Europa, eine "Utopie"?
Zur Renaissance eines politischen Grundbegriffs
Wie geht es mit Europa nach dem Brexit weiter? Serienweise bearbeiten derzeit Beobachter der politischen Gegenwart die Frage, inwiefern die Europäische Union nach dem bekannten Ausgang des britischen Referendums dieselbe bleiben kann oder sich verändern muss.
Die politischen Temperamente liegen dabei weit auseinander: Einerseits ermutigen manche Stimmen trotz vieler Krisenherde zu mehr Optimismus und versuchen diesen mit den Alltagsevidenzen, insbesondere der jungen Generation, zu verknüpfen. Dem folgt andererseits entweder der Hinweis, man möge dabei bitte nicht Politkitsch abgleiten, oder aber die entnervte Auskunft, das politische Europa sei prinzipiell nicht pathostauglich.
Debatten über die Zukunft Europas gibt es natürlich nicht erst seit dem Brexit, wenngleich sie sich (zumindest in Deutschland) seit dem Juni 2016 enorm intensiviert haben. Schon die nicht enden wollende Eurokrise führte und führt auf die Suche nach der gelingenden Verknüpfung von adäquater Ursachenanalyse und konstruktivem Zukunftsentwurf. Jenseits der sachlichen Differenzen fällt auf, dass stets mit verhandelt wird, wie viel geistigen Spielraum man sich selbst oder dem politischen Gegner in der Reflexion der akuten politischen Krisen eigentlich zugestehen sollte. In diesen laufenden Debatten gewinnt folglich ein sehr europäischer Begriff an Prominenz: die Utopie.
Der Begriff der Utopie hat eine lange und verwickelte Geschichte - 2016 feiert man schließlich das Erscheinen von Thomas Morus’ "Utopia" vor genau 500 Jahren.1 Doch nicht nur als Label eines literarischen Genres, sondern auch als Kampfbegriff in politischen Arenen wurde die Utopie in Anspruch genommen, um den politischen Gegner wahlweise als weltfremden Träumer oder Vordenker des Totalitarismus zu brandmarken.2
Vielzählig waren dann gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts die Diagnosen vom Niedergang dieses politischen Grundbegriffs3, wobei insbesondere die Habermas'sche Wendung von der "Erschöpfung der utopischen Energien" zum geflügelten Wort innerhalb der sozialwissenschaftlichen Debatte geworden ist.4
Dem gegenüber steht eine Renaissance des Utopiebegriffs am Anfang des 21. Jahrhunderts, nicht nur in Bezug auf primär soziotechnische Zukunftsvisionen5, sondern auch in der politischen Öffentlichkeit nach der globalen Finanzkrise.6
Vor diesem Hintergrund sind auch die vier im Folgenden diskutierten Publikationen zu sehen, welche sich die politische Zukunft Europas zum Gegenstand machen und ihre Überlegungen über den Utopiebegriff entfalten: Oskar Negts "Gesellschaftsentwurf Europa" (2012), Markus Kochs "Das utopische Europa" (2014), Thilo Sarrazins "Wunschdenken" (2016) und Ulrike Guérots "Warum Europa eine Republik werden muss" (2016). Diese Schriften sind keine Fachliteratur, sondern sie bilden verschiedene Punkte im Spektrum von politischem Kommentar bis akademischer Forschung ab. Sie wenden sich nicht (oder nicht nur) an ein fachwissenschaftliches Publikum, sondern an eine breitere politische Öffentlichkeit. Sie vermessen auf unterschiedliche Weise den Spielraum politischer Phantasie, weshalb ihre Vorstellung von der politischen Zukunft Europas mit dem jeweiligen Utopiebegriff variiert.