Entsetzen über Höcke-Vorstoß gegen Inklusion

Während Gewerkschaften eine solide Finanzierung des Schulsystems fordern, will Björn Höcke (AfD) Minderheitenrechte schleifen. Foto: PantheraLeo1359531 / CC-BY-SA-4.0

Niemand sagt, dass in einem unterfinanzierten Schulsystem Inklusion gut funktioniert. Die AfD will das Problem auf Kosten der Schwachen lösen. Was Gewerkschaft und Lehrkräfte sagen.

Es ist immer das gleiche Lied: Der Staat wird seinem eigenen Anspruch nicht gerecht, was soziale Standards und Minderheitenrechte betrifft – und die AfD schlägt als Lösung vor, diesen Anspruch gleich ganz zu beerdigen. Jüngstes Beispiel: Der Vorschlag des Thüringer AfD-Rechtsaußenpolitikers Björn Höcke zur Abschaffung der Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung an Regelschulen.

Im Sommerinterview des MDR bezeichnete Höcke die Inklusion als "Ideologieprojekt", von dem das Bildungssystem zu "befreien" sei.

Nicht, dass Lehrkräfte und Gewerkschaften vorher behauptet hätten, dass Inklusion unter den aktuellen Rahmenbedingungen gut funktioniert. "Inklusion wird heute nur durch den Einsatz und den pädagogischen Idealismus von Lehrerinnen und Lehrern am Leben gehalten", betonte im vergangenen Jahr die Vorsitzende des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), Simone Fleischmann.

Eine Umfrage des Verbands hatte ergeben, dass 97 Prozent der befragten Lehrkräfte die Inklusion unter den derzeitigen Rahmenbedingungen für nicht realisierbar hielten.

Keine Rücksicht bei der Klassengröße

Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf würden bei der Klassenbildung kaum berücksichtigt, hieß es. Inklusive Klassen seien meist so groß wie nicht-inklusive. So hätten die Lehrkräfte auch nicht mehr Zeit, sich den einzelnen förderbedürftigen Kindern zu widmen. Die BLLV-Präsidentin schlug aber keineswegs vor, das Projekt Inklusion einfach aufzugeben. Im Gegenteil: Es werde Zeit, vorhandene Konzepte und Ideen für eine gelungene Inklusion endlich umzusetzen, betonte sie laut einem Bericht des Portals News4Teachers.

Die konservative Konrad-Adenauer-Stiftung nennt in einem Länderbericht Schwedens Bildungseinrichtungen als positives Beispiel. Zwar sei auch dort noch "Luft nach oben" – die gesellschaftliche Debatte über Inklusion drehe sich aber in dem skandinavischen Land weniger um die Frage "ob", sondern vielmehr um die Frage "wie".

Deutsche Bildungsausgaben im OECD-Vergleich gering

Seit sich Deutschland 2009 zum Recht auf gleichberechtigte Teilhabe bekannt und damit die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen ratifiziert hat, kritisierte unter anderem die Bildungsgewerkschaft GEW mehrfach eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

Um dem Lehrermangel zu begegnen, müsse der Beruf attraktiver gemacht werden – etwa durch Entlastung von IT- und Verwaltungsaufgaben sowie bessere Bezahlung. Außerdem sei die Zahl der Studienplätze für das Lehramtsstudium zu erhöhen. Das deutsche Bildungssystem sei dramatisch unterfinanziert, warnte die GEW im Jahr 2020.

Die öffentlichen Bildungsausgaben sind zwar gestiegen, aber gemessen an seiner Wirtschaftskraft gibt Deutschland weniger Geld aus als die OECD-Staaten und die Staaten der EU.


Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) 2020

Seither hat sich die Situation durch Lernlücken auch bei nicht-behinderten Kindern infolge der Schulschließungen während der Corona-Krise noch einmal verschärft. Ende 2022 forderte die GEW ein 100-Milliarden-Programm für die Bildung, nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Anfang des Jahres ein Sondervermögen für die Bundeswehr in dieser Höhe angekündigt hatte.

Im kommenden Jahr sollen die Ausgaben für Bildung und Forschung laut Bundeshaushalt 2024 aber erst einmal sinken: von zuletzt knapp 21,5 Milliarden auf 20,3 Milliarden.

Die AfD spekuliert unterdessen auf Zustimmung von Eltern, die nicht das defizitäre Schulsystem, sondern die Anwesenheit behinderter Kinder im Klassenzimmer dafür verantwortlich machen, dass ihr eigener Nachwuchs nicht vorankommt.

Höckes Forderung, Inklusion als "Ideologieprojekt" zu beerdigen, weist die GEW scharf zurück. "Jedes Kind, jeder Jugendliche hat das Recht inklusiv – also an einer Regelschule – unterrichtet zu werden", so die Hamburger GEW-Vorsitzende Anja Bensinger-Stolze.

Die Vorsitzende der gemeinnützigen Bundesvereinigung Lebenshilfe, Ulla Schmidt, reagierte empört auf den Vorstoß des AfD-Politikers. "Wir sind entsetzt über die Auslassungen von Herrn Höcke im MDR-Sommerinterview zum Thema Inklusion", sagte die ehemalige Bundesgesundheitsministerin (SPD) dem Spiegel.

"Dieses Recht in Frage zu stellen, erachten wir als Tabubruch und schlicht als Skandal", so Schmidt. "Angesichts dieser menschenfeindlichen Haltung können wir nur ahnen, wie Herr Höcke mit Menschen mit Behinderung umgehen möchte."