Endlich: Trauer wird als psychische Störung anerkannt

Bild: Tumisu / Pixabay

Zwölf Monate nach dem Verlust kann jetzt laut US-Psychiatern die Diagnose gestellt werden. Spezialisierte Psychotherapie und Medikamente sind in Vorbereitung

Wer meine Artikel über psychische Störungen und psychische Gesundheit der letzten Jahre mitverfolgt hat, der erinnert sich vielleicht noch: Im Zusammenhang mit depressiven Störungen war lange umstritten, ob und, wenn ja, ab wann Trauer als Störung angesehen werden soll. (Wer sein Wissen auffrischen und gleichzeitig der Telepolis-Redaktion etwas Gutes tun will, kann für ein paar Euro das eBook "Was sind psychische Störungen?" erwerben.)

Ein Streitpunkt war, ob die Diagnosekriterien nicht natürliche Trauer medizinalisieren, also in den psychiatrisch-medizinischen Bereich verschieben. Zur Medizinalisierung beziehungsweise Medikalisierung gibt es auch eine reiche soziologische Forschung, unter anderem in der Tradition Michel Foucaults – doch wer liest heute noch Soziologen?

Als 2013 das weltweit einflussreiche Diagnosehandbuch DSM der US-Psychiater in seiner fünften Auflage erschien (DSM-5), kochte die Diskussion wieder hoch: Zum erbitterten Kritiker mutierte insbesondere Allen Frances, der als Psychiater noch die Vorgängerversion DSM-IV von 1994 federführend herausgegeben hatte.

2013 hatte Frances gerade sein neues Buch "Saving Normal" veröffentlicht und durfte ich ihn erst auf einer Konferenz in Berlin und später als Gast in unserer Forschungsgruppe in Groningen erleben. Neben der Kritik an zahlreichen finanziellen Verstrickungen der Psychiater, die das neue DSM-5 entwickelt hatten, mit der Pharmaindustrie, war ihm vor allem der Umgang mit Trauer in Dorn im Auge.

(Nebenbei: Genau quantifiziert haben das zwei kritische US-Forscher mit dem Ergebnis, dass in fast allen DSM-Arbeitsgruppen die Mehrheit der Psychiaterinnen und Psychiater finanzielle Verbindungen zur Pharmaindustrie hatte. Allerdings war das beim DSM-IV unter Frances' Leitung auch schon so.)

Wer sein Buch nicht lesen will, findet hier seinen Aufruf, "Trauer vor den Medikamentenherstellern zu retten", und hier einen kurzen YouTube-Clip mit ihm. Frances berichtet darin auch vom Tod seiner eigenen Frau und dass er selbst die Kriterien für einige DSM-Störungen erfüllen würde.

Im Ergebnis, wohl auch in Reaktion auf die öffentliche Kritik, diskutierten die Psychiater das Thema ausführlich im Abschnitt über Depressionen (Major Depressive Disorder, MDD) des DSM-5. Im Endeffekt läuft es darauf hinaus, dass Trauer genau dann eine psychische Störung beziehungsweise eine Depression ist, wenn ein Arzt oder Therapeut das Ausmaß der Trauer nicht mehr für soziokulturell angemessen hält.

Neues DSM, neue Lösung

Jetzt, fast zehn Jahre später, erschien das DSM-5 in einer aufgefrischten Version. So einen Zwischenschritt bezeichnet man als "Textrevision", daher DSM-5-TR. Dieses wurde nun Ende März von der American Psychiatric Association, also den führenden US-Psychiatern vorgestellt.

Die größte Änderung betrifft genau diesen Punkt: Wie geht das Diagnosehandbuch und damit auch diejenigen, die es verwenden, mit dem Thema Trauer um? Die Frage wurde in den Medien auch ausdrücklich auf Todesfälle in der Coronapandemie bezogen.

Im DSM-5-TR gibt es nun genau eine neue psychische Störung, nämlich: Prolonged Grief Disorder (PGD), also in etwa: "Verlängerte-Trauer-Störung".

Damit ist die Frage, wie sich Trauer zu Depressionen verhält, eindeutig beigelegt. Und zwar in dem Sinne, dass eine psychologisch-psychiatrische Diagnose von PGD möglich ist, sobald einige Bedingungen gegeben sind.

Erstens soll der Todesfall mindestens zwölf, bei Kindern und Jugendlichen mindestens sechs Monate her sein. Charakteristisch für die Störung sei ein intensives Verlangen nach der verstorbenen Person oder eine intensive gedankliche Beschäftigung mit ihr.

Diese "Symptome" sollen mindestens einen Monat lang und dann so gut wie an jedem Tag vorliegen. Wie es für alle psychischen Störungen gilt, muss dieser Zustand mit "klinisch signifikanten" Einschränkungen im Privat-, Arbeits- oder Sozialleben einhergehen, um eine Diagnose zu rechtfertigen.

Typisch für PGD seien zudem: eine Identitätsstörung (als ob ein Teil von einem selbst gestorben sei); Unglauben an den Todesfall; Vermeidung an die Erinnerung, dass die vermisste Person gestorben ist; emotionale Schmerzen; Schwierigkeiten, sein Leben weiterzuleben; emotionale Abgestumpftheit; das Gefühl, das Leben sei sinnlos; und intensive Einsamkeit.

Wer die diagnostischen Kriterien für Depressionen kennt, der dürfte hier schnell eine Überschneidung erkennen: depressive Verstimmung, Interessenverlust, Trägheit, Verlust von Energie, Entscheidungslosigkeit oder ein Gefühl von Wertlosigkeit.

Mit fünf solcher von insgesamt neun Symptomen auf der Liste käme die Diagnose – nach zwei Wochen – bereits in Frage. Dass der Verlust eines geliebten Menschen vielleicht auch mit Schlaflosigkeit oder Schläfrigkeit, Gewichtszu- oder Abnahme und wiederholten Gedanken an den (eigenen) Tod einhergeht, kann man sich leicht vorstellen. Damit wären die "Neun" komplett.

Beim Vorliegen einer depressiven Störung ist das aber die vorrangige Kategorie und soll PGD nicht diagnostiziert werden. Zudem führen die US-Psychiater aus:

Dauer und Stärke der Verlustreaktion müssen außerdem eindeutig das übersteigen, was auf Basis der sozialen und kulturellen Standards sowie des religiösen Hintergrunds eines Individuums zu erwarten ist. Das heißt nicht, dass diejenigen automatisch die Störung haben, die für ein Jahr oder länger nach dem Verlust einer geliebten Perseon regelmäßig Trauer erleben. Personen mit intensiver und behindernder Trauer können aber nach einem Jahr für die Diagnose in Betracht gezogen werden.

American Psychiatric Association; dt. Übers. d. A.