Exklusiv: EU-Diplomaten sehen in Ukraine-Krieg "keinen Wendepunkt"
EU-Dokument bewertet ukrainischen Verteidigungskampf verhalten. Analyse deckt sich mit US-Geheimakten. Brüssel behält sich Ende der Militärhilfe vor.
Außen- und Sicherheitsexperten der EU sehen die ukrainische Armee im Kampf gegen die russischen Invasoren weiterhin in der Defensive. Das geht aus einem internen Konzeptpapier des Europäischen Auswärtigen Dienstes hervor, das Telepolis exklusiv vorliegt.
Das mehrseitige Dokument "zur Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte durch die Bereitstellung von Munition" geht von einem massiven Munitionsmangel der ukrainischen Artillerie aus. Diese Einschätzung deckt sich im Wesentlichen mit US-Geheimdokumenten, die kürzlich im Internet aufgetaucht sind.
Telepolis dokumentiert: Konzeptpapier des Europäischen Auswärtigen Dienstes zu Munitions- und Waffenlieferungen an die Ukraine (7 Bilder)
Die "erfolgreiche Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte", die Ende August 2022 an zwei Fronten begonnen worden war, sei "zwar ermutigend", aber "noch kein Wendepunkt", schreiben die EU-Experten in ihrer internen Analyse.
Auch angesichts der Mobilisierung in Russland, in deren Verlauf seit Ende September vergangenen Jahres rund 300.000 weitere Reservisten eingezogen worden sein sollen, sei "weitere militärische Hilfe der EU für die Ukraine dringend erforderlich".
Damit schätzen die Brüsseler Diplomaten nicht nur die Chancen der ukrainischen Streitkräfte im Kampf gegen die russischen Aggressoren geringer ein als öffentlich dargestellt. Der EU-Rat stellt der Ukraine auch eine Reihe von Bedingungen und knüpft künftige Militärhilfe an eine Ausstiegsklausel.
Die US-Tageszeitung Washington Post hatte kürzlich aus einem der geleakten Geheimdokumente zitiert, dem zufolge die US-Regierung von einer möglichen Frühjahrsoffensive der Ukraine keine größeren Erfolge im Abwehrkampf gegen Russland erwartet.
Die ukrainischen Militärs könnten die ursprünglichen Pläne zur Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete "weit verfehlen", heißt es in dem Papier, das die Zeitung am Dienstag veröffentlichte. Grund seien die Schwierigkeiten Kiews, Truppen, Munition und Ausrüstung aufzustocken. Zu dieser Einschätzung kommen auch die Autoren des EU-Dokuments, das Telepolis vorliegt.
Die geleakten US-Dokumente offenbarten zugleich Zweifel der Regierung von Präsident Joseph Biden am Fortgang des Krieges, so die Washington Post. Sie könnten daher Stimmen erstarken lassen, die von den USA und der Nato größere Anstrengungen für eine Verhandlungslösung forderten.
Die Einschätzung in den als streng geheim eingestuften Papieren stamme von Anfang Februar und verweise auf "erhebliche Defizite bei der Truppenaufstockung und -erhaltung", fasste die Deutsche Presse-Agentur (dpa) zusammen. Es sei darin auch von der Wahrscheinlichkeit die Rede, dass die ukrainische Gegenoffensive nur "bescheidene Gebietsgewinne" erzielen werden könne, so die dpa.
Einige Medien- und Sicherheitsexperten bezeichnen die im Netz kursierenden Dokumente jedoch als zumindest teilweise gefälscht oder manipuliert.
Ukraine bräuchte dreimal mehr Artilleriegeschosse
Außen- und Sicherheitsexperten der EU gehen nach dem Telepolis vorliegenden Papier indes davon aus, dass die ukrainischen Streitkräfte über rund 330 Artilleriesysteme des Kalibers 155 mm verfügen. Die ukrainischen Streitkräfte müssten ihren Verbrauch an 155-mm-Munition derzeit auf etwa 110.000 Schuss pro Monat beschränken.
Schätzungen zufolge bräuchten die ukrainischen Streitkräfte mindestens 357.000 Schuss dieses Kalibers pro Monat, um ihre Kampfziele angemessen verfolgen zu können, heißt es in dem EU-Dokument.
Diese Zahlen hatte im März auch der US-Regierungssender Radio Free Europe/Radio Liberty unter Berufung auf EU-Dokumente genannt. Dazu gehören auch Schätzungen, wonach die russischen Streitkräfte in den vergangenen Monaten täglich zwischen 20.000 und 50.000 Artilleriegeschosse abgefeuert haben, während die ukrainischen Verteidiger nur mit 4.000 bis 7.000 Artilleriegeschossen zurückschlugen.
Der Europäische Auswärtige Dienst hat vor diesem Hintergrund und im Hinblick auf weitere Militärhilfe für die Ukraine eine Risiko-Nutzen-Analyse erstellt. Darin heißt es
Bei der vorgeschlagenen Unterstützungsmaßnahme bestehen Risiken und Vorteile verschiedener Art:
a) Risiken im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Unterstützung:
1) Die Bereitstellung von Ausrüstung verstärkt den Kreislauf von Gewalt und Konflikt;
2) die unterstützten Einheiten begehen Verstöße gegen die internationalen Menschenrechtsnormen/das humanitäre Völkerrecht oder stehen in Verdacht, dagegen zu verstoßen;
3) die bereitgestellte Ausrüstung gelangt in die falschen Hände;
4) die Russische Föderation reagiert auf die Bereitstellung von Ausrüstung in einer Art und Weise, die den Interessen der EU abträglich ist.
b) Potenzielle Vorteile im Zusammenhang mit der Bereitstellung von Ausrüstung:
1) Die bereitgestellte Ausrüstung entspricht den von der ukrainischen Regierung formulierten operativen Erfordernissen der ukrainischen Streitkräfte;
2) die ukrainischen Streitkräfte verfügen über die notwendige Artilleriemittel, um die russische Kampfkraft besser ausgleichen und das operative Umfeld gestalten zu können, und sind dadurch in der Lage, die Zivilbevölkerung im Hoheitsgebiet der Ukraine zu schützen,
3) durch die gemeinsame Beschaffung wird eine koordinierte, gestraffte und effiziente Zuweisung von Ressourcen der Mitgliedstaaten an den Begünstigten gewährleistet.
Mit Blick auf diese Risikoabschätzung machen die EU-Außen- und Sicherheitsexperten der ukrainischen Seite eine Reihe von Auflagen, um "die Wahrscheinlichkeit und/oder die Auswirkungen der Risiken (zu) verringern".
Waffen für die Ukraine: EU formuliert doppelte Ausstiegsklausel
So werden die ukrainischen Streitkräfte aufgefordert, Verstöße gegen internationale Menschenrechtsnormen und das humanitäre Völkerrecht durch Einheiten, die EU-Waffen erhalten, "aktiv zu überwachen, zu verfolgen und strafrechtlich zu ahnden". Auch würden keine Güter "über die notwendigen operativen Kapazitäten der ukrainischen Streitkräfte hinaus" geliefert.
Westliche Rüstungsgüter müssten "unter Anwendung geeigneter Maßnahmen zur physischen Sicherung und sicheren Lagerung" verwaltet werden. Zudem müssten sich die ukrainischen Behörden verpflichten, EU-Diplomaten Zugang für Inspektionen und Kontrollen vor Ort zu gewähren.
Schließlich bestehen die EU-Experten darauf, dass Militärgerät "ohne vorherige Genehmigung durch den Hohen Vertreter weder an ukrainische Einrichtungen außerhalb der Streitkräfte weitergegeben noch in ein Drittland wiederausgeführt" wird. In diesem Zusammenhang fordern die EU-Diplomaten Kiew auf, ein bereits unterzeichnetes Abkommen zur Unterbindung des Waffenhandels zu ratifizieren.
Bei "schwerwiegenden Anschuldigungen" oder bestätigten Verstößen gegen das Völkerrecht" behält sich die EU vor, die Lieferung von Munition und Rüstungsgütern "in Teilen oder vollständig auszusetzen und/oder zu beenden".
Diese Option hält sich Brüssel dem internen Konzeptpapier zufolge auch offen, "wenn die politische und sicherheitspolitische Lage es nicht mehr zulässt, die Unterstützungsmaßnahme unter Sicherstellung ausreichender Garantien durchzuführen, oder die Fortsetzung der Unterstützungsmaßnahme nicht mehr den Zielen der Union dient oder nicht länger in ihrem Interesse liegt".
Auf die humanitäre Dimension der Rüstungsdebatte hatte unlängst Telepolis-Autor Christoph Marischka hingewiesen. Westliche, insbesondere englischsprachige Denkfabriken und Medien sprächen angesichts der Schlacht um das ostukrainische Bachmut mittlerweile ganz offen von einem Abnutzungskrieg, so Marischka.
Unter täglich aktualisierten Karten des Frontverlaufes würde "intensiv diskutiert, wer wie lange noch den Nachschub an Munition organisieren kann und am Ende gewinnen wird".
Auch die "Verluste" auf beiden Seiten werden diskutiert, in drei- bis sechsstelligen Zahlen. Dass es dabei kaum um Menschen geht, offenbart die Verrohung der Debatte. Auch hierzulande.
"Wir werden einfach getötet", Christoph Marischka, 21. März 2023
Westliche Journalisten sollten sich, so Marischka, am Journalismus orientieren, wie ihn die Reporterin Asami Terajima für den englischsprachigen Kyiv Independent praktiziere: "Seit Wochen spricht sie mit Menschen, Soldaten, die an der Front in Bachmut im Einsatz waren und bald wieder sein werden. Sie beschreibt, wie die Soldaten das Gefühl haben, in den sicheren Tod zu gehen."
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