Erdogans neo-osmanische Träume: Komplizen in Ost und West

Seite 2: Iranisches und türkisches Regime vereint gegen Kurden

Unterdessen wird die Parole der kurdischen Frauen "Jin, Jiyan, Azadi – Frau, Leben, Freiheit" nicht nur von den iranischen Mullahs als Bedrohung ihrer Macht betrachtet. Auch die türkische Regierung beobachtet mit Sorge die Entwicklungen im Iran. Denn längst ist dies nicht mehr nur die Parole der Frauen der kurdischen Freiheitsbewegung.

Türkische, persische, arabische Frauen und Männer solidarisieren sich mit dem Kampf der Frauen im Iran um Selbstbestimmung und Demokratie. Und sie erinnern an die eigene Unterdrückung in ihren Ländern und stellen ihre autokratischen Regime in Frage. Es ist kein Geheimnis, dass das syrische Regime, die Türkei und Russland freundschaftliche Beziehungen zum Mullah-Regime pflegen.

Alle drei autokratischen Regime eint die Nicht-Akzeptanz von Minderheitenrechten, die Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten. So überrascht es nicht, dass das iranische Militär die Kurden nicht nur im eigenen Land angreift, sondern auch im Nachbarland Irak. Seit Beginn der Aufstände im Iran im September bombardieren die iranischen "Revolutionsgarden" die Grenzgebiete im Nordirak.

Am 28. September wurden aus dem Iran die Stützpunkte der Demokratischen Partei Kurdistan-Iran (PDK-I), der Freiheitspartei Kurdistan (PAK), der Partei für ein freies Leben in Kurdistan (PJAK) und der Komala in den Provinzen Erbil und Silêmanî, sowie eine Grundschule bombardiert. Mindestens 16 Menschen kamen ums Leben, darunter auch Kinder, mehr als 50 wurden verletzt.

Auch die Guerillagebiete der PKK im Nordirak werden immer wieder mit Artillerie aus dem Iran heraus angegriffen. Im Oktober berichteten Augenzeugen vor Ort, dass auch die Türkei Luftangriffe im Gouvernement Sulaimaniyya entlang der iranisch-irakischen Grenze fliegt. Das irakische Parlament wollte internationale Unterstützung gegen die türkischen und iranischen Angriffe auf die Souveränität des Irak einfordern. Ob das in die Wege geleitet wurde, ist nicht bekannt.

Was im Jahresrückblick auf neo-osmanische Bestrebungen fehlt: Unerwähnt geblieben sind die ständigen Provokationen der Türkei gegenüber Griechenland, die türkische Unterstützung der Hamas, die Annäherung an Assad, die Erpressung Finnlands und Schweden im Nato-Beitrittsprozess, den Erdogan zu nutzen versucht, um mehr Repression gegen kurdische Exilanten in diesen Ländern herauszuschlagen, die Unterstützung von Islamisten in Afrika, die Finanzierung von islamistischen Terrororganisationen von Katar in der Region und die Rolle der Türkei dabei. Dies auch noch aufzuführen, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen.

Aber allein schon die aufgeführten Beispiele zeigen, wie die Türkei das Pulverfass Nahost weiter destabilisiert. Das müsste die deutsche Bundesregierung eigentlich alarmieren.

Die bewusst selektive Wahrnehmung der Bundesregierung

Aber das Gegenteil ist der Fall. Es dauerte zudem Wochen, bis sich die Bundesregierung zu einer Haltung gegenüber dem Iran durchringen konnte und einige kleine Sanktionen beschloss. "Iranische Regimepolitiker reisen weiterhin problemlos durch die Welt und auch die Staatswirtschaft ist weiterhin gut in Deutschland vertreten, wie erst kürzlich bei der Düsseldorfer MEDICA Messe 2022, wo der Iran stolz unter der Flagge der islamischen Republik sogar einen eigenen Sektor hatte und die AHK Iran zur Zusammenarbeit wirbt", konstatierte die Rosa-Luxemburg-Stiftung.

In Bezug auf die Türkei verschließt die Bundesregierung bewusst Augen und Ohren vor den Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen. Sie scheint sich nicht der Gefahr bewusst zu sein, dass die türkische Regierung mit ihrer Unterstützung der Islamisten in der Region im Kampf gegen die Autonome Administration von Nord- und Nordostsyrien (AANES) den IS 2.0 https://www.heise.de/tp/features/Nordsyrien-Eine-neue-Generation-von-IS-Terroristen-waechst-heran-6328670.html.

Sie scheint auch nicht wahrzunehmen, wie sich Muslimbrüder und andere Islamisten im Nahen und Mittleren Osten gegen den Westen und gegen demokratische Werte formieren. Und dass die Türkei dabei eine wichtige Rolle spielt. Der Vernichtungsfeldzug gegen das kurdische Volk, das sich nirgendwo assimilieren lassen will, ist nur ein Spielfeld, das vor allem dem Machterhalt Erdogans und seiner Clique dient.

Der Kampf gegen die PKK dient dabei nur der Legitimierung seiner völkerrechtswidrigen Politik. Denn längst geht die Selbstverwaltung (AANES) in Nordsyrien ihren eigenen, multiethnischen Weg. Die türkische demokratische kurdische Bewegung hat ebenfalls ihre eigenen Strukturen aufgebaut wie auch die kurdische Bevölkerung im Iran. Sie alle kämpfen nicht mehr für den einen kurdischen Staat, sondern für Föderalismus und einen Autonomiestatus innerhalb der bestehenden Staatsgrenzen. Einzig die konservative Barzani-Regierung im Nordirak strebte die Unabhängigkeit an und wurde, obwohl eng mit der türkischen Regierung verbunden, von dieser jäh in die Grenzen verwiesen.

Das viel brisantere Spielfeld der Türkei ist ihr zunehmender Einfluss im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika. Erdogan hat sich zum Ziel gesetzt, die Türkei zum Global Player in der islamischen Welt zu machen. Erinnert sei an das in Teil 1 zitierte Gedicht: "Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind…"

Wenn es Erdogan (oder seinem Nachfolger) gelingt, die neo-osmanischen Pläne zu verwirklichen, werden noch viel mehr Menschen aus der Region Zuflucht bei uns suchen. Menschen, die Minderheiten angehören oder sich für Demokratie einsetzen.

Wenn die Islamisten mit Hilfe der Türkei im Nahen Osten und absehbar in Afrika erstarken, werden wir das in Europa zu spüren bekommen, denn ihre Strukturen sind hier in Form der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e. V. (Ditib) und des Zentralrats der Muslime – und deren Netzwerke bereits etabliert.

In der Konsequenz heißt das: die Kriminalisierung demokratischer Organisationen der Kurden in Deutschland muss aufhören. Anerkannt werden muss endlich der lange vollzogene Paradigmenwechsel der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) – und dass von ihr keine Gefahr in Europa ausgeht, sondern dass es sich um einen "regionalen bewaffneten Konflikt von zwei Kriegsparteien" handelt.

Die türkische Regierung gehört genauso sanktioniert wie Russland und der Iran. Im Iran werden Menschen wegen ihrer Proteste hingerichtet, im Nordirak setzt die türkische Regierung Giftgas ein – was Russland bisher nicht getan hat. Das nur mal als Anmerkung, ohne den völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine verharmlosen zu wollen.

Ausblick auf 2023

Die Bundesregierung wird aller Voraussicht nach an ihrem Kurs gegenüber der Türkei festhalten. Die demokratischen Kräfte in Nordsyrien werden weiterhin nicht unterstützt. Das liegt auch am Personal des Auswärtigen Amtes und des BMZ, die von der CDU oder SPD über die Jahre auf sichere Posten gehievt wurden. Ein Wandel in unseren Behörden dauert mitunter mehrere Legislaturperioden, so er gewünscht ist.

Die Zahl der Geflüchteten aus dem Nahen Osten wird wachsen, mit der zunehmenden Destabilisierung Nordsyriens werden zwischen den Vielen, die Terror und Gewalt entkommen wollen, auch Islamisten über die Türkei einsickern. Die Gefahr für Terroranschläge steigt.

Die Wahlen in der Türkei werden zugunsten Erdogans hingebogen, andernfalls müsste der Präsident sich von seinen Palästen verabschieden und mit einer Zelle im Silivki-Gefängnis oder einer wahrscheinlich schon vorbereiteten Villa im Exil vorliebnehmen. Ein potentieller Nachfolger würde keine Verbesserung für die Minderheiten in der Türkei bringen, aber vielleicht die AKP-Seilschaften zugunsten eigener Seilschaften ablösen.

Für das kurdische Volk hat die Politikwissenschaftlerin Dastan Jasim das Dilemma deutscher Außenpolitik im Nahen Osten gut auf den Punkt gebracht:

Ob Iran, Irak, Syrien, Türkei oder die deutsche Diaspora: Hundert Jahre nach der willkürlichen Grenzziehung des Lausanner Vertrags ist das Einzige, was für Kurd:innen keine Grenzen hat, die blanke Gewalt der sie besetzenden Staaten.

Eine deutsche Politik, die dies nicht klar benennt, kann nicht von sich behaupten, die Fragen von Demokratisierung und Frieden in der Türkei oder im Iran ernsthaft anzugehen, denn in diesen Tagen wird deutlich: Die Kurdenfrage ist Fundament jeglichen Fortschritts in beiden Ländern


Dastan Jasim