Eskalation als Prinzip: Deutschlands gefährlicher Weg zur "Kriegstüchtigkeit"

Hubert Thielicke

Bild: Wikipedia / Public Domain

Der Ukraine-Krieg verschärft längeren Trend vom Kalten Krieg zur heißen Front. Bundesrepublik ist mittendrin. Von der Kuba-Krise zur "Zeitenwende". Gastbeitrag.

Die Friedensdividende nach dem Ende des Kalten Krieges hatte nur eine kurze Lebenszeit. Seit Anfang dieses Jahrhunderts wachsen die Militärausgaben wieder, in Europa und anderen Regionen werden Kriege geführt.

"Ukraine-Konflikt: Rote Linien und existenzielle Bedrohungen"

Im Zentrum steht der Krieg in der Ukraine, ausgelöst durch den Widerstand Russlands gegen eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und die Ablehnung einer Verhandlungslösung durch die USA und ihre Verbündeten. Eigentlich hatte Präsident Putin nie einen Zweifel daran gelassen, dass für Russland der Nato-Beitritt Kiews eine rote Linie überschreiten würde.

Angesichts der Auseinandersetzungen im Donbass hielt man offensichtlich in Moskau diesen Punkt im Februar 2022 für gekommen.

Für die USA ist die Ukraine eine Frage des Prinzips, für den Kreml ist die Angelegenheit aber schlichtweg existenziell – in diesem Konflikt geht es nicht um die Ukraine, sondern um das Schicksal Russlands selbst,

… so schätzt der russische Außenpolitik-Experte Dmitri Trenin die Moskauer Sicherheitsinteressen ein.

Kubakrise

Im Herbst 1962 wäre US-Präsident Kennedy bereit gewesen, bis an den Rand des nuklearen Abgrunds zu gehen, um die Sowjetunion daran zu hindern, Kuba zu ihrer Raketenbasis zu machen. Sechzig Jahre später habe der russische Präsident eine Militäraktion angeordnet, um sicherzustellen, dass die Ukraine nicht zu einem unsinkbaren Flugzeugträger der USA werde.

Hubert Thielicke, Botschaftsrat a.D., ist Politikwissenschaftler und Publizist.

Die Kubakrise konnte damals friedlich gelöst werden, mehr noch – sie leitete eine Phase von Rüstungskontrolle und Abrüstung ein, beginnend mit dem "heißen Draht" zwischen Moskau und Washington sowie dem Moskauer Vertrag über den teilweisen Teststopp (1963).

Derzeit ist noch nicht abzusehen, wie der Krieg in der Ukraine enden wird. Zieht er sich noch länger hin, mit großen Opfern auf beiden Seiten, weitet er sich aus? Oder sind beide Seiten bald so erschöpft, dass eine Einigung möglich wird?

Unter Bundeskanzler Scholz schloss sich die Bundesrepublik bedingungslos dem Kurs von USA und Nato an. Es geht in erster Linie um Waffenlieferungen an Kiew – immerhin belegt hier Berlin den zweiten Platz nach den USA –, von der Suche nach einer Verhandlungslösung zwischen Russland und der Ukraine war nicht mehr die Rede.

Westen stoppt Verhandlungen

Im Gegenteil, als Anfang 2022 die russisch-ukrainischen Gespräche in Istanbul Hoffnungen auf ein Ende des Konfliktes entstehen ließen, stoppte der Westen, insbesondere die USA und Großbritannien, diesen Prozess. Wie auch die Regierungen anderer Nato-Staaten trug die Bundesregierung das mit, während Altbundeskanzler Gerhard Schröder im Hintergrund den Verhandlungsprozess förderte.

Der Artikel entstammt der Januar-Magazinausgabe von Welttrends.

Der Krieg eskalierte weiter. Trotz umfangreicher westlicher Waffenlieferungen steht Kiew gegen Ende 2023 vor düsteren Aussichten – es mangelt an Waffen, die USA beginnen sich abzuwenden, und ein Beitritt zur EU liegt in weiter Ferne, war im November 2023 im Spiegel zu lesen (Einsam in Kiew. In: Der Spiegel, Nr. 46 / 11.11.2023).

Besorgnis erregen müssen vor allem zwei Tendenzen: Erstens befindet sich die Rüstungskontrolle im Niedergang, wurden wichtige Vereinbarungen ad acta gelegt. Zweitens kam es zu politisch-militärischen Spannungen, in Deutschland verbunden mit einer verstärkten Militarisierung.

Niedergang von Rüstungskontrolle und Abrüstung

Die Situation hinsichtlich der Rüstungskontrolle verschärfte sich weiter, von Eindämmung der Rüstungen und Vertrauensbildung ist kaum noch die Rede. Allerdings ist das durchaus keine neue Entwicklung.

Die Rüstungskontrolle steckt seit längerer Zeit in einer tiefen Krise. Sie begann mit der Kündigung des ABM-Vertrages zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen durch US-Präsident George W. Bush. Eine "rüstungskontrollpolitische Zeitenwende" nannte das Rüdiger Lüdeking, ehemaliger stellvertretender Abrüstungsbeauftragter der Bundesrepublik. Denn:

Für die USA unter Bush hatte die Rüstungskontrolle keine große Bedeutung mehr. Sie wurde vielmehr als Einschränkung der Handlungsfreiheit empfunden und daher im Wesentlichen abgelehnt, zumal auch Russland nicht mehr als gleichrangiger Partner, sondern nur noch als Regionalmacht gesehen wurde, die keine echte Bedrohung mehr für den Westen darstellte.

Im Unterschied zu den Zeiten des Kalten Krieges setzten die USA nicht mehr auf Konzepte wie Wahrung von militärischem Gleichgewicht und rüstungskontrollpolitischer Zusammenarbeit oder Rücksichtnahmen. Vielmehr galt für Washington nun, "Sicherheit durch militärische Überlegenheit zu gewährleisten und sich von Hindernissen auf diesem Weg zu befreien. Es begann die Abräumung des rüstungskontrollpolitischen Acquis" (Rüdiger Lüdeking: Rüstungskontrolle als Thema von gestern? In: Politikum. Heft 3 / 2022, S. 56).

Von Obama über Trump zu Biden: Gefährliche Erosion

Während es 2010 unter Präsident Obama mit Russland noch zum Abschluss des New-Start-Vertrages zur Verringerung strategischer Waffen kam, setzte sein republikanischer Nachfolger Trump den unter George W. Bush begonnenen Prozess mit der Kündigung des INF-Vertrages, des Vertrages über den Offenen Himmel ("Open Skies") wie auch der Wiener Nuklearvereinbarung mit dem Iran (JCPoA) fort.

Nach dem Amtsantritt von Präsident Biden wurde es immerhin möglich, den New-Start-Vertrag bis 2026 zu verlängern. Das in den 1990er-Jahren vereinbarte Rüstungskontrollregime bei Streitkräften und konventionellen Rüstungen in Europa existiert nicht mehr.

Auch dazu haben die USA erheblich beigetragen (Wolfgang Richter: Ukraine im NATO-Russland-Spannungsfeld, SWP-Aktuell, Nr. 1/Februar 2022). Die jüngste Verschärfung der Beziehungen zwischen Moskau und Washington hat die Rüstungskontrolle zwischen beiden Mächten weiter in Mitleidenschaft gezogen.

Unter Verweis darauf erklärte Präsident Putin in seiner Rede zur Lage der Nation am 21. Februar 2023, Russland werde den New Start-Vertrag aussetzen, seine Obergrenzen aber einhalten und die USA auch weiterhin über Teststarts von Raketen informieren.

Angesichts von Überlegungen in Washington, einige Typen von Kernwaffen mittels Tests zu überprüfen, betonte Putin, Russland werde die nötigen Vorbereitungen treffen, um im Falle von Kernwaffentests seitens der USA selbst solche durchzuführen, jedoch nicht als Erster. (Während die Kernwaffenstaaten Russland, Frankreich und Großbritannien den Umfassenden Kernwaffenteststopp-Vertrag von 1996 unterzeichnet und ratifiziert haben, waren die USA und China bisher zur Ratifikation nicht bereit.)

Verspielte Chancen

In seiner Rede am 25. September 2001 im Bundestag im Berliner Reichstagsgebäude ließ Wladimir Putin als neuer Präsident Russlands sein Interesse an Partnerschaft und Zusammenarbeit erkennen. In Deutschland fand das zunächst ein positives Echo, in Berlin und Moskau wurde gar auf eine Nato-Mitgliedschaft Moskaus spekuliert.

Andere Signale kamen von jenseits des Atlantiks: Washington kündigte 2002 den ABM-Vertrag, 2003 überfielen die USA mit einer "Koalition der Willigen" den Irak, die Osterweiterung der Nato nahm Fahrt auf.

In seiner harten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) kritisierte der russische Präsident am 10. Februar 2007 diese Politik als Streben nach "monopolarer Weltherrschaft". Das "Münchner Signal" Putins wurde im Westen wenig ernst genommen.

Auf dem Nato-Gipfel in Bukarest 2008 strebte US-Präsident George W. Bush jedenfalls die sofortige Aufnahme der Ukraine und Georgiens an, was vor allem von Berlin und Paris verhindert wurde. Heraus kam als Kompromiss eine generelle Zusage zur Mitgliedschaft.

"Diesen Krieg kann niemand gewinnen"

Die Lage eskalierte schließlich 2021, insbesondere durch Manöver und Truppenbewegungen. Ende des Jahres schlug Russland den USA und der Nato in zwei Papieren Vereinbarungen zu Sicherheitsgarantien und weiteren Maßnahmen vor, die nach mehreren Gesprächsrunden jedoch abgelehnt wurden.

Auch die Moskauer Gespräche des französischen Präsidenten Macron und von Bundeskanzler Scholz mit Präsident Putin führten zu keiner Lösung. Im Gegenteil, am 24. Februar 2022 startete Russland seinen Angriff auf die Ukraine – ein offener Bruch des Völkerrechts (Erhard Crome, Hrsg., 2022: Zeitenwende? Der Ukraine-Krieg und die deutsche Außenpolitik; Welttrends, Potsdam).

Offensichtlich sah man sich in Moskau durch die jüngsten Entwicklungen in die Ecke gedrängt und suchte einen Ausweg auf militärischem Wege. "Diesen Krieg kann niemand gewinnen", schlussfolgerte im August 2023 eine Gruppe deutscher Experten, darunter General a.D. Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des Nato-Militärausschusses.

Sie schlugen vor, den Krieg mit einem Verhandlungsfrieden zu beenden und unterbreiteten entsprechende Ideen. Und Deutschland? Die Bundesregierung legte 2023 erstmals eine Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) vor.

Die neuen Richtlinien Berlins

Dieses Dokument wie auch die kurz darauf von Verteidigungsminister Pistorius vorgestellten Verteidigungspolitischen Richtlinien verdeutlichen den Führungs- und Gestaltungsanspruch Deutschlands als "bevölkerungsreichstes Land und die größte Volkswirtschaft in Europa".

In den Richtlinien wird unmissverständlich erklärt: "Wir müssen Rückgrat der Abschreckung und kollektiven Verteidigung in Europa sein." Anvisiert wird das Ziel, "die Bundeswehr zu einer der leistungsfähigsten Streitkräfte in Europa zu machen, die schnell und dauerhaft reaktions- und handlungsfähig ist."

Zur Begründung des mit der "Zeitenwende" verbundenen Hochrüstungsprogramms bedarf es natürlich einer Gefahr von außen und so verweisen beide Dokumente kurzerhand auf Russland "als die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum".

Parallel dazu wird die "Wehrhaftigkeit" zur "gesamtgesellschaftlichen Aufgabe" erklärt, "Kriegstüchtigkeit" zur "Handlungsmaxime". Die von Verteidigungsminister Pistorius erhobene Forderung, die Bundeswehr müsse "kriegstüchtig" werden, löste eine öffentliche Debatte aus.

Mehr Verantwortung als Tarnbegriff

Geht es aber nicht vielmehr darum, "friedensfähig" bzw. "verteidigungsfähig" zu sein? Zwar wird einerseits in der NSS betont, man wolle die globale Rüstungskontrollarchitektur erhalten und weiterentwickeln; andererseits beschuldigt man aber vor allem Moskau, schuld an ihrer Erosion zu sein, dabei die "führende Rolle" Washingtons ignorierend.

Diese jüngsten Entwicklungen haben eine längere Vorgeschichte. Bereits 2014 hatten Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen auf der Münchner Sicherheitskonferenz gefordert, Deutschland müsse international "mehr Verantwortung" übernehmen und sich "früher, entschiedener und substanzieller" engagieren.

Im Oktober 2020 erschien unter dem Label "Zeitenwende – Wendezeiten" eine Sonderausgabe des Berichts der MSC zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. "Zeitenwende" bedeutete für die Autoren, dass sich bisherige außenpolitische Gewissheiten der Bundesrepublik auflösen.

Das neue Umfeld sei insbesondere gekennzeichnet durch eine Schwächung der bisherigen internationalen Ordnung, den Aufstieg Chinas, eine Reorientierung der USA angesichts schwindender Machtpositionen. Diese Zeitenwende erfordere nun aber auch eine Wende in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Russland als Bedrohung

In dem Report wird betont, dass Deutschland inzwischen weithin aktiv sei, jedoch immer noch hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibe, in der Verteidigungspolitik gäbe es den "größten Nachholbedarf."

Auch bei der kollektiven Verteidigung der Nato sehe es "düster" aus. Wären die Europäer auf sich allein gestellt, sähen sie sich "massiven Fähigkeitslücken" gegenüber. Würden die USA die Nato verlassen, müssten die europäischen Bündnisstaaten gewaltige Ausgaben tätigen, um über Streitkräfte zu verfügen, "die in der Lage wären, in einem begrenzten regionalen Krieg gegen einen ebenbürtigen Gegner zu bestehen".

Versteht sich, dass mit einem "ebenbürtigen Gegner" Russland gemeint war, bis zu dessen westlichen Grenzen sich die Nato vorgeschoben hatte. Eine Steigerung deutscher Verteidigungsausgaben sei dringend.

Und schon war man beim Ziel, die Militärausgaben ganz rasch auf zwei Prozent des BIP zu erhöhen. Mehr noch, man möchte den nach Ansicht der Autoren und konservativer Kräfte in Deutschland weitverbreiteten Pazifismus und Antimilitarismus zurückdrängen.

Deutsche müssen umerzogen werden

Ihnen ging es besonders um die Frage: Kann der Bevölkerung eine aktivere Außen- und Sicherheitspolitik zugemutet werden? Bedauert wurde, dass "eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben oder auch die Beteiligung der Bundeswehr an robusteren Einsätzen schwer zu vermitteln sei".

Die meisten Deutschen verstünden unter "mehr Verantwortung" nur den Einsatz ziviler Instrumente, es käme aber darauf an, sie "mit guten Argumenten" von Entscheidungen zu überzeugen, die über das traditionelle Handlungsspektrum Deutschlands hinausgehen.

Meinungsumfragen zeigten damals, dass gerade aufseiten der politischen Linken – SPD, Grüne, Die Linke – die Meinung überwog, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte eine größere Verantwortung als andere Länder trägt, sich für den Frieden einzusetzen. Insgesamt widerspiegelte der Münchner Report die Auseinandersetzungen um die weitere deutsche Außen- und Sicherheitspolitik.

"Möglich-Macher-Macht"

Die Autoren plädierten dafür, dass Deutschland als viertstärkste Wirtschaft der Welt und stärkstes EU-Mitgliedsland eine größere Rolle spielen müsse. Die Möglichkeit der EU, in der Weltpolitik zu agieren, hänge nun mal stark von Deutschland ab.

Es sei heute eine "Möglich-Macher-Macht" (enabling power) und müsse die EU in die Lage versetzen, zu einem handlungsfähigen Akteur in allen Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik zu werden. Eine deutsche Führungsrolle in der EU sei eben ein notwendiges Kriterium für ein starkes Europa.

Die Nationale Sicherheitsstrategie und die Verteidigungspolitischen Richtlinien zeigen, dass sich solche Ideen in der Ampel-Koalition nun offensichtlich weitgehend durchgesetzt haben.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Welttrends und wird in der kommenden Magazinausgabe im Januar 2024 veröffentlicht.

Dr. Hubert Thielicke, geb. 1949, Studium der Volkswirtschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der Außenpolitik an der Moskauer Diplomatenakademie. 1972 bis 1990 Tätigkeit im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, darunter stellvertretender Delegationsleiter auf der Genfer Abrüstungskonferenz und Sektorleiter Abrüstung in der UNO-Abteilung, 1987 Konferenzfunktionen in Genf und New York, darunter Generalberichterstatter der UN-Konferenz über die Förderung der internationalen Zusammenarbeit bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie, 1988 bis 1990 Mitglied der Expertengruppe des UN-Generalsekretärs über die Rolle der UNO bei der Kontrolle. 1992 bis 2006 Pressesprecher eines Wirtschaftsunternehmens, PR-Berater und Journalist. Vorstandsmitglied des Verbandes für internationale Politik und Völkerrecht. Seit 2010 Pressesprecher und Autor von WeltTrends, seit 2018 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates von WeltTrends und der Studiengruppe Entmilitarisierung der Sicherheit.