Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte weist türkische Beschwerden ab
Zehntausende von Willkür Betroffene sollen erst den nationalen Rechtsweg ausschöpfen
Am Mittwochmorgen holten die türkischen Behörden zu einem neuen Angriff auf die Presse aus. Es ergingen Haftbefehle gegen 35 Journalisten, unter ihnen auch der leitende Online-Redakteur der regierungskritischen Tageszeitung BirGün, Burak Ekici. Außerdem ehemalige Mitarbeiter der inzwischen verbotenen Medien Zaman, Cihan und Samanyolu TV. Die Polizei stürmte und durchsuchte ihre Wohnungen in Istanbul, zehn der Betroffenen wurden bislang festgenommen.
Die Begründung, wie in zehntausenden anderen Fällen auch: Sie hätten die Messenger-App ByLock genutzt und würden daher als Gülen-Anhänger eingestuft. ByLock wurde von einem Gülen-nahen Unternehmen entwickelt und war bis Anfang 2016 weltweit frei erhältlich. Zuletzt wurden mehrfach auch Personen unter dem Vorwand festgenommen, sie hätten in Kontakt zu ByLock-Nutzern gestanden.
Allen ByLock-Kunden wird ohne nähere Beweisaufnahme Putschunterstützung vorgeworfen. Die App soll in der Türkei von rund 10.000, weltweit von mehr als 600.000 Menschen genutzt worden sein. Die Willkür bei diesen Festnahmen zog zuletzt immer weitere Kreise. Schon 2016 gab es in dem Zusammenhang die Festnahme eines Mannes, der gar kein Smartphone besaß, sondern nur ein gewöhnliches Handy, auf dem sich keine Apps installieren lassen. Am 8. August nahm die Polizei in Istanbul eine alte Frau fest, die einen Obststand betreibt.
Landesweit werden außerdem nach wie vor Personen festgenommen und inhaftiert, die ein T-Shirt mit dem Schriftzug "Hero" tragen - weil ein Putschverdächtiger solch ein Shirt trug, als er von Polizisten abgeführt wurde. Ein regierungsnahes Boulevardblatt listete kürzlich detailliert die Kleidermarken auf, die Angeklagte im Putschprozess tragen. Daraufhin forderte Erdogan, diese sollten in Zukunft einheitliche Overalls tragen, ähnlich denen, die man von Häftlingen aus Guantanamo kennt.
In der Regel bleiben die Betroffenen über Monate in Haft, ohne dass Anklage erhoben wird oder sie konkret erfahren, was man ihnen vorwirft. Die Anklageschriften enthalten, wenn sie dann gestellt werden, selten mehr als die ursprünglichen Vorwürfe: Nutzung einer App, Tragen eines T-Shirts. Wer über seine Anwälte Widerspruch einlegen lässt, wird von den Gerichten meist abgewiesen. Daher wenden sich die Inhaftierten zunehmend an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Doch dieser hat bislang keinen einzigen der Anträge angenommen. Das Argument: Die Betroffenen müssten zuerst den Rechtsweg innerhalb der Türkei ausschöpfen.
EGMR will sich nicht einmischen
Ein aktuelles Beispiel sind Nuriye Gülmen und Semih Özakca. Die beiden Akademiker waren im Zuge der Säuberungen entlassen worden und mit der Forderung, die Entlassung aufzuheben, in Ankara öffentlich in Hungerstreik getreten. Sie ernteten eine beachtliche Welle der Solidarität, bis sie vor rund drei Monaten verhaftet wurden.
Den Hungerstreik setzen sie seither fort, trotz der Aufforderung des Justizministers, ihn zu beenden. Zwischenzeitlich wurden sie gegen ihren Willen in ein Krankenhaus gebracht. Ihr Gesundheitszustand soll schlecht sein, es heißt, beide könnten nicht mehr laufen. Gülmen schrieb in einem Brief aus der Haft, jede Nacht käme mehrmals ein Wärter, um zu kontrollieren, ob sie noch am Leben sei. Die Anwälte der beiden versuchten mit Verweis auf deren Gesundheitszustand vor dem Europäischen Gericht für Menschenrechte (EGMR), die Freilassung zu erwirken. Doch das Gericht sah keinen Handlungsbedarf. Am 2. August, hieß es, die Haft stelle keine ernsthafte Bedrohung für das Leben der Gefangenen dar. Damit, so kommentierte Erk Acarer in der BirGün, seien den beiden alle Türen verschlossen.
Mehrere Demonstrationen für ihre Freilassung in Istanbul wurden von der Polizei mit Gewalt und weiteren Festnahmen niedergeschlagen, zuletzt wurde am Dienstag eine Gruppe von Demonstranten gewarnt, die Polizei werde eingreifen, sollten die Namen der Akademiker genannt werden.
Rund 17.000 Anträge gegen ihre Inhaftierung oder Entlassung haben türkische Bürger bereits beim EGMR gestellt. Bislang völlig erfolglos. Die Richter in Straßburg meinen, die Betroffenen müssten zuerst innerhalb der Türkei durch alle Instanzen gehen. Dass die meisten Verhaftungen und Entlassungen rechtlich substanzlos sind, zugleich aber keine freie und unabhängige Justiz mehr existiert, die dem Rechnung tragen könnte, wird einfach ignoriert.
Der EGMR verwies auch darauf, dass in der Türkei im Januar eine Kommission eingesetzt wurde, an die Entlassene sich zur Überprüfung sollen wenden können. Diese Kommission hat bislang noch nicht ihre Arbeit aufgenommen. Und da sie im Wesentlichen aus AKP-nahen Akteuren besteht, darf ihre Objektivität bezweifelt werden. Kritiker sehen in ihr eine Alibi-Einrichtung, deren Zweck es ist, den formalen Klageweg vor dem EGMR zu verhindern oder wenigstens hinauszuzögern. Der EGMR teilt diese Bedenken nicht und will erst abwarten, wie die Kommission arbeitet. Solange wird er keine Beschwerden aus der Türkei mehr annehmen.
Auch der seit Februar inhaftierte Welt-Korrespondent Deniz Yücel hat Beschwerde vor dem EGMR eingereicht. Die Bundesregierung und Justizminister Maas hatten in der Angelegenheit ihre Unterstützung zugesagt. Geschehen ist aber bislang nichts. Der EGMR hat lediglich eine Stellungnahme der türkischen Behörden zu seinem Fall angefordert.