Essen macht süchtig!?

Bildgebende Verfahren zeigen, dass beim Anblick von Essen auch die bei Drogensüchtigen aktiven Gehirnareale aktiviert sind

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Vorsichtig vor Lebensmitteln. Sie sollen nämlich, wie amerikanische Forscher herausgefunden haben wollen, auch süchtig machen können. Vor allem natürlich, wenn sie verführerisch riechen und schmecken. Geschmäcker sind bekanntlich in jeder Hinsicht verschieden, aber möglicherweise insoweit ähnlich, als die Gehirne von (hungrigen) Menschen, die nur an ihre Lieblingsspeisen denken, bereits in Erregung geraten. Dabei sollen just die Hirnareale aktiv werden, die auch bei süchtig machenden Drogen eine Rolle spielen. So wird vermehrt Dopamin in einem Gehirnareal ausgeschüttet, ein Botenstoff, der eine entscheidende Rolle für Lust und Belohnung spielt. Gibt es also wirklich eine Sucht nach Schokolade, Pizza oder Hamburger?

Beim Anblick des Lieblingsessen wird der orbitofrontale Kortex aktiv. Bild: Gene-Jack Wang

Suchtverhalten können nicht nur die einschlägigen Drogen oder Substanzen wie Alkohol, Rauschgift, Medikamente oder Nikotin verursachen, sondern, glaubt man Experten, auch andere Dinge wie (Glücks)Spiele, Einkaufen, Sexualität, Arbeit, Sport oder auch das Internet. Ob es nun um psychotrope Substanzen handelt, die direkt das Gehirn beeinflussen, oder um irgendwelche Tätigkeiten, durch die das Gehirn auf ähnliche Weise stimulieret wird, ist vielleicht nur eine Frage der Unterscheidung zwischen "harten", d.h. physischen und psychischen, und weichen", d.h. psychischen, Süchten. Süchtig sind die Menschen auf das, was ihr Erleben in bestimmter Weise verändert. Ein bestimmter, mit der Einnahme von Drogen oder dem Ausführen bestimmter Handlungen verbundener Erlebniszustand soll immer wieder hergestellt werden. Wenn dieser sich nicht herstellt lässt, treten bei Süchtigen mehr oder weniger heftige Entzugserscheinungen mit dem unwiderstehlichen Drang auf, sich das Erlebnis erneut zu verschaffen.

Die Wissenschaftler am Brookhaven National Laboratory des Energieministeriums haben die Gehirne von 12 Testpersonen mit dem bildgebenden Verfahren der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) untersucht, mit such feststellen lässt, welche Areale aktiv sind. Die Versuchspersonen sollten 18 Stunden vor der Untersuchung nichts essen. Ihr Gehirn wurde einmal mit der Präsenz von Essen gescannt und einmal ohne. Nachdem die Lieblingsspeisen erfragt wurden, durften die Versuchspersonen ihr erwärmtes Lieblingsessen sehen und es reichen. Sie durften auch ein winziges Stückchen probieren, ohne wirklich essen zu können. Zur Kontrolle wurden noch Scans ohne die Präsenz der Lieblingsspeisen gemacht. Die Versuchspersonen wurden dann nach ihrer Familiengenealogie befragt und es wurden ihnen Gegenstände gezeigt, die nichts mit Lebensmitteln zu tun haben.

Nach den Ergebnissen der Scans wird der Metabolismus des gesamten Gehirns angeregt, wenn den hungrigen Versuchspersonen ihr Lieblingsessen vorgeführt wird. Eine Ausnahme stellte allerdings der okzipitale Kortex dar. Man "isst" danach, zumindest wenn der Hunger groß ist, weniger mit den Augen. Am stärksten aktiv waren Areale im temporalen, orbitofrontalen und insulären Kortex. Besonders stark verbunden mit berichtetem Hungergefühl beim Anblick des Essens war der rechte orbitofrontale Kortex. In dieser Region befindet sich ein Dopamin-System, das bei Sucht, Belohnung/Lust und Motivation aktiv ist. Gene-Jack Wang, ein Autor der Studie, die frühere Untersuchungen erweitert und in der Zeitschrift NeuroImage veröffentlicht wurde, sieht durch deren Befund die Annahme bestätigt, dass auch Lebensmittel bzw. deren Präsentation Suchtverhalten auslösen können:

Diese Ergebnisse könnten die zerstörerischen Folgen der konstanten Aussetzung an Lebensmittelstimuli wie in der Werbung, durch Candy Machines, Sendungen über das Essen oder Ausstellen von Lebensmitteln in Geschäften sein. Die hohe Erregbarkeit dieser Hirnregion durch Essensstimuli trägt, verbunden mit der riesigen Zahl und Unterschiedlichkeit dieser Stimuli in der Lebenswelt, zur Epidemie der Fettleibigkeit in diesem land bei.

Die "Hot Spots" in den Gehirnen fetter Menschen beim Anblick von Essen: die somatosensorischen Areale für Mund, Lippen und Zunge. Bild: Gene-Jack Wang

Das werden insbesondere die Betreiber von Fastfood-Ketten nicht gerne hören, die mittlerweile bereits zum Ziel von Klagen fetter Menschen geworden sind (Massenverfettungswaffen). Und angesichts der zunehmend verfettenden Bevölkerung könnten sich die Diätspezialisten (Fremde fette Welt) dann in Suchtexperten verwandeln. Gleichzeitig wären die Betroffenen entlastet, auch wenn das eigene Gehirn der eigentlich Schuldige ist (Die Mitglieder der Informationsgesellschaft sterben zunehmend an Verfettung). In einer Untersuchung aus dem Jahr 2002, bei der die Gehirne von fetten Menschen mit PET gescannt wurden, hatte Gene-Jack Wang herausgefunden, dass somatosensorische Areale, zuständig für Empfindungen von Mund, Zunge und Lippen, bei diesen stärker auf die "belohnenden Eigenschaften von Essen" reagieren als bei normalgewichtigen Menschen.

Aber die Aussagen der neurobiologischen "Bildwissenschaft", die im Augenblick selbst fast rauschhaft alle Reaktionen des Gehirns auf bestimmte Reize bildlich erfassen und im Gehirn lokalisieren will, sind mit Vorsicht zu genießen. So wurden in dieser Studie wie üblich nur wenige Versuchspersonen untersucht, es gab keine wirkliche Kontrollgruppe, auch fehlen Befunde von nicht hungrigen Menschen oder über die Präsentation von Lebensmitteln ganz allgemein. Dass hungrige "Gehirne" Essen, noch dazu ihr Lieblingsessen, ähnlich gerne haben mögen wie süchtige Gehirne etwa Kokain, sagt schließlich noch nichts darüber aus, ob in beiden Fällen auch eine Sucht vorliegt, wenn man Essen nicht auch als Sucht begreifen will, weil es ja auch stets wiederkehrt.

Ob bei den Internetsüchtigen auch beim Anblick eines vernetzten Computers oder erst beim Anblick bestimmter Anwendungen der orbitofrontale Kortex in Erregung gerät, wäre interessant zu wissen. Aber der orbitofrontale Kortex wird auch aktiv, wenn sein Träger Lust empfindet und das Lustzentrum ihm nahelegt, ein Erlebnis in Zukunft nicht zu vermeiden, sondern durch Aufsuchen oder Einnehmen des Reizes wieder herzustellen. Würde man also eine Gefährdungslage nach puritanischem Geist wirklich ausschließen wollen, so müssten nicht Werbung, Schaufenster, Fernsehen oder Bilder überhaupt verbannt werden, man könnte das Lustareal einfach herausschneiden, wenn man es einmal genau identifiziert hat. Auch der "Krieg gegen die Drogen" würde dann hinfällig, weil diese keine Chancen mehr hätten. Fehlt nur noch, dass auch die Terrorismusgefährdeten unters PET gelegt werden, um das verantwortliche Areal zu finden. Aber daran wurde auch schon gedacht: Systeme zum Erkennen der bösen Absichten von Terroristen oder Technischer Zauber zur Abwehr des Bösen.