EuGH-Urteil: "Komplette Niederlage" für Spanien
Europäischer Haftbefehl und Auslieferung von katalanischen Exilanten: Wie die Regierung in Madrid mit ihren politischen Wünschen am Europäischen Gerichtshof scheiterte.
Liest man in der deutschsprachigen Medienlandschaft Berichte zu einer aktuellen Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH), bekommt man den Eindruck, Spanien habe einen wesentlichen Schritt in Luxemburg vorwärtsgemacht.
Eine vollstreckende Justizbehörde darf die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls grundsätzlich nicht unter Berufung auf die fehlende Zuständigkeit des Gerichts ablehnen, das über die gesuchte Person im Ausstellungsmitgliedstaat Recht zu sprechen hat.
Diese Behörde muss die Vollstreckung allerdings ablehnen, wenn sie systemische oder allgemeine Mängel, die das Justizsystems dieses Mitgliedstaats beeinträchtigen, sowie die offensichtliche Unzuständigkeit des Gerichts, das über die gesuchte Person in diesem Mitgliedstaat Recht zu sprechen hat, feststellt.
Aus dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-158/21
Von der taz bis zur Faz ist man sich einig, dass Spanien seinem Anliegen, die Auslieferung des katalanischen Exilpräsidenten Carles Puigdemont zu erreichen, damit ein großes Stück nähergekommen ist.
So zitiert die taz spanische Medien und spricht im Titel vom "Teilerfolg für Spanien", während das konservative Blatt aus Frankfurt einen "Etappensieg" für das Land ausmacht.
In Deutschland hat sich ein Kenner der Lage vor Ort mit dem Urteil genauer auseinandergesetzt. So kommt Axel Schönberger zur Einschätzung, dass auch in Zukunft "Europäische Haftbefehle gegen die katalanischen Politiker nicht durchsetzbar" sein werden.
Anwalt Gonzalo Boye: "Klare Antwort aus Luxemburg"
Er liegt damit nah an der Auslegung des Anwaltes Gonzalo Boye, der Puigdemont bisher sehr erfolgreich verteidigt hat. Gegenüber Telepolis spricht Boye von einer "kompletten Niederlage" Spaniens und des Richters Pablo Llarena, der eine "klare Antwort" aus Luxemburg erhalten habe.
Llarena, Richter des Obersten Gerichtshofs in Spanien, hatte sich in einem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gewandt.
Das Gericht hat festgestellt, dass ein Staat der Europäischen Union normalerweise einen Europäischen Haftbefehl umsetzen muss. Unter anderem auf Basis dieser Feststellung kommen taz und Faz zur fast gleichlautenden Aussage, der EuGH habe Möglichkeiten eines EU-Mitgliedsstaats "eingeschränkt", um die Vollstreckung eines Auslieferungsantrags eines anderen Mitgliedsstaats "zu verweigern".
Das Grundrecht
Tatsächlich kann man die Entscheidung aber genau andersherum lesen. So wurden die automatischen Auslieferungen eingeschränkt, die über diesen Haftbefehl laufen und Kriterien definiert. Dem Autor dieses Beitrages drängt sich der Eindruck auf, dass das Urteil, das auch in deutscher Sprache veröffentlicht wurde, von den Journalisten der beiden großen deutschen Zeitungen nicht gelesen wurde.
Im Urteil wird ausgeführt, dass die Justizbehörde eines Landes die Vollstreckung des Haftbefehls ablehnen kann, wenn diese "zu einer Verletzung eines im Unionsrecht niedergelegten Grundrechts führen würde".
Um die Vollstreckung des Haftbefehls zu verweigern, muss die "auszuliefernde Person glaubhaft machen", dass sie zu einer "zu identifizierenden Personengruppe" gehört, bei der eine "echte Gefahr der Verletzung des von Art. 47 Abs. 2 der Charta gewährleisteten Grundrechts auf ein faires Verfahren" gegeben ist, führen die Richter der Großen Kammer aus.
Der Fall Lluis Puig
Das ist genau die Argumentation der belgischen Richter im Fall von Lluis Puig, um den es in dem Vorabentscheidungsersuchen ging. Belgien hatte Spanien in seinem Präzedenzfall für Puigdemont und andere vorgeworfen, das Land habe zentrale Rechtsgrundsätze missachtet. Die belgische Justiz bezweifelte sogar, ob Puig in Spanien ein "faires Verfahren" bekommen würde.
Dass auch der EuGH auf die Entscheidungen der UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen verweist, welche die Freilassung der Katalanen von Spanien gefordert hatte, ist auch ein deutlicher Hinweis.
Der Gerichtshof in Luxemburg stellt zudem auf die kürzliche Entscheidung des UN-Menschenrechtsrats ab, wonach Spanien im Fall der Katalanen gegen Grundrechte verstoßen hat.
Genau damit ist längst die Personengruppe definiert, bei denen infrage steht, ob Spanien ihre Grundrechte garantiert und damit stützt die EuGH-Entscheidung auch die Ablehnung der Auslieferung von Puig an Spanien. Aber der EuGH steigt noch tiefer in die Materie ein. Er verweist auf ein "auf Gesetz beruhendes Gericht".
Der Gerichtshof kommt zu dem für Spanien vernichtenden Ergebnis, dass der Oberste Gerichtshof von Llarena in Madrid, der die Haftbefehle ausgestellt hat und harsche Urteile gegen Puigdemonts Mitstreiter von bis zu 13 Jahren wegen angeblichem Aufruhr ausgesprochen hat, eben kein solches Gericht ist.
"Insbesondere kann ein nationaler Oberster Gerichtshof, der in erster und letzter Instanz in einem Strafverfahren entscheidet, ohne über eine ausdrückliche Rechtsgrundlage zu verfügen, die ihm die Zuständigkeit verleiht, über sämtliche Angeklagte zu urteilen, nicht als ein auf Gesetz beruhendes Gericht angesehen werden", führt der EuGH im Absatz 100 klar und deutlich aus.
Vorentscheidung
Das kann als Vorentscheidung über die Urteile vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gesehen werden, vor den die in Spanien verurteilten Politiker und Aktivisten gezogen sind.
Telepolis hatte immer wieder kritisiert, dass in Spanien die Grundrechte der Katalanen ausgehebelt wurden. So hätte das zunächst zuständige Gericht der Oberste Gerichtshof in Katalonien sein müssen, womit auch die Möglichkeit einer zweiten Instanz bestanden hätte. Die Entscheidung des EuGH ist auch nur folgerichtig.
Denn der hatte auch schon geurteilt, dass der Chef der Republikanischen Linken (ERC) illegal von Spanien in Haft gehalten wurde, obwohl er hätte mit Immunität ins Europaparlament einziehen müssen.
Der Puigdemont-Verteidiger Boye verweist ebenfalls auf Absatz 100 und stellt fest, dass mit der Entscheidung Spanien auch vor dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg verlieren werde. Er hatte immer wieder erklärt, dass Spanien nur noch auswählen könnte, in wie vielen Zügen man vor internationalen Gerichtshöfen schachmatt gesetzt werden würde.
"Spanien sieht zwar so aus wie eine Demokratie, es ist aber keine echte Demokratie", erklärte er im Interview mit dem Autor.
Gegenüber Telepolis ist Boye überzeugt davon, dass der EuGH mit der Entscheidung die Rechte von "nationalen Minderheiten" über die Definition von "objektiv identifizierbaren Gruppen" gestärkt hat.
Er sieht in der Entscheidung einen "Sprung nach vorne" in Bezug auf den Schutz von Grundrechten in Bezug auf den Europäischen Haftbefehl und die Auslieferungen, die auf dessen Basis vorgenommen werden.