Wahlurnen friedlich aufzustellen, ist in Spanien nun "Aufruhr"
Die Anführer der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung wurden zu Haftstrafen von bis zu 13 Jahren verurteilt
Schon am Samstag wurde zum spanischen Nationalfeiertag aus dem spanischen Obersten Gerichtshof in Madrid das Urteil gegen die Anführer der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung durchgestochen. Damit wurde die nächste Unregelmäßigkeit in einem von Beginn an von Unregelmäßigkeiten geplagten Prozess gegen die 12 Angeklagten manifest. Man hat sich beeilt, um dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zuvorzukommen, der heute darüber verhandelt, ob der zentral verurteilte Oriol Junqueras real Immunität genießt und im Europaparlament sitzen müsste.
Real wurde das Urteil am heutigen Montag den Betroffenen erst verkündet. In ganz Katalonien wurde mit Proteste begonnen. Es wird nun erwartet, wie im Telepolis-Interview angekündigt, dass Katalonien nun ähnliche Verhältnisse wie in Hongkong erleben wird, allerdings friedlich durch massiven zivilen Ungehorsam, wofür die Bewegung seit vielen Jahren steht. Nach einer friedlichen Besetzung des zentralen Bahnhofs in Barcelona schon am Sonntag, werden die Bahnhöfe und Flughäfen besonders von Sicherheitskräften geschützt, um Besetzungen wie in Hongkong zu verhindern.
Wirklich überrascht kann man von den harten Verurteilungen von bis zu 13 Jahren Haft nicht sein, wenn man sich etwas mit der spanischen Justiz auseinandergesetzt hat. Wie auch in anderen Fällen war das Drehbuch nach politischen Vorgaben geschrieben worden. Schon im Februar, bevor der Prozess gegen die 12 katalanischen Regierungsmitglieder und Aktivisten überhaupt begonnen hatte, stand im Prinzip fest, dass man sie "nur" wegen Aufruhr verurteilen würde.
Das hatte Telepolis auch genauso angekündigt: "Doch schon jetzt ist klar, dass es Rebellion nicht sein wird. Die sieben Richter werden abspecken, um ein einstimmiges Urteil wegen Aufruhr zu bekommen." Dass die Rebellion eine noch drastischere Erfindung der "unabhängigen Justiz" war, hatten 120 spanische Juraprofessoren schon vor Beginn der Verhandlung deutlich gemacht. "Rebellion und Aufstand werden banalisiert", erklärten sie.
Verurteilt wegen Aufruhr und Veruntreuung
Obwohl im Verfahren kein Hinweis auf eine Rebellion oder einen Aufruhr bewiesen werden konnte, erging das Urteil genauso, wie es Telepolis vorhergesagt hat. Der Schauprozess, wie ihn auch hochrangige spanische Juristen nannten, wurde so geführt, um zu diesem Ergebnis zu kommen. Der Chef der Republikanischen Linken Kataloniens (ERC) Oriol Junqueras erhält als ehemaliger Vize-Ministerpräsident die Höchststrafe von 13 Jahren wegen Aufruhr und Veruntreuung, da man den ehemaligen Regierungschef Carles Puigdemont nicht ausgeliefert bekam.
Angeblich sollen auch Steuergelder für das Referendum veruntreut worden sein. Allerdings konnte auch das in dem Verfahren nicht mit Kontobewegungen oder Rechnungen bewiesen werden. So war zum Beispiel die Frage im Prozess, ob Unkosten für Beobachter wie dem ehemaligen SPD-Parlamentarier Felix Grünberg von der Regionalregierung übernommen wurden. Doch auch das hat der im Zeugenstand zurückgewiesen. "Ich habe die Kosten für die Reise und meinen Aufenthalt selber bezahlt", bezeugte er. Und man muss davon ausgehen, dass das Gericht ihm das abgenommen hat, denn ein Verfahren wegen Falschaussage wurde nicht eingeleitet.
Andere ehemalige inhaftierte Minister der katalanischen Regierung bekommen 12 oder 10,5 Jahre wegen Aufruhr und Veruntreuung. Und eigentlich noch dramatischer, wenn dies überhaupt möglich ist, ist der Fall der ehemaligen Parlamentspräsidentin Carme Forcadell. Es war klar, dass man an ihr ein Exempel statuieren würde, da sie zuvor als Präsidentin der großen zivilgesellschaftlichen Organisation Katalanischer Nationalkongress (ANC) federführend hinter den riesigen Mobilisierungen stand. Sie wurde zur Staatsfeindin Nummer 1 aufgebaut und erhält 11,5 Jahre allein für einen angeblichen Aufruhr. Da sie mit Geldflüssen gar nichts zu tun haben konnte, wäre eine Verurteilung wegen Veruntreuung bei ihr noch absurder geworden. Sie wird letztlich für ihre politische Arbeit verurteilt. Als Vorwand wird genommen, dass sie im Parlament ihren Job gemacht und Debatten zugelassen zu hat (Interview mit Forcadell).
Es sagt sehr viel über die spanischen Demokratievorstellungen aus, dass ein politisiertes Verfassungsgericht, das stets Gewehr bei Fuß für die Regierung stand und deren Willen stets umsetzte, sogar Parlamentsdebatten verboten hat.
Ihr Nachfolger an der ANC-Spitze Jordi Sànchez wird ebenfalls mit dem Präsident der Kulturorganisation Jordi Cuixart zu 9 Jahren verurteilt. Sie waren die ersten politischen Gefangenen, mit denen Spanien schon vor der Ausrufung der Unabhängigkeit auf weitere Zuspitzung gesetzt und eine Warnung ausgesprochen hatte. Zu unterstreichen ist in allen Fällen, dass man für einen Aufruhr eine massive "tumultartige Gewalt" benötigt. Und wenn im Prozess etwas klar wurde, dann war es, dass es die nur von Seiten der spanischen Sicherheitskräfte am Referendumstag in einer "gut organisierten militärähnlichen Operation" gab.
Das haben auch internationale Beobachter bescheinigt, auch der Autor dieser Zeilen konnte dies vor Ort feststellen. Wo keine Guardia Civil oder Nationalpolizei auftauchte, blieb es absolut friedlich. Im Verfahren konnte die Anklage denn auch kein einziges Video beibringen, um die angebliche Gewalt von "Menschenmauern" zu beweisen, die sich auf die Sicherheitskräfte geworfen hatten. Die Verteidigung konnte aber hunderte Videos beibringen, die das Gegenteil zeigen.
Gerichte im Ausland entschieden anders als das spanische Gericht
Immer wieder haben alle Verurteilten zur totalen Gewaltfreiheit aufgerufen. Maskierte Gewalttäter sollten "isoliert" werden, hatte Cuixart unmissverständlich gefordert und auch das konnte der Autor feststellen. Somit sollte die Infiltration verhindert werden. An Gerichten in der Schweiz, Großbritannien, Belgien und Deutschland wurde das auch entsprechend gewürdigt. Deshalb weigerte sich zum Beispiel das Oberlandesgericht in Schleswig, den angeblichen Anführer einer an den Haaren herbeigezogenen "Rebellion" (womit ein von Militärs angeführter bewaffneter Aufstand beschrieben wird) an Spanien auszuliefern. Mit Blick auf das Urteil in Spanien ist auch bedeutend, dass die unabhängigen Richter auch das Auslieferungsgesuch wegen Aufruhr im Fall des ehemaligen Regierungschefs Carles Puigdemont verworfen haben.
Rebellion sei von "vorneherein nicht zulässig", hatten die deutschen Richter sehr schnell klargestellt und damit das gesamte spanische Konstrukt demontiert, mit denen die Katalanen bis heute in Untersuchungshaft gehalten werden. Über diesen absurden Vorwurf wurde das Verfahren auch von einem ordentlichen Gericht in Barcelona an den Obersten Gerichtshof in Madrid gezogen. Und das kontrolliert die spanische Politik, wie der Sprecher der rechten Volkspartei (PP) herausposaunt hatte. Da sofort am Obersten Gerichtshof in Madrid verhandelt wurde, werden Möglichkeiten von Berufung und Revision fast unmöglich. Das kritisiert auch der Professor für Verfassungsrecht Joaquín Urias, dass es "die erste und einzige Instanz" ist. Der Andalusier spricht auch an, dass kein Einspruch möglich ist und der Gerichtspräsident eigentlich nicht zuständig war.
Doch zurück zum Urteil der deutschen Richter, die auch den Vorwurf der Aufruhr mit klaren Worten und Argumenten im Fall des exilierten Puigdemont abgelehnt haben. "Die dem ehemaligen katalanischen Regierungspräsidenten vorgeworfenen Handlungen erfüllten weder den deutschen Straftatbestand des Hochverrats (§ 81 Strafgesetzbuch) noch den des Landfriedensbruchs (§ 125 Strafgesetzbuch). Ein Ausmaß an Gewalt, wie es die Vorschrift des Hochverrats vorsehe, sei durch die Auseinandersetzungen in Spanien nicht erreicht worden." Eine "Strafbarkeit wegen Landfriedensbruchs" scheide auch deshalb aus, weil es Puigdemont "lediglich um die "Durchführung des Referendums gegangen" sei. Er sei kein "geistiger Anführer" von Gewalttätigkeiten gewesen, hieß im Urteil, das dem spanischen diametral entgegensteht.
Und so sahen das ähnlich Gerichte in halb Europa. Die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Verhaftungen hat zudem die sofortige Freilassung der nun Verurteilten gefordert. Die politischen Gefangenen seien "willkürlich" inhaftiert worden, womit unter anderem ihre Grundrechte auf "Meinungs- und Versammlungsfreiheit" verletzt wurden. Die UN-Experten fordern nicht nur die Freilassung, sondern auch, dass Maßnahmen gegen diejenigen ergriffen werden, die wie die Richter am Obersten Gerichtshof für deren Lage verantwortlich sind.
Das extrem widersprüchliche Urteil demontiert auf mehr als 400 Seiten eigentlich selbst auch den Vorwurf des Aufruhrs. Nach Artikel 544 des Strafgesetzbuchs macht sich des Aufruhrs schuldig, wer "sich öffentlich und tumultartig mit Gewalt oder außerhalb legaler Wege" erhebt", um die "Durchsetzung der Gesetze" zu verhindern. Doch im Urteil wird festgestellt, dass allein mit der Ankündigung, Katalonien unter die Zwangsverwaltung durch den Paragraphen 155 zu stellen, "das Vorhaben durch die schlichte Veröffentlichung im Gesetzesblatt beendet" wurde. Einige gewaltsame Vorgänge, von wem auch immer ausgeführt, werden als "absolut unzureichend" bezeichnet, um die "Unabhängigkeit des Territoriums und die Aufhebung der Verfassung" durchzusetzen. Der Gerichtshof stellt fest, dass ein Urteil des Verfassungsgerichts ausgereicht habe, um der Regionalregierung die Instrumente zur Umsetzung ihres Vorhabens zu nehmen. Zudem wird unterstrichen, dass die Zwangsverwaltung in "Normalität" umgesetzt wurde.
Katalonienfrage erschwert Regierungsbildung
Eines ist klar, die zeitweise gespaltene Unabhängigkeitsbewegung wird nun durch diese Urteile erneut zusammengeschweißt. Sie befand sich ohnehin längst wieder auf Einheitskurs, da auch der spanische Sozialdemokrat Pedro Sánchez keinerlei Dialogbereitschaft gezeigt hatte, wie ein Führer der ERC im Telepolis-Gespräch eingestehen musste. Auch die ERC, die Sánchez besonders weit entgegen gekommen war, ihm sogar die Stimmen schenken wollte, um ihn erneut zum Präsidenten zu machen, setzt nun auf zivilen Ungehorsam. So ist klar, dass Spanien nun nicht gerade stabiler wird, das sich ohnehin unfähig zur Regierungsbildung zeigt. Am 10. November muss zum zweiten Mal in diesem Jahr und zum vierten Mal in nur vier Jahren gewählt werden.
Der zentrale Grund dafür ist im Umgang mit Katalonien und der Dialogverweigerung Spaniens zu sehen, um eine demokratische Lösung über ein Referendum nach schottischem Vorbild zu vereinbaren. Eine andere Lösung gibt es nicht. Das Problem, das sich immer weiter zuspitzt, mit polizeilicher und juristischer Repression zu lösen, ist unmöglich. Das haben auch schon französische Parlamentarier festgestellt, die einen Dialog und eine demokratische Lösung des Konflikts fordern.
Sich in diesen Tagen nach Katalonien zu begeben, sollte man eher vermeiden, wenn man sich nicht an den Protesten beteiligen will. Die Besetzung des Bahnhofs gestern war nur ein kleiner Anfang massiver Proteste. Überall im Land wird nun schon demonstriert. Es werden sich fünf Marschsäulen aus dem ganzen Land über jeweils 100 Kilometer auf den Weg nach Barcelona machen, womit für Verkehrschaos gesorgt ist. Am Freitag soll es eine riesige Demonstration in der katalanischen Metropole geben, wenn die Marschierer eintreffen. Mit einem neuen Generalstreik ist zu rechnen. Die Schüler und Studenten haben schon einen dreitägigen Streik angesetzt.
Es gibt riesige Staus, da sich die Leute aus Barcelona auf den Weg (15 Kilometer) zu Fuß zum Flughafen gemacht haben. Die Zugverbindungen wurden gesperrt, um das zu verhindern, die Schnellzugstrecke bei Girona ist von Demonstranten unterbrochen. Der umstrittene Richter Pablo Llarena hat die Europäischen Haftbefehle gegen Puigdemont und andere Exilierte zum dritten Mal reaktiviert.
Einer ohnehin abstürzenden spanischen Wirtschaft, die noch immer unter einer hohen Arbeitslosigkeit von 14% leidet, wird das sicher nicht auf die Beine helfen, wenn das Gebiet bestreikt wird, das überdurchschnittlich zum Bruttoinlandsprodukt und noch deutlicher zur Staatsfinanzierung beiträgt.