intensive gedankliche Beschäftigung mit ihr.

Diese "Symptome" sollen mindestens einen Monat lang und dann so gut wie an jedem Tag vorliegen. Wie es für alle psychischen Störungen gilt, muss dieser Zustand mit "klinisch signifikanten" Einschränkungen im Privat-, Arbeits- oder Sozialleben einhergehen, um eine Diagnose zu rechtfertigen [7].

Typisch für PGD seien zudem [8]: eine Identitätsstörung (als ob ein Teil von einem selbst gestorben sei); Unglauben an den Todesfall; Vermeidung an die Erinnerung, dass die vermisste Person gestorben ist; emotionale Schmerzen; Schwierigkeiten, sein Leben weiterzuleben; emotionale Abgestumpftheit; das Gefühl, das Leben sei sinnlos; und intensive Einsamkeit.

Wer die diagnostischen Kriterien für Depressionen [9] kennt, der dürfte hier schnell eine Überschneidung erkennen: depressive Verstimmung, Interessenverlust, Trägheit, Verlust von Energie, Entscheidungslosigkeit oder ein Gefühl von Wertlosigkeit.

Mit fünf solcher von insgesamt neun Symptomen auf der Liste käme die Diagnose – nach zwei Wochen – bereits in Frage. Dass der Verlust eines geliebten Menschen vielleicht auch mit Schlaflosigkeit oder Schläfrigkeit, Gewichtszu- oder Abnahme und wiederholten Gedanken an den (eigenen) Tod einhergeht, kann man sich leicht vorstellen. Damit wären die "Neun" komplett.

Beim Vorliegen einer depressiven Störung ist das aber die vorrangige Kategorie und soll PGD nicht diagnostiziert werden. Zudem führen die US-Psychiater aus [10]:

Dauer und Stärke der Verlustreaktion müssen außerdem eindeutig das übersteigen, was auf Basis der sozialen und kulturellen Standards sowie des religiösen Hintergrunds eines Individuums zu erwarten ist. Das heißt nicht, dass diejenigen automatisch die Störung haben, die für ein Jahr oder länger nach dem Verlust einer geliebten Perseon regelmäßig Trauer erleben. Personen mit intensiver und behindernder Trauer können aber nach einem Jahr für die Diagnose in Betracht gezogen werden.

American Psychiatric Association; dt. Übers. d. A.

Medizinalisierung

Damit wurde nun der offizielle Standpunkt der US-Psychiatrie zur Trauer geklärt – und wohl eher nicht im Sinne von Allen Frances: Ab einer bestimmten Zeit kann diese insbesondere dann psychologisch-psychiatrisch diagnostiziert (und behandelt) werden, wenn sie nach Meinung des Arztes oder Therapeuten sozial, kulturell oder religiös nicht mehr angemessen ist.

Dabei sollte man wissen, dass das DSM auch in vielen anderen Ländern rund um den Globus verwendet wird und für viele seiner diagnostischen Kategorien sogenannte "unspezifische" Alternativen enthält, die vergeben werden können, wenn die eigentlichen Kriterien nicht ganz erfüllt sind. Damit sind also auch die zeitlichen Grenzen nicht in Stein gemeißelt.

Kritiker von Medizinalisierung (oder Medikalisierung) bemängeln regelmäßig, dass bestimmte Bereiche menschlicher Erfahrung nicht in den medizinischen Bereich gehören. Dabei sollte man berücksichtigen, dass der ganze Bereich der Medizin – trotz Affinität der heute vorherrschenden Biomedizin zu den Naturwissenschaften – von menschlichen Normen durchtränkt ist.

Das gilt auch für die tastbarere, primär körperliche Medizin: Für bestimmte Blutwerte gelten Grenzwerte, also Normen. Auch darüber, ab wann eine bestimmte Auffälligkeit mit einem anderen diagnostischen oder bildgebenden Verfahren "klinisch relevant" ist, können Meinungen von Fachleuten auseinandergehen.

So weit, so gut. Die meisten von uns, mich eingeschlossen, dürften für den medizinischen Fortschritt dankbar sein. Skurril wird das Ganze aber schon etwas, wenn man es im Kontext des (jedenfalls zurzeit noch) vorherrschenden molekularbiologischen Paradigmas in der Psychiatrie sieht: Demnach sind psychische Störungen nämlich Gehirnstörungen [11].

Das heißt, wenn ein Arzt oder Therapeut demnächst PGD diagnostiziert, weil er das Ausmaß der Trauer seines Klienten nicht mehr für sozial, kulturell oder religiös angemessen hält, attestiert er impliziert auch ein Gehirnproblem des Betroffenen. Und wenn derselbe Klient in einem anderen Kontext ist, in dem vielleicht zwei oder sieben Jahre Trauer normal sind, dann hat er keine Hirnstörung?

Wir erinnern uns daran, dass man verhaltensauffälligen Kindern im 20. Jahrhundert viele Jahre lang schlicht einen "Minimal Gehirnschaden" (Minimal Brain Disorder, MBD), später dann eine "Minimale Gehirnstörung" diagnostizierte. Aufgrund anhaltender Kritik nannte man es in den 1980ern in ADHS um [12].

Dabei spielte Allen Frances in den 1990ern übrigens auch eine bedeutende Rolle. Zwanzig Jahre später würde er kritisieren, dass die Kriterien in der Praxis anders angewendet wurden, als er und die anderen Köpfe hinter dem DSM-IV sich das vorgestellt hätten.

Individualisierung

Die Beispiele PGD, MBD sowie unzählige andere veranschaulichen das Potenzial einer medizinischen Diagnose, Probleme im Individuum, insbesondere in einem biologischen Zusammenhang, zu dekontextualisieren und depolitisieren. Will sagen: Die Probleme verschwinden dann von der sozialen Bildfläche und werden auf einmal molekularbiologische beziehungsweise neurologische Probleme.

So können Psychologie und Psychiatrie politisch werden [13]. Und es ist ein Zufall, dass die Individualisierung und Biologisierung von Problemen (und damit auch von Verantwortlichkeit) dem neoliberalen Modell in die Hände spielt? Und dass in unserer neoliberalen Zeit ausgerechnet diejenige psychologische und psychiatrische Forschung mit Milliarden bedacht wird, die diesen Ansatz vertritt?

Ich übertreibe? Warum prangen dann auf dem einseitigen Faltblatt [14] der American Psychiatric Association zu PGD ganze drei Gehirnbildchen? Und warum ist dann davon die Rede, dass Antidepressiva bei PGD kaum helfen? (Zur Erinnerung: Tun sie bei Depressionen oft auch nicht [15].) Und warum gibt es nun Versuche, PGD stattdessen mit Naltrexon zu behandeln, einem Mittel zur Behandlung von Alkohol- oder Opioid-Abhängigkeit?

Es sei auch noch einmal daran erinnert, dass die Deutsche Stiftung Depressionshilfe und insbesondere ihr Sprecher Professor Ulrich Hegerl den Deutschen vorwirft, nicht biologisch genug über psychische Störungen zu denken [16]. "Psychische Störungen sind Erkrankungen im medizinischen Sinn", heißt es dann so schön.

Hilfe, wem Hilfe gebührt

PGD ist meiner Meinung nach das neueste Beispiel dafür, dass Psychiater das medizinische Modell endlich aufgeben sollen [17]. Doch wichtig: Damit wird weder die Realität psychischer Probleme noch deren leidvoller und einschränkender Charakter angezweifelt.

Im Gegenteil ist es ein Plädoyer dafür, die Probleme eines Menschen als genau das zu sehen: Das Problem eines bestimmten Individuums mit einem bestimmten Körper in einer bestimmten Lebenssituation und einem bestimmten sozialen Kontext, einschließlich seiner Historie.

Natürlich ist das aufwändiger als Therapie und Forschung nach bürokratischen Vorgaben – aber es wird der holistischen Ganzheit besser gerecht, die jeder von uns, jeder einzelne Mensch ist.

In diesem Sinne: Hilfe, wem Hilfe gebührt! Wenn Menschen die PGD-Diagnose, spezialisierte Psychotherapie oder medikamentöse Therapie hilft, dann ist das eine gute Sache. Dann rede ich aber von einer Hilfestellung im Sinne dieser Menschen – und nicht der behandelnden Expertinnen und Experten.

Dass dafür Checklisten eine große Hilfe sind, wage ich zu bezweifeln. Erfahrene Ärzte und Therapeuten verwenden sie darum aber oft nur zur Orientierung oder zur Erfüllung institutioneller Anforderungen, insbesondere der Krankenkassen. Das ist aber etwas Anderes, als eine Kategorie wie PGD für ein echtes Ding im Gehirn zu halten.

Wie schon so oft in der jüngeren Geschichte der Psychiatrie wird die Einführung einer neuen Diagnose von entsprechenden Medienberichten begleitet. So erschien erst kürzlich im Knowable Magazin der lange, mit medizinischen Fakten untermauerte Erfahrungsbericht einer Betroffenen [18].

Ihre PGD entstand nach dem Tod ihrer Mutter. Und sie verschwand auf mysteriöse Weise sieben Jahre später: mit der Geburt ihrer Tochter.

Das sind schon mysteriöse Gehirnstörungen, die durch die Ankunft eines eigenen Kindes spontan geheilt werden. Wie gut, dass Trauer endlich als psychische Störung anerkannt ist!

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder [19]" des Autors.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6667088

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/buch/telepolis_buch_3938861.html
[2] https://twitter.com/allenfrancesmd
[3] https://doi.org/10.1371/journal.pmed.1001190
[4] https://www.psychologytoday.com/us/blog/dsm5-in-distress/201301/last-plea-dsm-5-save-grief-the-drug-companies
[5] https://www.youtube.com/watch?v=-AMvrcBvYWk
[6] https://psychnews.psychiatryonline.org/doi/10.1176/appi.pn.2022.03.3.28
[7] https://www.heise.de/tp/features/Die-amtliche-Fassung-3935301.html
[8] https://www.psychiatry.org/newsroom/news-releases/apa-offers-tips-for-understanding-prolonged-grief-disorder
[9] https://www.heise.de/tp/features/Die-amtliche-Fassung-3935301.html
[10] https://psychnews.psychiatryonline.org/doi/10.1176/appi.pn.2022.03.3.28
[11] https://www.heise.de/tp/features/Was-heisst-es-dass-psychische-Stoerungen-Gehirnstoerungen-sind-4271593.html
[12] https://www.heise.de/tp/features/30-Jahre-Aufmerksamkeitsstoerung-ADHS-3790539.html
[13] https://www.heise.de/tp/features/Wenn-Psychologie-politisch-wird-Milliarden-zur-Erforschung-des-Gehirns-3340016.html
[14] https://www.psychiatry.org/File%20Library/Unassigned/PGD-Infographic.final.pdf
[15] https://www.heise.de/tp/features/Bei-rund-90-wirken-Antidepressiva-nicht-besser-als-Placebo-4005704.html
[16] https://www.heise.de/tp/features/Mehr-ueber-Ursachen-von-Depressionen-3918688.html
[17] https://www.heise.de/tp/features/Psychiatrie-Gebt-das-medizinische-Modell-endlich-auf-6062962.html
[18] https://knowablemagazine.org/article/mind/2022/pain-prolonged-grief-disorder
[19] http://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/