Experten: Russland dominiert Abnutzungskrieg aufgrund überlegener Rüstungsproduktion
Seite 2: Russland produziert zehnmal mehr Kampffahrzeuge als der Westen
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Daraus schließt Gressel in einem bemerkenswerten Satz, dass es aufgrund dieser relativen Produktionskapazitäten denkbar sei, dass Russland einen Abnutzungskrieg gewinnen könne.
Russlands Reserven gehen zur Neige, aber die europäischen Bestände gehen schneller zur Neige, und Russlands Kriegsproduktion ist zwar nicht in der Lage, die russischen Verluste vollständig zu ersetzen, produziert aber etwa zehnmal mehr Kampffahrzeuge als der Westen.
Wäre dies der Fall, so würde man von einem dramatischen Ungleichgewicht in den Rüstungskapazitäten der beiden Blöcke sprechen. Die Produktionskapazitäten der Verbündeten beider Seiten werden hier allerdings nicht berücksichtigt. Da hier China zu den Verbündeten Russlands gezählt werden muss, fällt der Vergleich der Rüstungskapazitäten beider Blöcke noch deutlicher zuungunsten des Nato-Blocks aus.
Gressel beschreibt in seinem Papier mehrfach den Charakter eines Abnutzungskrieges. So müssten russische Offensiven nicht unbedingt weitere ukrainische Gebiete erobern, sondern Verluste an Menschen und Material verursachen. Verluste, die der kollektive Westen nur schwer kompensieren könne.
Der US-Thinktank Defence Priorities merkt dazu treffend an, dass viele der modernen Waffen, die in die Ukraine geschickt wurden, zudem hinter den Erwartungen zurückgeblieben seien und nicht den Charakter eines Game-Changers gehabt hätten, wie es viele erwartet hätten. Mehr Waffen in die Ukraine zu schicken, würde nichts an der Tatsache ändern, dass es in der modernen Kriegsführung keine Wunderwaffen gibt.
Die strategische Luftkampagne
Im Zusammenhang mit einem Abnutzungskrieg geht das Gressel-Papier auch auf die strategischen Luftkampagnen Russlands ein.
Trotz der Sanktionen produziert Russland jeden Monat bis zu 100 Marschflugkörper und ballistische Raketen, mit denen es strategische Luftangriffe auf die ukrainische Infrastruktur und Industrie durchführt.
Seit April 2022 bombardierte Russland den ukrainischen rüstungsindustriellen Komplex. Ab Oktober 2022 und während des gesamten Winters verlagerten sich die russischen Angriffe auf das ukrainische Energieversorgungsnetz. Im Sommer 2023 wurden Getreidelager und Häfen zu Hauptzielen.
Strom- und Agrarexporte waren die beiden Säulen der ukrainischen Kriegswirtschaft, die Deviseneinnahmen und Arbeitsplätze generierten. In jüngster Zeit konzentrieren sich die russischen strategischen Bombenangriffe auf westukrainische Städte, in denen sich offenbar die neuen Fabriken der wiederauferstandenen ukrainischen Rüstungsindustrie befinden.
Strategische Luftangriffe: Russlands Taktik
Seit Redaktionsschluss hat sich der Fokus der strategischen Luftkampagne der russischen Streitkräfte erneut verändert. Nunmehr sind es vor allem Energieerzeuger, die mehrmals im Monat Ziel russischer Raketen, Marschflugkörper und Drohnen werden.
Einen Überblick über die aktuelle Situation des ukrainischen Energiesektors gibt die Kyiv Post. Weniger als ein Drittel der Vorkriegskapazität sei noch vorhanden. Der Verbrauch sei derzeit um 40 bis 45 Prozent niedriger als im Winter, und selbst jetzt könne der Bedarf nicht gedeckt werden.
Mit der strategischen Luftkampagne Russlands gegen die ukrainische Energieversorgung richtet die russische Führung einen nachhaltigen Schaden an, dessen Auswirkungen erst im Winter voll zum Tragen kommen werden.
Dieser aus russischer Sicht militärische Großerfolg war weniger einem Mangel an Flugabwehrraketen geschuldet, wie das etwa der oben zitierte Artikel der Kyiv Post schreibt. Der US-Thinktank Defence Priorities führt aus:
Auch die Luftabwehr ist weniger wirksam geworden. Im April fing die Ukraine gerade einmal 30 Prozent der russischen Raketenangriffe ab. Die ukrainischen Abfangquoten gehen jedoch seit über einem Jahr stetig zurück, was darauf hindeutet, dass Änderungen der russischen Taktiken, Techniken und Verfahren (TTP) wie neue Gegenmaßnahmen oder der verstärkte Einsatz widerstandsfähigerer Flugkörper und Hyperschallraketen höchstwahrscheinlich dafür verantwortlich sind und nicht ein Mangel an Luftabwehrmunition.
Gleitbomben: Game-Changer an der Front?
Ferner hat Russland mit den Bomben der FAB-Serie, die mit einem Gleitrüstsatz zu billigen Präzisionswaffen umgebaut werden, einen Weg gefunden, den ukrainischen Verteidigungsgürtel regelrecht zu sprengen.
Über 800 dieser Bomben sollen inzwischen pro Woche auf die ukrainischen Verteidiger niedergehen, das sind über 100 pro Tag. So der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seinen jüngsten Äußerungen, hier aus dem britischen Independent.
Der österreichische Oberst und Beobachter Markus Reisner sieht im Einsatz von Gleitbomben eines der Hauptprobleme der ukrainischen Verteidiger und kommentiert gegenüber Telepolis:
Vergessen Sie nicht, Russland setzt 800 FAB-Gleitbomben pro Woche ein, das sind mehr als 100 Stück jeden Tag. Tag für Tag und Woche für Woche und Monat für Monat. Währenddessen diskutieren wir über russische Panzerproduktionszahlen. Wir lieben es zu hören, was uns gefällt!
Überlegen Sie mal: Die russischen Streitkräfte verlieren dutzende Panzer und Infanterie, um einen ukrainischen Stützpunkt zu erobern. Eine FAB mit jetzt 3.000 kg Sprengstoff erledigt dies im Bruchteil einer Sekunde. Wir sehen hier eine signifikante Weiterentwicklung der russischen Taktik und Operationsführung.
So ist aufseiten der russischen Kriegsführung in den vergangenen Monaten ein kontinuierlicher und signifikanter Anstieg von Gleitbombeneinsätzen gegen ukrainische Verteidigungssysteme zu verzeichnen.
Diese Einsätze sind sehr effektiv und vermeiden für die Angreifer verlustreiche Sturmangriffe. Gleichzeitig reduzieren sie den Einsatz der durch Minen, FPV-Drohnen oder Artillerie gefährdeten Panzerwaffe. Das bedeutet auch, dass die russische Militärführung den Gesamtbedarf an Panzern deutlich reduzieren kann.
Sturmangriffe mit ganzen Truppenwellen, wie sie die New York Times in einem erst wenige Tage alten Artikel behauptet, haben seit Kriegsbeginn nicht stattgefunden und lassen sich auch durch kein Video belegen – ein Beweis, den die ukrainische Propaganda sicher gerne liefern würde. Stattdessen dürfte der massive Einsatz von Gleitbomben die russischen Verluste an der Front weiter reduzieren.
Ausblick: Frieden oder weitere Eskalation?
Eine ähnliche Entwicklung sieht auch Brandon J. Weichert in einem Artikel für National Interest:
Der Ukraine-Krieg ist in eine neue Phase eingetreten, in der die Russen beginnen werden, die angespannte ukrainische Luftverteidigung zu überwältigen, und die Einführung der FAB-3000 M54 ist ein Schlüsselelement der weiterentwickelten Strategie Russlands.
Er schließt seine in der vergangenen Woche veröffentlichte Analyse mit den Worten:
Die Tragödie, die dem ukrainischen Volk zugefügt wurde, wird sich fortsetzen, es sei denn, die Führung entscheidet sich für Frieden statt für mehr Krieg. Die Russen haben bewiesen, dass sie scheinbar unbegrenzt in der Lage sind, die ukrainische Bevölkerung zu verwüsten.
Hinzu kommt, dass die Russen auf strategischer Ebene nach zwei grausamen Kriegsjahren immer noch den größten Teil des Territoriums halten, das sie zu Beginn des Krieges besaßen, während die Ukrainer immer schwächer werden.
Für die Ukraine wird es von nun an nicht besser werden, es sei denn, sie entschließt sich, einen Waffenstillstand auszuhandeln.