"Es herrscht blanke Willkür"
Seite 2: Rechtsstaatliche Strukturen in der Türkei funktionieren nicht mehr
- "Es herrscht blanke Willkür"
- Rechtsstaatliche Strukturen in der Türkei funktionieren nicht mehr
- Auf einer Seite lesen
Anders sieht es bei der Schriftstellerin Asli Erdogan aus, die 2016 mehrere Monate in Istanbul in Untersuchungshaft saß, weil sie für die inzwischen verbotene kurdische Zeitung Özgür Gündem gearbeitet hatte. Sie ist zwar für die Dauer des Prozesses auf freiem Fuß, aber die Staatsanwaltschaft fordert weiterhin lebenslange Haft. Zwar darf sie formal das Land verlassen, die verhängte Ausreisesperre wurde aufgehoben. Doch das Innenministerium stellt ihr keinen neuen Pass aus.
Ihr Anwalt Erdal Dogan gibt sich pessimistisch. Er glaubt nicht, dass sich das bald ändern wird, obwohl es ihr Recht wäre. Ein deutliches Zeichen dafür, dass rechtsstaatliche Strukturen in der Türkei nicht mehr funktionieren. Der Prozess wird im Oktober fortgesetzt. Für die Schriftsteller stellt das auch ein finanzielles Problem dar. Auftritte und Lesungen sind ein wichtiger Teil ihres Einkommens, der wegbricht, wenn sie nicht reisen dürfen.
Ihr Anwalt Erdal Dogan zeichnet ein düsteres Bild der aktuellen Lage. "Schon vor dem Putschversuch von 2016 gab es Verfolgungen, aber inzwischen hat sich das dramatisch verschlimmert. Es geht gegen alle, die sich für demokratische Prinzipien einsetzen. Zehntausende werden einfach zu Terroristen erklärt und eingesperrt." Es sei gut, dass die Medien sich für Asli Erdogans Schicksal interessieren, "aber wir dürfen nicht all jene vergessen, die dasselbe Schicksal trifft, und die nicht von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden".
Als ein Beispiel nennt der den gewählten Oberbürgermeister der Stadt Van, den er vergangene Woche besuchte. Er sitzt in Silivri bei Istanbul, wo auch zahlreiche Intellektuelle und Journalisten gefangen gehalten werden, darunter Deniz Yücel und Ahmet Sik. Für sie gelten erschwerte Bedingungen. Sie dürfen Besuch nur von ihren Anwälten und Verwandten ersten Grades empfangen.
"Für Idil Eser bin ich der einzige Besuch. Nur ihr Anwalt. Sonst niemand. Das setzt ihr sehr zu." Oft werden ihnen Briefe oder Fotos, die ihnen geschickt werden, nicht ausgehändigt. Viele erhalten nicht die nötige medizinische Betreuung, es gebe Krebspatienten in Haft, die keinen oder nur sehr eingeschränkten Zugang zu Ärzten und Medikamenten haben. Viele sitzen zudem schon seit Monaten, einige seit fast einem Jahr in Untersuchungshaft, ohne dass man ihnen bislang mitgeteilt hätte, was ihnen vorgeworfen wird oder wann mit einer Anklageerhebung zu rechnen ist.
"Die Repressionen", fügt er hinzu, "treffen aber nicht nur die Inhaftierten. Erst gestern hat Erdogan ein neues Dekret erlassen, mit dem weitere rund 900 Beamte entlassen und Medien verboten wurden." Mit dem Dekret wurde außerdem der Geheimdienst MIT Erdogans Weisung unterstellt. "Die Entlassungen finden meist gegen Monatsende statt. So spart sich der Staat das letzte Gehalt. Eine Chance auf einen anderen Job haben die Betroffenen kaum noch, auch nicht in der Privatwirtschaft."
"Furchtbare Zustände in den Gefängnissen"
In den Gefängnissen werde die Lage auch aufgrund der Überbelegung schlimmer. Es gibt viel mehr Häftlinge als Betten, in vielen Haftanstalten müssen die Insassen daher in Schichten schlafen, in anderen liegen sie in den Fluren oder müssen versuchen, "im Stehen zu schlafen". Es sind furchtbare Zustände."
Die Anklagen, von denen er erzählt, klingen absurd. Idil Eser von Amnesty International, "die mit Religion nichts am Hut hat, soll nun zur Gülen-Bewegung gehören. Ein weiterer Anklagepunkt ist, dass sie während der Niederschlagung der Gezi-Proteste 2013 die südkoreanische Regierung aufgerufen hatte, kein Tränengas mehr an die Türkei zu liefern. Darüber hinaus werden ihr Kontakte zur PKK vorgeworfen mit der Begründung, ein PKK-Mitglied habe via Internet um Aufnahme bei Amnesty gebeten. Diese Anfrage wurde nicht einmal beantwortet."
Anwaltskollegen von Dogan seien verhaftet worden, weil sie Dokumente bei sich hatten, die vorher vom Geheimdienst MIT den Medien zugespielt und offiziell publiziert worden waren. Es herrsche völlige Willkür. "Für die deutschen Inhaftierten ist es ein kleiner Trost, dass sich immerhin deutsche Konsularbeamte mit ihnen treffen dürfen." Dass die deutsche Öffentlichkeit so gut über die Situation informiert wird, bewertet er positiv, und auch, dass deutsche Politiker sich einschalten. "Ich hoffe aber sehr, dass das auch nach der Wahl noch so sein wird", fügt er hinzu.