Estonia-Unglück: War es ein (schwedisches) U-Boot?
Aufnahmen von der gesunkenen Fähre "Estonia" schlagen seit Montag Wellen in Schweden und Estland
Mittels eines Tauchroboters im Auftrag des Dokumentarfilmunternehmens "Discovery" wurde ein Loch in der Schiffswand entdeckt, das nach Ansicht eines norwegischen Marine-Experten vom Rammstoß eines U-Bootes stammen müsste. Bislang galt die instabile Bugklappe als offizielle Unfallursache des am 28. September 1994 gesunkenen Schiffs.
Der estnische Regierungschef Jüri Rattas fand sich darum bei Schwedens Premierminister Stefan Löfven am Dienstag zu einem "Blitzbesuch" ein, wie es die schwedischen Medien formulierten. Rattas forderte bereits am Montag eine weitere Unterwasser-Untersuchung des Wracks auf 85 Metern Tiefe, um den Hergang des Unglücks festzustellen.
Es war die größte Katastrophe der zivilen Schifffahrt in Europa nach 1945. Die Fähre unter estnischer Flagge von Tallin nach Stockholm sank in einer stürmischen Nacht innerhalb von einer halben Stunde. Dabei starben 852 Personen, da viele es gar nicht schafften, das Schiff zu verlassen, andere ertranken in dem 13 Grad kalten Wasser, nur 137 Personen überlebten.
Der 1997 publizierte Untersuchungsbericht von Schweden, Estland und Finnland erklärte die zu schwach befestigte Bugklappe zur Hauptursache der Katastrophe. Sie soll weggebrochen sein, wodurch Wasser ins Schiff kam und schließlich auch die hochgeklappte Fahrzeugrampe abgerissen wurde. Auch in einer ersten Erklärung der drei Regierungschefs vom Montag wurde betont, dass man sich weiterhin auf das Ergebnis verlasse.
Damals wurde die Werft im niedersächsischen Papenburg als Schuldige ausgemacht, die 1980 das 157 Meter lange Schiff baute. Eine entsprechende Millionen-Klage der Hinterbliebenen wurde jedoch 2019 von einem französischem Gericht und einer französischen Prüfstelle abgewiesen.
Nach Aussage von Jørgen Amdahl, Professor für Marinetechnologie im norwegischen Trondheim, sei jedoch ein Objekt mit einer Kraft von 500 bis 600 Tonnen von außen in die Schiffsseite gestoßen, die ein Riss von vier Metern Höhe sowie über einen Meter Breite verursachte, erfährt man in der Dokumentation, die am Montag vom Discovery-Kanal dplay ausgestrahlt wurde.
Ein Militärexperte schloss eine Explosion aus. Da kein Schiff kurz vor dem Sinken der Fähre gesehen wurde, bleibe nach Amdahl als letzte Erklärung ein U-Boot.
Einer der Überlebenden, der heutige estnische Generalkonsul in St. Petersburg Carl Eric Reintamm, erinnerte sich an ein Krachen, auch habe er ein Objekt unter Wasser gesehen. Der estnische Schiffsbauingenieur Märten Vaikma verweist hingegen auf die Möglichkeit, dass ein großer Stein auf dem Meeresgrund beim Sinken das Loch verursacht haben könnte. Der norwegische Experte schließt dies aus, da sich in der Region keine Steine auf dem Meerboden befinden würden.
Die U-Boot-Theorie würde besser erklären, warum das große Schiff so schnell gesunken war; ein Rätsel, das Wissenschaftler und Hinterbliebene umtreibt. Vor allem, da sich auch rasch Wasser im unteren Schiffsraum befunden haben soll.
Schwedens mangelnder Aufklärungswille
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Mit der Dokumentation kommt ein alter Konflikt wieder auf. Schweden, das die meisten Opfer zu beklagen hat, wurde von Wissenschaftlern wie Hinterbliebenen vorgeworfen, bislang wenig an einer Aufklärung interessiert zu sein. Ursprünglich sollte ein Betonsarkophag über das Schiff gelegt werden, was durch Proteste gestoppt wurde. Obwohl in internationalen Gewässern liegend, wurde schwedischen Staatsbürgern per Gesetz verboten, sich dem Wrack zu nähern - offiziell, um die Totenruhe nicht zu stören.
Dafür hatte und hat Magnus Kurm, vormals Generalstaatsanwalt in Estland und Leiter der Untersuchungskommission 2005 bis 2009, kein Verständnis. Der Jurist misstraut Schweden und wirft den Behörden des skandinavischen Landes vor, sie hätten von der Öffnung in der Schiffswand von Anfang gewusst. "Schweden log uns direkt ins Gesicht", behauptet Kurm. Eine weitere Untersuchung müsse vollkommen transparent ablaufen, so dass den Menschen in Estland und Schweden nichts vorenthalten werden könne.
Der Este glaubt auch, dass das U-Boot schwedischer Herkunft gewesen sei, da es ein schwedisches Marine-Manöver in der Nähe gegeben habe.
Gegenüber der Zeitung Postimees spielte Kurm noch darauf an, dass das U-Boot die "Estonia" begleitet habe, da sie eine "sensible Fracht" geladen habe. In den Nuller Jahren gab es das Eingeständnis von schwedischen Behörden, dass es in den Neunzigern Waffentransporte aus der ehemaligen Sowjetrepublik Estland nach Schweden mittels ziviler Fahrzeuge gegeben hatte. Dies räumte auch Trivimi Velliste ein, zur Zeit der Katastrophe Außenminister Estlands. Auch der damalige Premierminister Mart Laar soll in die Deals involviert gewesen sein.
Zur Estonia gab es neben dem Waffenhandel auch die Theorie eines Heroin-Deals sowie Geheimdienst- und Mafia-Verstrickungen.
Anders Björck, zum Zeitpunkt der Katastrophe schwedischer Verteidigungsminister, wies die Hypothese eines schwedischen U-Bootes zurück - dies hätte einer "groß angelegten Vertuschungsoperation" bedurft, um einen solchen Unfall geheim zu halten. Zudem müsste der Schaden an der Schiffswand beim Rammen eines U-Bootes größer sein. Diese Meinung vertritt auch Nils Bruzelius, ein pensionierter U-Boot-Kapitän der schwedischen Marine. Der Ingenieur schließt ein U-Boot aus, ohne dies weiter zu erklären.
Präziser wird der Kommandeur der estnischen Marine, Jüri Saska. Ein U-Boot hätte nach einer solchen Kollision kaum unbemerkt entkommen können, sagte er. Zudem sei es für U-Boote sehr ungünstig bei Sturm und zehn Meter hohen Wellen an der Oberfläche zu schwimmen. Es müsste sich um einen Notfall gehandelt haben und dann hätte ein Notruf erfolgt haben müssen.
Von schwedischer Seite gibt es bislang kein Signal, eine Untersuchung unter Wasser zu veranlassen. Der schwedische Innenminister Mikael Damberg betonte, dass es wichtig sei, "zuerst alle Fakten an Bord zu haben", bevor gehandelt werde. Schweden werde sich mit Finnland und Estland über das weitere Vorgehen beraten und warnte vor "wilden Spekulationen".
Nach Angaben von dplay habe die schwedische Regierung kein Interesse gezeigt, Auszüge des Dokumentarfilms zu sehen, ganz im Gegensatz zur estnischen Regierung. Bislang wird noch nicht mit dem Finger auf Russland gezeigt: Schweden: Steckt hinter der verdächtigen "Unterwasseroperation" Russland?
In einem offenen Brief haben nun Angehörige, Politiker und Journalisten die schwedische Regierung zum Handeln aufgefordert und darauf verwiesen, dass es schon lange die Theorie eines Lecks in der Seitenwand des Schiffes gegeben habe.