Erkenne dich selbst - Pythagoras, Subkulturen und der Psycho-Bio-Schaltkreis

Geschichte des globalen Gehirns XVI

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In einer Stammesgesellschaft gab es wenig Platz für einen sensiblen, verletzbaren und innenorientierten Mann. Wenn er entschlossen genug war, konnte er möglicherweise ein Schamane werden. Wenn er bis zur Panik schüchtern war und das Glück besaß, in einem Stamm zu sein, der so etwas zuließ, könnte er eine Zuflucht als ein Berdache gefunden haben, als ein Mannweib1, das sich wie eine Frau kleidete und zu einer Frau wurde. Falls er jedoch in einem Stamm wie dem brasilianischen Yanomamo lebte, würde er für seine Feigheit geächtet werden, keine Frau bekommen und daher keine Nachkommenschaft erzeugen können. Folglich würden seine Gene ganz aus der Gruppe verschwinden.

Thales von Milet

Aber im urbanen fünften Jahrhundert v. Chr. kam ein neuer Slogan auf: "Erkenne dich selbst!"2 Oberflächlich betrachtet, schien er einfach Selbstgenügsamkeit zu implizieren. Doch sein Subtext verkündete eine Jagd nach Verbindung. Irgendwo, so raunte es zwischen den Worten, ist eine Subkultur, zu der du paßt. Suche sie und nehme sie als Heimat für deine Identität. Diejenigen, die aus der Normalität aus Abscheu vor den anderen flüchteten, besaßen, was Forscher "geringe Konformitätsanteile" nennen.3 Sie konnten eine schräge Idee ausbrüten und sie dann zur Erklärung ihrer Unabhängigkeit von denen verwenden, die sie zurückgewiesen hatten. Was die Menschen, mit denen sie aufgewachsen sind, als Seltsamkeit bezeichneten, konnte ihre Eintrittskarte in einer Brüderschaft von Fremden sein, mit denen sie die "verrückten" Empfindungen gemeinsam hatten.

Im interurbanen Netz konnte man sich zum ersten Mal eine Gruppe auswählen, die zu den Strukturen der eigenen Neurologie paßten. Während jedoch die Kultur, die einen ausgestoßen hatte, höchstwahrscheinlich lokal war, war die neue Form der Subkultur, die einen aufgesogen hatte, höchstwahrscheinlich ein Strudel an Transnationalität. Wir müssen die richtige Stadt finden, um die stärksten Strudel der psychobiologischen Strömungen zu sehen. Und Athen war damals dafür die geeigneste Stadt. Fremde wie Zenon, der die über Jahrtausende geltenden drei Grundbereiche der Philosophie - Logik, Ethik und Physik - begründete, kam vom italienischen Elea nach Athen4 und brachte die Samen eines intellektuellen Sport für abenteuerlustige, untererregte Menschen mit sich, deren permanent ausgedorrten limbischen Systene nach einem neuronalen Pandämonium dürsteten. Es war, was der geistig rauhe und schnelle Aristoteles ungefähr ein Jahrhundert später Dialektik nannte.5 Zenos Mitbringsel erhielt später als die sokratische Methode6 eine lokale Tönung, in deren Kontext einige Durchbrecher von Gewohnheiten gediehen. Inzwischen strömten andere Kosmopoliten aus den italienischen Kolonien in die Stadt und brachten den Pythagorismus7 mit sich, eine Heimstatt für limbisch verletzte Introvertierte und andere aus der kontemplativen Art.

Athens Hafen für extrovertierte Wagemutige stammte von den Sophisten, die ihr Geld auf verwegene Weise in der Politik, in der Rechtssprechung, in öffentlichen Rededuellen und beim Mitmischen in der internationalen Diplomatie verdienten. (Sophisten boten auch die beste Ausbildung, die es gab. Doch das ist ein Thema für eine andere Gelegenheit ... oder, besser, für die Fußnoten.8) Das Wort Sophist9 bedeutete Wissensträger und war äquivalent mit unserem "Professor". Adepten wie der reisende Seminarerfinder Protagoras aus Abderan und der auf Vortragstouren befindliche leontinische Gorgias verlangten für ihre öffentlichen Auftritte gewaltige Summen, aber waren auch zu Hausbesuchen und Privatstunden für lächerliche 100000 Dollar oder so bereit.10 Sie lehrten, wie man seinen Fall überzeugend vor einer Zuhörerschaft darlegt, die einen Introvertierten einen Schreck einjagen würde. Dann gab es noch die Heimspieler, in Athen geborene Zyniker, Magneten für jene, die in sich Selbstverleugnung, Leid und den desolaten Höhlen der Seele ergingen. Wie die meisten Gruppen von Zurückgewiesenen boten die Zyniker ein Glaubenssystem an, mit dem ihre Schüler den Peinigern die Schuld zuweisen konnten, indem sie die Großen und Mächtigen verdammten, die sich über ihre Empfindlichkeiten in der Kindheit lustig gemacht hatten.11 Sie predigten die Reinigung von den "Deformationen" des dünkelhaften modernen Staates und forderten die Rückkehr zur Reinheit der Natur.

Aber greifen der Geschichte vor. Im letzten Kapitel hatten wir einen Blick auf die Weise geworfen, wie der Diversitätsgenerator neurologische Extreme ausbrütet. Jetzt ist es an der Zeit zu sehen, wie der Konformitätsverstärker die daraus entstehenden Abweichungen ineinander verhakt und Netzwerke schafft, deren Verbindungsstecker in die Gebäude der antiken Polis oder des modernen Staates hineinragten.

Im Zentrum steht der Sachverhalt, daß Ähnliches von Ähnlichem angezogen wird, was viel weitreichender ist, als das Sprichwort gemeinhin meint. Dank der Entdeckungen der Wissenschaft seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ist es jetzt offensichtlich, daß unsere Neigung, mit denen zusammen zu sein, die uns sympathisch sind, weit in die Geschichte der Evolution zurückreicht. Sie zeigt sich beispielsweise auch bei Schwämmen, die zuerst vor etwa 550 Millionen Jahren entstanden sind. Normalerweise hängen die Amöben gleichenden Lebewesen unauftrennbar zusammen. Wenn man einen frisch aus dem Meer geholten Schwamm durch ein Sieb in einen Eimer voll Wasser drückt, löst man die Bewohner aus ihren Befestigungen und zwingt sie, obdachlos und alleine herumzuwandern. Trotz dieser drastischen Vertreibung werden sich die mikroskopisch kleinen Tierchen wieder zusammenklumpen. Wenn man einen roten und einen gelben Schwamm in denselben Eimer gibt, dann werden sich die unterschiedlich gefärbten Vertriebenen eine Vermischung verschmähen und gierig nach anderen derselben Art suchen. Bigotte rote Zellen werden gelbe zurückweisen und umgekehrt. Innerhalb von drei Tagen werden sich die Roten mit ihren roten Genossen zu einem Klumpen und die Gelben mit ihren zitronenfarbenen Schwestern zu einem anderen Klumpen versammelt haben.12

Auch wir werden noch von dieser Erbschaft der Mikroorganismen angetrieben. Wenn man Zellen vom Auge und von der Leber ins Wasser gibt, dann werden sich die Leberzellen mit den anderen Leberzellen zu einer Gruppe zusammenfinden und die Augenzellen treibt es zu den anderen Augenzellen. 13 Die Körper arbeiten noch immer auf die "ethnozentrische" Weise, wenn sie nicht püriert werden. Im heranwachsenden Gehirn eines Embryos suchen Neuronen nach Partnern, mit denen sie ihr Leben lang verbunden bleiben. Jede erkundet, welche anderen mit ihr einen gemeinsamen Rhythmus haben, und stößt dann zu einer Clique, die in ihrem klüngelhaften Takt pulsiert.14 (Reggaefans bitte in eine Ecke, Rockfans und Liebhaber der klassischen Musik in eine andere.) So ist das überall in der Bio-Kette. So wenig die äußerliche Pigmentierung für die Muskelkraft, die Geschicklichkeit oder die Gehirnleistung eines Cichliden-Fisches bedeutet, so vereinigen sich die farbenbewußten Schwimmer nach dem Farbton ihrer Körperbemalung.15 Eine Untersuchung von 1013 Männern in Detroit zeigte, daß Weiße andere Weiße, Protestanten andere Protestanten, Katholiken andere Katholiken, Republikaner andere Republikaner und Arbeiter andere Angehörige der Arbeiterklasse zu ihren besten Freunden machten.16

Individuen werden, vor allem wenn sie Temperamente haben, die die Norm herausfordern, von zwei Griffen der Ähnlichkeit zusammengeführt: von ihrer emotionalen Vernetzung und - als wichtiges Nebenprodukt - vom Ausmaß, wie sie Dinge gemeinsam sehen. Experimente17 zeigen, daß Menschen von jenen angezogen werden, die ihre Einstellungen gegenüber der Religion, der Politik, den Eltern, Kindern und Drogen, der Musik, der ethnischen Abstammung18 und sogar der Kleidung19 teilen. Sie unternehmen alles, um ihren Glaubensbrüdern20 näher zu kommen, indem sie diese gegenüber denen bei der Heirat bevorzugen21, die für die herrschende Gentheorie als wahrscheinliche Geschlechtspartner gelten.22

Einstellungen sind nicht nur gemeinsame Fahnen, sondern Symbole der Emotionalität. Das Leiden will geteilt sein. Der Sozialpsychologe Stanley Schachter erzählte einer Gruppe von Collegemädchen, daß sie einen schmerzhaften Elektroschock erhalten werden. Einer anderen Gruppe erläuterte er hingegen, wie erfreulich die elektrische Ladung sein werde. Dann stellte er die Mädchen vor die Wahl, ihre Zeit vor ihrer Stromdosis in einem Warteraum mit einer Gruppe anderer junger Frauen zu verbringen, die dieselben Ampere- und Wattmengen erhalten, oder alleine zu bleiben. Mehr als die doppelte Menge derer, die dachten, sie würden gepeinigt werden, wollten sich in der Wärme eines sympathetischen Treffens einkuscheln.23

Wir Säugetiere sind unheimlich gut darin, von denen angezogen werden, mit denen wir unsere geheimen Lüste und Leiden gemeinsam haben. Dieses Talent zur emotionalen Heimat findet man bei Bibern, bei Wölfen und sogar bei Schafen.24 Bei den von Harry Harlow erforschten Rhesusaffen ist das besonders erstaunlich. Wenn es zur Begattung kommt, zieht es die in der Isolation Aufgewachsenen zu denjenigen hin, die in Quarantäne gehalten wurden. Wer seine Tage in Käfigen verbracht hatte, machte anderen Opfern der Gefangenschaft den Hof. Und hier kommt der Gipfel der Beobachtungen. An einigen Rhesusaffen ist eine Lobotomie vorgenommen worden. Obwohl keiner Bilder von den Gehirnen der anderen hatte, schafften es die Affen mit ähnlichen neurochirurgischen Eingriffen, einander zu finden. Die von den Affen entdeckten Unterschiede waren so geringfügig, daß sie selbst von den Wissenschaftlern nicht ohne genaue Prüfung von medizinischen Daten und Aufzeichnungen über die Lebensgeschichte herausgefunden werden konnten.25

Menschen gleichen den Affen darin weitgehend.26 Kinder, deren Gaben oder Behinderungen sie beispielsweise bizarr erscheinen lassen, finden einander heraus und verbinden sich.27 Bei uns nennt man das Bestätigung. Ohne andere mit derselben Wellenlänge kann die Seltsamkeit unserer Gefühle in uns die Angst erwecken, verrückt zu werden. Jerome Bruner erklärt eine der wichtigsten Ursachen für unsere Verzweiflung.28 Einige Kulturen verbieten eine Auseinandersetzung über Erfahrungen, über die sich andere ganz gerne ergehen.29 Sollten wir in einer Umgebung an Strand gespült worden sein, in der die Stimmungen, die wir täglich erleben, tabuisiert werden, so wird unser Wesen von der zugelassenen Wirklichkeit ausgesperrt. Wer so wie wir ist, kann uns eine Heimat mit anderen gewähren, die uns schließlich ein Gefühl vermitteln, das wir wertvoll sind. Aber es geschieht mehr als nur eine emotionale Rettung. Wenn wir einmal mit den uns Ähnlichen vereint sind, erweitern wir unsere Ähnlichkeiten und ahmen einander nach, bis wir über eine Rückkopplungsschleife unser gemeinsames Band zu einem Zeichen der Überlegenheit unserer Gruppe gemacht haben.30 Wenn man diese psychosozialen Verbindungen in eine multiurbane Nährlösung gibt, erhält die Formel für einen die Grenzen einreißenden Subkulturleim.

Der große Schlag den Einschluß ereignete sich etwa 600 Jahre v. Chr., als Propheten und Philosophen die Möglichkeiten der neuen transterritorialen Verflüssigungen ergriffen. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden außerweltliche Begriffe wie Religion für den Nachweis verwendet, wer mit wem verwandt und wer ein Angehöriger welchen genbasierten Stammes war.31 Das Geschlecht Jakobs im Jordantal hatte seine Solidarität in der Verehrung Jehovas gezeigt, während die Clans des archaischen Athens ihre Verbindung durch die Anbetung von Athena zur Schau gestellt hatte. Doch die Nutzer des neuen Leims verklebten mit den Hinterlassenschaften dieser alten Gottheiten transkontinentale Schaltkreise der Humanität. Zu den großen Integrationsfiguren gehören etwa Konfuzius und Lao-Tse in China (beide waren um 525 v. Chr. aktiv), Zarathustra in Persien (628-551 v. Chr.), die jüdischen Visionäre, die ihre eigenen Botschaften (545-500 v. Chr.) den Worten von Isaiah (742-701 v. Chr.) hinzufügten, und Platon (428-348 v. Chr.) natürlich in Griechenland. Mehr von Platon werde ich in späteren Kapiteln berichten, da einige der von ihm in Gang gesetzten Verbindungsschalter im 21. Jahrhundert für Ärger sorgten.

Der hinter Platon, seinen modernen Anhängern und deren Widersachern stehende Schatten war ein Urzement der transnationalen Subkultur. Heute verbinden wir ihn mit einem trivialen Theorem, gleichwohl war diese die Zukunft erschütternde Gestalt Pythagoras.

Faustische und Herdenmenschen - ein Bericht aus der Geheimschrift der Psychobiologie

Introvertierte werden oft aus den verschlossenen Türen der normalen Gesellschaft gestoßen. Die von ihren zerebralen Überempfindlichkeiten produzierten Launen machen sie zu "geeks", zu runden Pflöcken, die von den quadratischen Löchern der Akzeptanz ausgeschlossen sind. Auch wenn sie noch Kleinkinder sind, erschauern die Vorschullehrer vor ihrer Fremdartigkeit und stigmatisieren sie mit Begriffen wie "negativ" oder "Einzelgänger".32 Andere Kinder oder Erwachsende stoßen sie aus ihrer Gegenwart oder weigern sich, auf ihre Art wahrzunehmen.33 Extrovertierte hingegen werden liebevoll umarmt. So hart die Introvertierten auch um die Führerschaft kämpfen mögen, so erhalten doch die Extrovertierten die besten Positionen.34 Die hormonellen Treibstoffe der Macht treiben die Extrovertierten an, ihre Aggression gegen die unter ihnen Befindlichen zu richten. Und die Überempfindlichen werden ihre Schlagsäcke. Bei den niederen Primaten wird die Wildheit dieser Angriffe besonders gut erkenntlich.35 Dann wird alles noch übler. Introvertierte werden dazu gebracht, ihre Aggression gegen sich selbst zu richten.36 Bei den Extrovertierten, die in Popularität schwimmen, vertreibt das Wunderhormon Serotonin die Depressionen und erzeugt ein Gefühl von Selbstvertrauen und Herrschaft.37 Serotonin schlägt aber auch auf die aus der Gunst der Gesellschaft Vertriebenen zurück und treibt die Introvertierten zum Nägelkauen und zur Ängstlichkeit.

Eine der wenigen Strategien, um dieses Rätsel zu lösen, ist der Ausbruch und das Finden einer Gruppe oder die Erstellung einer Philosophie, in der man nicht länger an den Rand gedrängt wird.38 Niemand bedurfte einer emotionalen Heimat stärker als die Introvertierten im Zeitalter des urbanen Interface: die frei herumtreibenden Zurückgewiesenen der griechischen Stadtstaaten.

Introvertierte lassen sich in zwei Typen unterteilen: die Herdenmenschen und die faustischen Menschen. Letztere durchbrechen die Grenzen des Systems39 und kämpfen mit verbotenen Geheimnissen40, während erstere in einem Schwarm von anderen untertauchen, die ihnen gleichen41, und den Gewißheiten folgen, die von einer Autorität gelehrt werden.42 Faustische Menschen brechen zu Odyseen43 auf und kehren gelegentlich mit neuen Visionen44, einem prometheischen Feuer zurück, um das herum sich subkulturelle Gesellschaften bilden.45 Herdenmenschen verkriechen sich in der Wärme, die von den Entdeckungen der faustischen Menschen gestiftet wird.

Hans Eysenck, einer der tonangebenden Erforscher der Intro- und Extroversion, ebnete bereits 193646 den Weg für die Entdeckung der faustischen Menschen, also jener Introvertierten, die trotz ihrer Gehemmtheiten überraschend gute Abenteurer sind. Die überwältigende Mehrheit der Piloten sind extrovertiert. Und viele Introvertierte erstarren allein vor der Vorstellung, ein Flugzeug zu steuern.47 Eysencks Nachfolger entdeckten aber einige Introvertierte, deren Erfolge in der Pilotenausbildung die aller anderen Gruppen bei weitem übertrafen.48 Es waren die Introvertierten, die Eysenck früher "stabil" genannt hatte. Ihr Gegenteil bezeichnete er als "Neurotiker". Mit dem Fortschreiten der Wissenschaft enthüllte sich das faustische Wesen der "stabilen" Typen. Die ausschlaggebende Erkenntnis ergab sich 1972, als Jeff B. Bryson und Michael Driver herausfanden, daß manche Introvertierte vor der Komplexität zurückweichen, während sich andere in sie hineinstürzen.49 Vielmehr wäre dies die ausschlaggebende Erkenntnis gewesen, wenn sie beachtet worden wäre. 1998 durchforstete ich 60 Jahre der Forschung über diese Themen, um die Fußabdrücke der faustischen Menschen erneut zu analysieren und schließlich aufzudecken.

Die Starspielerinnen in den siegreichen chinesischen Volleyballteams von Frauen waren, welch' Überraschung, Introvertierte, die einen Ruhm erlangten, um den sie ihre extrovertierten Teamkolleginnen beneideten.50 Extrovertierte streben am heftigsten nach Geld, Status und Macht51, doch die weniger materialistisch ausgerichteten Introvertierten sind ironischerweise die besten Geschäftsleute und Unternehmer.52 Zu beiden Berufungen gehört nicht nur Risiko, sondern auch der Aufbau von Minigesellschaften. Besonders Unternehmer müssen Mikrogesellschaften aus Angestellten formen, die vor Ungeduld fiebern, um Giganten herauszufordern ... und die das auch durchziehen können. Es gibt gute Gründe dafür, warum Introvertierte, die die Komplexität suchen, so gute Sozialingenieure sind. Sie stürzen sich vor allem gierig in die Theorie und durchbrechen die Oberfläche, um Ursachen und Wirkungen zu entdecken.53 Sie haben auch eine Vorliebe für ausgefallene Lösungen von Problemen, auf die gewöhnlichere Menschen keine Antwort finden.54 Und sie neigen dazu, mit dem Geist und dem Gefühl zu denken. Aufnahmen von ihren Gehirnen zeigen, daß bei ihnen, wenn sie überlegen, das zerebrale Gefühlsnetz, das man Striatum nennt, wie Tokyos Stadtteil Ginza zu Mitternacht aufleuchtet.55

Die Extrovertierten, ihre Gegensätze, neigen dazu, Gefühle zu vermeiden und sich selbst in die Abstraktionen und Äußerlichkeiten der linken Gehirnhälfte einzuschließen.56 Indem sie das Bewußtsein aus ihrer emotionalen rechten Gehirnhälfte aussperren, machen sich die Extrovertierten selbst gegenüber dem Unüblichen blind. Sie kehren der explorativen Erkundung den Rücken zu.57 Die Tyrannei der linken Gehirnhälfte bei den Extrovertierten, die sich durch die kulurellen Innovationen im Griechenland des vierten Jahrhunderts verstärkte58, versperrt59 den Zugang zu Bereichen, die emotionale60 und auf Ahnungen basierende Fähigkeiten enthalten. Aber erst die Verbindung des Nicht-Rationalen mit dem Intellekt ermöglicht, wie moderne Untersuchungen zeigen, die genaueste Antizipation von herannahenden Fallen und Eröffnungen.61

Die nach Komplexität suchenden Introvertierten begrüßen überdies jene möglicherweise nützlichen Fremden, deren unbekanntes Wesen ihre Mitbürger schrecklich aufregt.62 Sie können auch die Rhythmen ihres Gehirns bei Gelegenheiten beruhigen, wenn andere in Panik geraten: eine Gabe, durch die sie zu den charismatischen Heroen gehören, die ruhig bleiben, wenn alle anderen ihren Kopf verlieren.63 Doch dem Erfolg der nach Komplexität suchenden Introvertierten liegt wahrscheinlich ihre Ausdauer zugrunde. Extrovertierte stürzen sich in Vergnügungen, die voller Aufregungen sind, spulen sie schnell ab und machen dabei eine Reihe von Fehlern. Introvertierte sind langsam und beharrlich. Sie nehmen lange und eintönige Aufgaben auf sich, aber machen wenige Fehltritte und wühlen sich bis zum bitteren (oder süßen) Ende durch.64 Untersuchungen zeigen, daß Ausdauer der Rohstoff der Größe ist.65 Und Größe ist etwas, was die faustischen Menschen erreichen wollen.66

Pythagoras - der faustische Mensch

Pythagoras (560-480 v. Chr.) war der ultimative faustische Mensch. Sein Vater arbeitete in einer Zeit als Edelsteinschleifer67, in der die Künstler nahe an der Spitze der Gesellschaft standen.68 Wie die meisten Introvertierten fühlte sich Pythagoras auf seiner Heimatinsel Samos nicht besonders wohl. Ein Grund dafür mag eine Charaktereigenschaft von Introvertierten sein: er war in einer Stadt ein Bücherwurm69, in der einzelgängerische Intellektuelle bestenfalls als komische Käuze galten.70 Ein anderer Grund mochte gewesen sein, daß Pythagoras als Kind von den Erwachsenen wegen seiner Frühreife bewundert wurde71 - eine Form der Aufmerksamkeit, durch die man bei seinen normalen Altersgenossen ziemlich unbeliebt werden kann.

Die Herrschaftsform, die an die Macht kam, als Pythagoras 18 Jahre alt wurde, wollte, wie dies Thukydides nannte, "eine mächtige Flotte" aufbauen, um die Perser zu schlagen und viele Inseln zu schwächen.72 Pythagoras verließ die Stadt, weil er sich gewiß war, daß "unter einer solchen Regierung seine Forschungen leiden könnten, da sie seine ganze Person in Anspruch nahmen."73 Seine Forschungen wären mehr als nur verhindert worden, wenn Pythagoras als Ruderer in einem Kriegsschiff hätte dienen müssen. Der junge Denker begann so eine 37-jährige Reise auf der Suche nach anderen Wissenssüchtigen. Zu diesen gehörten zwei Bürger von Milet, die ihn weiter voranbrachten: Anaximander, der Vater der Astronomie, und unser alter Freund Thales, der heute als Begründer einer namenlosen Disziplin bekannt ist, der Pythagoras später den Titel Philosophie gab.

Wenn Pythagoras den quer durch die Lande reisenden Trampern in der Mitte des 20. Jahrhunderts geglichen haben sollte, die von dem Psychologen Stephen L. Franzoi genau untersucht wurden74, dann war er intuitiv, emotional offen, impulsiv, unabhängig, erfreut über Komplexität und Veränderung und stark daran interessiert, in die Seelen von anderen Menschen einzutauchen: der perfekte Menschentyp, um das Wesentliche aus den Weisen von fernen Ländern herauszuholen. Man sagt von Pythagoras, daß er wie ein Tramper in den 60er Jahren vier Jahrzehnte lang die Weite des Mittelsmeers von Gaul bis Phönizien durchreist habe und Wissen von Mystikern und Priestern erwarb.75 Er hielt sich im afrikanischen Teil Ägyptens auf, das für das Geheimwissen seiner Priester bekannt war, tauchte dann in die schamanistischen Gebiete Asiens76 ein, kam nach Persien und zu seinen Magieren, nach Arabien und schließlich nach Indien77, dem Land, in dem Vardhamana, der Begründer des Jainismus, eine neue mönchische Religion bildete, die der Gewalt gegenüber Tieren abschwor, in dem Goshala Maskariputra die das Selbst verleugnende Ajivika-Sekte gründete, in dem gerade zwei neue Upanishaden in den Wäldern "entdeckt" wurden und in dem Buddha, 20 Jahre jünger als Pythagoras78, den Zeitgeist wie der griechische Tourist in sich einzog. Sowohl der Begründer einer Religion, die später den Osten durchdrang, als auch der Besucher, dessen Ideen im Westen heranreiften, nahmen in sich den brahmanischen79 Mystizismus, die Wiedergeburt, die vegetarische Einstellung, den Asketismus und, im Fall von Pythagoras, den Gedanken der politischen Elite auf.

Als er im Alter von 56 Jahren wieder in seine Heimatstadt mit einer fast voll entwickelten Philosophie zurückkehrte, versammelten sich seine alten Fans unter den Alten, um seinen Erfahrungen gierig zu lauschen. Doch keiner zeigte, wie Iamblichus sagt, "wirklich an Interesse an den mathematischen Erkenntnissen, die er so sehr bei den Griechen einführen wollte."80 Die Menschen in der Heimat weigerten sich in der Tat völlig, die Lehren zu "lernen", mit denen der intellektuelle Abenteurer zurückgekehrt war. Daher reiste Pythagoras wieder zu der mit Religion erfüllten Insel Delos und zum autoritären Sparta weiter, um "deren Gesetze zu lernen." Anschließend ging er zurück nach Samos und zeigte die Tiefe seiner introspektiven Neigungen. "Er stattete eine Höhle aus ..., in der er meisten Teil des Tages und der Nacht verbrachte, immer beschäftigt mit wissenschaftlichen Forschungen und Überlegungen", bis er "eine vollständige Wissenschaft der himmlischen Gestirne entfaltete und sie auf arithmetischen und geometrischen Beweisen begründete." Doch noch immer wollte niemand zuhören. Seine Mitbürger in der Stadt mißachteten seine Theorien und schickten ihn auf diplomatische Missionen oder begruben ihn unter bürokratischem Geschwätz. Daher flüchtete der Meister der verborgenen Welten, die von den Introvertierten am besten gekannt werden, seiner Heimatpolis. "Angeekelt von der Verachtung der Einwohner von Samos gegenüber der Bildung", wie Iamblichus sagt, ließ sich Pythagoras in der griechischen Kolonie Croton in Italien nieder, wo er sein Geschäft als Guru eröffnete und bald an die 600 eifrige Schüler und weitere 2000 Anhänger fand, die seine Vorträge im Auditorium der Stadt besuchten.81

Pythagoras ließ seine Schule genau zu dem werden, was die herdensuchenden Introvertierten am meistem brauchen: zur Zufluchtsstätte einer Tyrannei. Zweideutigkeit provoziert Konflikte82 - und die Schafe unter den Introvertierten verbunkern sich sofort. Undeutlich abgestufte Grautöne bringen die limbischen Systeme der Herdenmenschen in Rage, so daß sie dringend das Beruhigungsmittel einer Welt benötigen, die in Schwarz und Weiß dargestellt ist.83 Die Sekte von Pythagoras war ein Beil, das Ebenholz von Elfenbein trennte.84 Es schlug jene los, die mit der Axt eines Treueschwurs hinzukamen. Es spaltete Ungewißheit und Streitereien über die interne Position ab, indem man alle irdischen Güter gemeinsam besaß, identische Kleidung trug, ein gleichbleibendes Verhalten übernahm (man sollte unter anderem niemals in Gelächter ausbrechen) und ein klösterliches Verbot von Fleisch, Wein, Eiern oder Bohnen beachtete.85 Um in die Sekte einzutreten, mußte man ein Initiationsritual der Reinigung durch Abstinenz, eine umfangreiche Lehre und, was das Beste für alle ist, die ihre Übererregbarkeit deaktivieren wollen, fünf Jahre einer schweigsamen Gehorsamkeit gegenüber jedem Befehl durchlaufen, wie lächerlich er auch erscheinen mochte.86 Wenn dieses halbe Jahrzehnt der Selbstunterdrückung zu Ende war, konnte man in das innere Heiligtum der "esoterica" eintreten: die Schüler durften "das geheime Wissen des Meisters selbst" zu sich nehmen. Ironischerweise ist für einen schafartigen Introvertierten dieser letzte mentale Einschluß in die Herde genau das, was nötig ist, um ihr einst unterdrücktes Gefühl der Freiheit und der Leistung aufblühen zu lassen.87

Die Philosophie des Pythagoras wird oft in denselben Topf wie die griechischen Mysterien und die okkulten Praktiken um die ägyptischen Götter geworfen.88 Michael Grant, ein Historiker der Antike, nennt den Pythagoreismus "seltsam", "okkultistisch", "irrational" und einfach "hirnrissig".89 Sokrates, der von Historikern wie Grant bevorzugt wird, war die athenische Alternative: ein Magnet für Extrovertierte, deren Denken von der introspektiven Emotionalität abgelöst war. Einer der bekanntesten Schüler (und wahrscheinlich auch Geliebten90) von Sokrates war Alkibiades, ein die Erregung Suchender im n-ten Grad, was bedeutet, daß er ein unsensibler Extrovertierter war. Bekannt war er, worauf Will Durant schwört, weil er "hundert Gesetze" brach und "hundert Männer" verletzte, weil er jedem Vergnügen nachging, das man dem Vorrat von Exzessen Athens abzwingen konnte, aber auch wegen seiner Herde von Pferden, die Sieger in olympischen Wettkämpfen waren91, wegen seines Hauses, das mit Luxusgütern angefüllt war, wegen seiner überzogenen Finanzen, seiner beispiellosen Popularität unter den teuren Prostituierten Athens und seinen Witzeleien über die Mächtigen. Perikles, der alle übertrumpfende politische Herrscher Athens, versuchte beispielsweise Alkibiades zurechtzuweisen, indem er sagte, daß auch er angeblich witzige Bemerkungen über seine Zunge bringen konnte, als er noch jung war. Der ungezügelte junge Mann erwiderte schlagfertig: "Schade, daß ich dich nicht kennen konnte, als dein Geist noch auf der Höhe war."92

Dann gab es noch den verrufensten Akt des Vandalismus von Alkibiades: er schlug die Nasen, Ohren und hervorstehend dargestellten Penisse von fast jeder heiligen Hermesstatue in der Stadt ab und führte diese Tat in nur einer Nacht durch.93 Als Alkibiades älter wurde, wurde er verwegener. Er und seine Kumpane begannen einen Krieg mit Syracus, den Athen prompt verlor.94 Wegen der nationalen Demütigung wurde Alkiabiades aus der Stadt verstoßen. Daher verpflichtete er sich als militärischer Führer bei Sparta, dem Erzfeind Athens, und ließ die Bürger Zuhause darüber ihre Haare mit den Wurzeln ausraufen. Schließlich rissen sie auch die Wurzel heraus, die für manche das ganze Fiasko verursachte hatte: den alten Philosophen Sokrates selbst. Das war einer der Hauptgründe, warum der seltsame zweifelnde Kauz den tödlichen Schierlingsbecher trinken mußte.95

Augustinus erreichte es, den Unterschied zwischen Sokrates und Pythagoras herunterzuspielen, als er schrieb: "Weisheit besteht aus Handlung und Kontemplation ... Sokrates soll im aktiven Teil dieser Lehre überragend gewesen sein, während Pythagoras größere Aufmerksamkeit auf ihren kontemplativen Teil richtete ..."96 Pythagoras war ein Magnet für Introvertierte, die das jenseits der Vernunft liegende Gefühl mit dem Intellekt verbanden. Er konzentrierte sich auf Obsessionen, mit denen die Introvertierten gesegnet waren: Theorie, Geheimnis, Lernen97 und Kreativität.98 Während Sokrates seine Aufmerksamkeit auf Haarspaltereien der linken Gehirnhälfte99 richtete, spezialisierte sich Pythagoras auf solche Gaben der rechten Gehirnhälfte wie die Musik100, bei deren Erforschung er unlöschbare Spuren hinterließ. Musikalisches Talent entsteht teilweise durch die anormalen pränatalen Ausscheidungen, in denen manche der Föten künftiger Introvertierter schwimmen101: das sind pränatale Hormone, aufgrund derer Männer und Frauen entstehen, die nicht in die standardisierten Geschlechtsformen passen.102 Solche Persönlichkeitsschicksale sind es, die von den Konformität erzwingenden Normalen an die Ränder der Gesellschaft gedrängt werden. Und es sind diejenigen Introvertierten, die mit ihrem "geringen Grad an Konformität" und mit einer guten Ausbildung die sympathetische Höhle einer sich gegen die herrschende Kultur auflehnenden Minigesellschaft suchen.103

Wenn Iamblichus recht hat, dann führte Pythagoras in der Tat einen virtuellen Persönlichkeitstest durch, um sicherzustellen, daß seine Anhänger Introvertierte waren. Er war viel stärker darauf aus, daß sie schweigsam waren, als daß sie redeten. Er hielt, in anderen Worten, Ausschau nach Schüchternheit104: dem Kennzeichen der Introversion. Er suchte auch nach einem übererregbaren limbischen Alarm, der seine Anhänger "durch die Energien jeder ungezügelten Triebhaftigkeit oder Leidenschaft zur Verwunderung" bringt und eine unmittelbare Abneigung gegenüber solchen Qualitäten der nach Thrill suchenden, nicht leicht Erregbaren wie "Wildheit", "Ungezügeltheit" und "ungestümes Verhalten" auslöst. Überdies wünschte Pythagoras einen wendigen, aber nicht rebellierenden Geist, der bereitwillig seine Lehren aufnahm. Kurz, er verlangte einen hohen IQ, der einherging mit den primären introvertierten Qualitäten der Herdenmenschen, also mit "Freundlichkeit und Nachgiebigkeit"105, d.h. einer absoluten Gefügigkeit.106 Seine Anhänger stellten seine Anordnungen nicht in Frage, sondern zügelten ihren Willen mit einem Satz, der von Sklaven stammt: "autos epha ipse dixit"107, was gewöhnlich "er selbst hat es gesagt" übersetzt wird. In anderen Worten: "Es ist wahr, weil Pythagoras es gesagt hat."

In weißem Gewand und asiatischen Hosen108 predigte Pythagoras die Reinkarnation109, den Grund, warum die Inder den Verzehr von Fleisch vermeiden, da das Verspeisen eines Ahnen sich für die Seele als zerstörerisch erweisen könnte110, und weswegen man niemals ein Tier töten sollen, wenn es nicht eine Gefahr für den Nächsten darstellt. Die Sekte von Pythagoras besaß durch die Öffnungen gegenüber Frauen eine zusätzliche Anziehungskraft. Das war im Griechenland jener Zeit eine Seltenheit und nach Berichten direkt ungesetzlich in Croton. Doch Timon von Athen nannte Pythagoras einen Menschenfischer, eine Bezeichnung, die später in der Geschichte einen großen Widerhall finden sollte.

Der Syllabus der spirituellen Aufladestation von Pythagoras scheint hinreichend vernünftig zu sein: Mathematik, Astronomie und Musik. Doch Geometrie und Arithmetik wurden eher als Mittel zur Beherrschung der Köpfe eingesetzt, indem man sie einer spartanischen Gymnastik mit der Unterscheidung von diktatorischen Formen unter der Oberfläche der Realität unterwarf. Wenn jemals ein einzelner Grieche eine philosophische Zufluchtsstätte für diejenigen entwarf, die den schmerzlichen Dornen der äußerlichen Körperlichkeit entfliehen wollten, dann war dies Pythagoras. Daher verwundert es nicht, wenn er das Wort "kosmos" erfunden haben soll, dessen Ableitung "kosmisch" bei denen populär werden sollte, die im 20. Jahrhundert eine Zuflucht vor der Äußerlichkeit suchen.

Als er jedenfalls eine gewisse Anzahl von Mitgliedern in seinen sozialen Kokon eingeschlossen hatte, begann Pythagoras, sein totalitäres System dem ganzen Staat von Croton aufzuzwingen: Iamblichus behauptet, der Weise habe "Croton, Sybaris, Catanes, Rhegium, Himaera, Agrigentum und Tauromenas befreit" und Gesetze aufgestellt, "die die Städte zum Blühen brachten", während sie "Parteilichkeit, Zweitracht und Aufhetzung (anders gesagt: Uneinigkeit) ... aus den italienischen und sizilianischen Ländern" ausrotteten.111 Manche meinen, daß Pythagoras und seine Schüler es schafften, ganz Süditalien an sich zu reißen. Leider (oder eher Gott sei Dank) stand Pythagoras in einem Krieg zwischen den Aristokraten von Croton und den Anhängern einer relativ neuen Bewegung mit dem Namen Demokratie112 auf der Verliererseite. Die Demokraten revoltierten, brannten die Hauptsitze nieder, in denen seine Schüler zusammengetrieben wurden, töteten einige und jagten den Rest aus den Stadtmauern hinaus. Pythagoras selbst starb kurz darauf, auch wenn es nicht bekannt ist, ob er durch die Hände von aufgebrachten Bürgern getötet wurde oder er sich selbst zu Tode hungerte. Seine Bewegung existierte jedoch weiter, da Pythagoras viele wichtige Dinge als Pionier erschlossen hatte, unter anderem eine Subkultur, durch die man jede Gesellschaft ersetzen kann.

Trotz der Plünderung der persönlichen Kommandozentrale von Pythagoras blühten weiterhin Gemeinschaften und Bruderschaften, die sich den Lehren des Meisters widmeten, im griechischen Territorium auf, zuerst in Süditalien, dann in Athen, Theben und Phlious. Pythagoreische Wegbereiter entwickelten auf der Grundlage der Lehren von Pythagoras fortschrittliche mathematische und wissenschaftliche Konzepte: von geraden und ungeraden Zahlen, von Primzahlen, von einer ersten Algebra, von einer runden Erde, von einer Sonnenfinsternis, die sich ereignet, weil sich die Erde zwischen Mond und Sonne schiebt113, und viele weitere Fundamente für jene, die später die äußere Welt erobern sollten, indem sie sich von ihr zurückzogen, also für die Wissenschaftler. Aristoteles berichtet, daß Pythagoreer wie Philolaus durch einen anfechtbaren Gedankengang unter anderem die Schlußfolgerung zogen, daß sich die Erde um die Sonne und nicht die Sonne um die Erde dreht.114

Die faustischen Nachfolger von Pythagoras wurden als soziale und politische Führer im ganzen Mittelmeerraum und in der Ägäis berühmt. Pausanias berichtet in seiner "Beschreibung Griechenlands", wie Thebens Führer Epaminondas im auf den Kampf ausgerichteten dritten Jahrhundert v. Chr. zu Lysis, der aus Tarent stammte und bewandert in der Philosophie des Pythagoras aus Samos war, zum Studium geschickt wurde. Herodot glaubte, daß der lakedämonische Brauch, in den Tempeln oder bei Begräbnissen keine Wolle zu tragen, von den Ägyptern und den Pythagoreern entlehnt wurde.115 Der griechische Geschichtsschreiber Diodorus bezeichnet Prorus als Pythagoreer.116 Der Stempel des Pythagoreismus findet sich in der ganzen Euklidischen Geometrie, die um 300 v. Chr. in Alexandria niedergeschrieben wurde.117 Plutarch schreibt viele der Vorstellungen von Numa Pompilius (etwa 700 v. Chr.), dem zweiten König von Rom, den Pythagoreern zu.118 Und der pythagoreische Politiker Archytas119, dem wir im nächsten Kapitel wieder begegnen werden, wurde sieben Mal hintereinander als "strategos" (Diktator) von Taras gewählt. Trotz der Entschiedenheit, mit der er sich seinen politischen Pflichten widmete120, fand Archytas nach Will Durant auch die Zeit, in die Tiefe gehende Abhandlungen über die pythagoreische Philosophie, die mathematischen Grundlagen der Musik und die Mechanik zu schreiben, sowie - nach Aristoteles - zwei Mittel zu erfinden, die die Möglichkeiten der Menschen, ihre Welt technisch zu verändern, erweitern sollten: den Flaschenzug und die Schraube. So ist es nicht verwunderlich, wenn Diodorus die Pythagoreer als die "Ursache so großer Wohltaten" nicht nur für einige, sondern für "alle Staaten Griechenlands" preist.121

Schließlich kam es zu einer Reihe von Sprungsteinen, die zu den Pythagoreern der Moderne führen sollten. Der Pythagoreismus lebte im Römischen Reich vom zweiten bis zum fünften Jahrhundert wieder auf, brach erneut während der Renaissance auf, fand seinen Weg durch alles von Montaigne, Shakespeare, Milton und die zeitgenössische Literatur bis zur modernen Mathematik122 und gedeiht in der Form von philosophischen, religiösen und wiederkehrenden paganen Bewegungen auf den Straßen, in den Universitäten und heute selbst im Internet.123

Manche haben Pythagoras für einen mystischen Weisen gehalten, andere für den Gründervater der weltlichen Forschung. Kopernikus schwor, daß sein sonnenzentriertes System unerschütterlich auf die pythagoreische Tradition aufbaute, was stimmte.124 Galilei wurde von seinen italienischen Zeitgenossen ein Pythagoreer genannt. Und Leibniz charakterisierte sich als selbst als ein Verehrer des pythagoreischen Erbes.

Doch die wichtigsten Beiträge des Pythagoreismus zum 20. und 21. Jahrhundert sollten sein Einfluß auf Platon und durch ihn auf eine Religion mit dem Namen Christentum und sein Widerhaken in eine auf andere Weise brillante Erbschaft sein: Die Erfindung einer Methode, um die Menschen vieler Länder zu einer Verehrung absoluter Autorität zu bringen.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer