Energie- und Umweltkrise: Systemische Parallelen zu den 1970ern

Seite 2: "Wissenschaftliche Inszenierungen" und die Ölstaaten als Umweltretter

Ein Jahr nach Stockholm bricht die Krise aus. Am 6. Oktober 1973, Datum des höchsten jüdischen Feiertags Jom Kippur, greifen ägyptische und syrische Soldaten die Gebiete auf der Halbinsel Sinai und den Golan-Höhen an, die seit dem Sechstagekrieg 1967 von Israel besetzt sind. Der Krieg dauert nur 19 Tage, seine Folgen wesentlich länger.

Die USA unterstützen Israel, während die Sowjetunion und die Organisation der erdölexportierenden Länder (Opec, darunter Saudi-Arabien, Iran, Irak, Venezuela und Libyen) sich auf die Seite von Ägypten und Syrien schlagen.

Das Ölembargo

Am 17. Oktober verhängt die Opec gegen die USA, die Niederlande und Südafrika ein vollständiges Embargo, das strikt neutrale Deutschland kommt mit einem blauen Auge, 20-prozentigen Liefer-Einschränkungen, davon.

Die Ölpreise schießen bis 1974 von drei Dollar pro Barrel auf das Vierfache nach oben. Mit dem Embargo setzt die Opec auch ein selbstbewusstes Zeichen der Unabhängigkeit. Warum?

Nun, bis 1973 kontrolliert das Seven-Sisters-Ölkartell (drei der Unternehmen sind Abkömmlinge der zerschlagenen Standard Oil) 85 Prozent der weltweiten Ölreserven.

Es handelt sich um ein Abnehmer-Oligopol (sog. Oligopson). Wie der US-Ökonom David Spiro herausgestellt hat, trifft das Kartell dabei auch Absprachen zur künstlichen Verknappung, um Preis und damit Profite nach oben zu treiben.

Zwischen den Nationen gilt das quid pro quo des sogenannten intersektoralen Handels – nach dem Prinzip: Ressourcenzugriff gegen Industriegüter und Technologietransfer. Was eine Abkehr von der Kooperation mit den Öl-Multis bedeuten konnte, wurde schon zuvor durch den CIA-gesteuerten Putsch gegen Irans Premier Mohammend Mossadegh deutlich.

Und doch veranlassen der Sturz des Dollars und die sinkenden Profite die Opec-Staaten, den gewagten Schritt zu gehen. Allerdings nennen sie noch einen anderen Grund: den Umweltschutz.

Die Opec macht sich das Argument des Club of Rome zu eigen, wonach der Westen auch aus ökologischen Gründen – der Ressourcenknappheit – in seine Schranken gewiesen werden muss.

"Szenarien drohender Ressourcenkonflikte instrumentalisiert"

2013 feiert das Politikmagazin Foreign Affairs die Opec in der Rückschau deshalb als Retter des Planeten. Die Geschichte hat nur einen Haken: Von knappen Ressourcen kann eigentlich keine Rede sein. Die Prognosen und Modellrechnungen werden sich nicht zum ersten Mal als falsch erweisen.

Vielmehr wurden "Szenarien drohender Ressourcenkonflikte von Skeptikern und Optimisten wissenschaftlich inszeniert", wie es im Essay von Ingo Köhler heißt, "und im Machtkampf um Deutungshoheiten politisch instrumentalisiert".

Es handelte sich also um eine ökonomisch motivierte künstliche Verknappung. In der ersten Ölpreiskrise – und ebenso in allen weiteren – geht es letztlich um eine Neuordnung der politischen Kraftverhältnisse.

Wie haben sich also die Kräfteverhältnisse in den 1970ern neu geordnet? Dazu kehren wir noch einmal zum Nixon-Schock zurück.

Waffen gegen Petrodollars

Mit der Auflösung des Goldstandards steigen die laut dem US-Ökonomen Michael Hudson zunächst auf das Währungssystem um, das Hudson den Schuldverschreibungs-Standard (oder auch Staatsanleihen-Standard, "treasury bill standard") genannt hat.

Dank des Leitwährungs-Status des Dollar sind die USA laut Hudson als einzige Nation fähig, Staatsanleihen als Devisen-Äquivalente auszugeben und so ihre Schulden gewissermaßen der Geldbasis einzuschreiben (siehe dazu auch den Telepolis-Artikel: "Finanzielle Kriegsführung und Dollarhegemonie").

Damit alleine ist der Dollar aber noch nicht gerettet. Denn es muss (neben Zinsen) auch einen Anreiz geben, das Kapital in den USA anzulegen. Hier kommt der berühmte Petrodollar ins Spiel.

Seit dem Zweiten Weltkrieg werden alle Erdölverkäufe in Dollar abgewickelt. Das wachsende Selbstbewusstsein der Ölstaaten und die Aussicht auf eine nie dagewesene Devisenansammlung sorgt im Westen und speziell in den USA Anfang der 1970er für Panik – lange vor dem Krieg in Israel.

Im Mai 1973, fünf Monate vor Ausbruch des Krieges, trifft sich die geheimniskrämerische Bilderberg-Gesellschaft im schwedischen Saltsjöbaden, um das Szenario eines massiven Preisanstiegs sowie die potenzielle Gefahr für das weltweite Währungssystem zu besprechen. Nein, keine Verschwörungstheorie: Die Dokumente sind online verfügbar.

(Nur) glauben oder nicht kann man hingegen – mangels Überprüfbarkeit der Quellen – der 1992 aufgestellten Behauptung des US-amerikanischen Autors Frederick William Engdahl, dass der damals frisch ernannte US-Außenminister, regelmäßige Bilderberg-Teilnehmer und langjährige Rockefeller-Mitarbeiter, Henry Kissinger, einerseits eine wesentliche Rolle bei der Eskalation zum Krieg gespielt hat. Und Kissinger andererseits, als Nixon im Juni 1972 vom Watergate-Skandal in Beschlag genommen wurde, die Verantwortung auch dafür übernahm, Vorschläge zur Eindämmung des Ölpreises abzulehnen.

Krisensitzung im Oval Office: Präsident Nixon mit Sicherheitsberater und Außenminister Kissinger 1973. Bild: CIA

Tatsache wiederum ist, dass US-Finanzminister William Simon 1974 zusammen mit seinem Vize Gerry Parsky in geheimer Mission nach Saudi-Arabien geflogen ist, um einen Deal mit dem führenden Ölstaat Saudi-Arabien auszuhandeln.

Das wurde bereits 1999 von Ökonom Spiro in The Hidden Hand of American Hegemony – Petrodollar Recycling and International Markets behauptet – und 2016 durch eine Investigativrecherche des Nachrichtenportals Bloomberg bestätigt1:

Das Ziel: Erdöl als Wirtschaftswaffe zu neutralisieren und einen Weg zu finden, ein feindliches Königreich davon zu überzeugen, Amerikas wachsendes Defizit mit seinem neu erworbenen Petrodollar-Reichtum zu finanzieren. […]

Die Rahmenbedingungen waren denkbar einfach: Die USA würden Öl von Saudi-Arabien kaufen und dem Königreich militärische Hilfe und Ausrüstung liefern. Im Gegenzug würden die Saudis Milliarden ihrer Petrodollar-Einnahmen wieder in Staatsanleihen investieren und Amerikas Ausgaben finanzieren.

Andrea Wong

Durch das Petrodollar-Recycling profitieren die USA also vom Preisanstieg. "Die Reaktion der USA auf den Anstieg der Ölpreise Mitte der 1970er Jahre war der Versuch, ihre Vormachtstellung in der Weltwirtschaft wieder zu behaupten", schreibt David Spiro 1999.

Die deutsche Wikipedia indes führt die (zugegebenermaßen: stark verkürzte) Behauptung, dass die Ölpreiskrise Währung und Wirtschaft der USA gestützt habe, unter der Rubrik "Verschwörungstheorie". Eine Begründung dafür liefert sie nicht.

Anfang 2001 gibt der damalige Ölminister Saudi Arabiens, Ahmed Yamani, dem britischen Guardian ein Interview. Darin behauptet er, dass Henry Kissinger persönlich die Preiserhöhung gefordert habe, um "die verschuldeten Öl-Konzerne" vor der Insolvenz zu retten.

Er sehe sich durch "ein Dokument" bestätigt, wonach die US-Vertreter 1973 in Schweden einen Preisanstieg auf 400 Prozent nicht nur antizipierten, sondern diesen auch forcierten. Diese Behauptung hatte auch Engdahl schon aufgestellt. Auch sie ist bei Wikipedia als Verschwörungstheorie gelistet.

Aber genug der "Theorien". In Teil 2 dieser Serie wenden wir uns der eindeutig nachweisbaren geopolitischen Bedeutung der berüchtigten "Ölwaffe" und ihrer Bedeutung für die neue Klimapolitik der Konzerne zu.