Exodus im Silicon Valley Osteuropas
Die Wirtschaft des Landes stagniert, der "Hi-Tech Park" war hingegen eine Wachstumsbranche. Vor allem die Ukraine und Lettland nehmen die IT-Experten auf und locken sie an
Der "Hi-Tech Park", ein lang gestreckter kastenförmiger Bau am Rande von Minsk, war bis vor kurzem der Stolz der Wirtschaft Weißrusslands. Doch nun droht dem "Silicon Valley Osteuropas" der Exodus - Startups und deren Mitarbeiter wollen weg aus dem Land.
Fraglich ist auch, ob die 1,5 Milliarden US-Dollar zusätzliche Darlehen, die Wladimir Putin seinem angeschlagenen Amtskollegen Aleksander Lukaschenko in Sochi versprach, noch etwas daran ändern. Ergebnis der Verhandlungen sind jedenfalls größere Abhängigkeiten von Russland.
Die politische Krise hatte mehrfache Auswirkungen auf die "Insel des Aufschwungs im Meer der Stagnation". Um den Informationsaustausch zu stoppen, lässt die Regierung in Belarus das Internet zeitweise ausfallen, was den 400 IT-Firmen des Technologie-Parks in die Parade fährt. Gleichzeitig protestierten auch IT-Fachkräfte, wurden dabei von Sicherheitskräften verhaftet und verletzt.
Dazu lockt das Ausland. So hat Kaspars Rozkalns vom lettischen Investitions- und Entwicklungsbüro Anfragen von 150 belarussische IT-Unternehmen vor sich liegen, zehn sollen gerade am Umziehen sein.
Bereits 300 belarussische IT-Spezialisten haben die ukrainische Grenze zwecks Jobwechsel überquert. Das Digitalisierungsministerium in Kiew wirbt aktiv mit einer Internetseite um die Talente des Nachbarlands. Etwa mit dem Hinweis, dass der ukrainische Staat gerade digitalisiert werde und der Branchen-Durchschnittsverdienst bei 2300 US-Dollar liege.
Dies ist nicht wirklich viel, doch die Ukraine und Lettland mit seiner großen russischen Minderheit haben den Vorteil, dass die IT-Fachleute aus Weißrussland dort weiterhin Russisch sprechen können. Auch hat Lettland, wie die beiden baltischen Nachbarländer, ein Startup-Visum für Nicht-EU-Staatsbürger etabliert, das auf die russischsprachigen Experten abzielt. Die Ukraine verspricht ebenso eine problemlose Prozedur bei der Arbeitsgenehmigung. Und die ausländischen Unternehmen, die zu einem Drittel in dem IT-Zentrum (Abkürzung HTP) vertreten sind, dazu gehören auch russische, ziehen einen Teil ihrer Mitarbeiter aus Sicherheitsgründen aus Minsk ab.
Eine fatale Tendenz. Denn die Wirtschaft der ehemaligen Sowjetrepublik stagniert seit zehn Jahren, zum Jahreswechsel nahm der Energiestreit mit Russland bedrohliche Formen an. Der Kreml drosselte die Öllieferung, welche für die Raffinerien Weißrusslands benötigt wurden.
Derzeit gibt es in den Fabriken Bummelstreiks oder die Beschäftigten legen die Arbeit ganz nieder.
Das Silicon Valley Osteuropas wurde zur Brücke zum Westen
Gegründet wurde der "Hi Tech Park" (HTP) im Jahre 2005 von Walerij Zepkalo. Der ausgebildete Diplomat und Ingenieur, der in der Sowjetunion mit dem seltenen Privileg eines guten Englischunterrichts gesegnet war, wirkte lange als ein Mann des Regimes. Als Berater verhalf dem eher grob gestrickten ehemaligen Sowchose-Direktor Aleksander Lukaschenko 1994 zum Amt, wurde zuerst Außenminister und lernte dann als Botschafter in den USA Silicon Valley und sein Potential kennen.
Schließlich konnte Zepkalo den Machthaber in Minsk, der einst das Internet als einen "Haufen Müll" charakterisiertem überzeugen, mit einem Niedrigsteuersatz IT-Firmen nach Minsk zu locken und Unternehmensgründungen zu fördern. Im vergangenen Jahr wurden hier über sechs Prozent des Inlandsproduktes ausgemacht, für 2020 waren zehn vorhergesagt - vor dem Beginn der politischen Krise.
Zu den bekannten Namen des Hi Tech Park gehört der Chat-Dienst Viber, hier hat die japanische Firma das Büro in Minsk bereits Ende August geschlossen. Aus weißrussischer Eigenproduktion stammen der Foto- und Videodienst MSQRD sowie das Online-Spiel "World of Tanks".
Das Silicon Valley Osteuropas wurde so auch zur Brücke zum Westen. Noch im Februar dieses Jahres kam der hemdsärmelige US-Außenminister Mike Pompeo während seines Minsk-Besuchs vorbei, zeigte sich offiziell beeindruckt und machte Hoffnung auf weitere IT-Geschäfte mit US-Firmen.
Um in Ruhe arbeiten zu können und ihre Privilegien zu wahren, hielten sich die Spezialisten von der Oppositionspolitik lange fern. Mit ihrem Durchschnittsverdienst von über 2000 US-Dollar lebten sie in einer anderen Welt als der Rest der Bevölkerung. In Belarus liegt der durchschnittliche Verdienst bei 500 US-Dollar.
Ein Wandel zum Politischen kam mit der Kandidatur von Walerij Zepkalo, der 2017 als Leiter des HTP von Lukaschenko abgesetzt worden war. Er hatte viele IT-Spezialisten in seinem Team, welche "Golos" (Stimme) und "Zur" (Wisent) kreierten, bei der Wähler ihre ausgefüllten Wahlzettel fotografieren konnten und dieses Daten gesammelt wurden. Der 55-Jährige ist mittlerweile wie viele weitere Oppositionelle nach Polen geflüchtet.
Ende August unterschrieben 2500 der Fachkräfte einen offenen Brief, in dem sie Neuwahlen fordern und vor dem Exodus der Branche warnen.
Nikita Mikado, Chef des belarussischen Unternehmens "Paddock", erklärte Anfang September in einem Appell: "Die Autoritäten sollen wissen, dass wir bei Repressionen in der IT-Branche, kämpfen werden." Vier Leiter seines Unternehmens wurden bereits inhaftiert, wie andere IT-Mitarbeiter auch. Der Unternehmer fordert nun die Solidarität der Branche. Er selbst sitzt jedoch seit 2014 in Sicherheit - im "echten" Silicon Valley bei San Francisco.